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OLG Saarbrücken Urteil vom 21.03.2013 - 4 U 108/12 - Sonderrechte eines ausschwenkenden Entsorgungsfahrzeugs
OLG Saarbrücken v. 21.03.2013: Zu den Sonderrechten eines ausschwenkenden Entsorgungsfahrzeugs
Das OLG Saarbrücken (Urteil vom 21.03.2013 - 4 U 108/12) hat entschieden:
Im Anwendungsbereich des § 35 Abs. 6 StVO ist ein Entsorgungsfahrzeug auf der gesamten Fahrstrecke privilegiert, die das Fahrzeug bei der bestimmungsgemäßen Erledigung seines Auftrages zurückgelegt. Die Privilegierung greift nicht erst dann ein, wenn die Einhaltung der in der StVO für alle Fahrzeuge geltenden Vorschriften eine Entsorgung unmöglich machen würde.
Siehe auch Ausschwenken von größeren Fahrzeugen beim Ab- bzw. Einbiegen und Sonderrechte - Wegerechtsfahrzeuge
Gründe:
I.
Im vorliegenden Rechtsstreit nimmt der Kläger die Beklagten auf Zahlung von Schadensersatz wegen eines Verkehrsunfalls in Anspruch, der sich am 16.8.2010 in Neunkirchen/Nahe ereignete.
Am besagten Tag näherte sich die Ehefrau des Klägers, die Zeugin M., gegen 13:15 Uhr mit dem PKW des Klägers, einem VW-Golf mit dem amtlichen Kennzeichen, aus der Lothringer Straße, einer Sackgasse, ihrer Wohnstraße, der Einmündung zur Straße „Im Pfarrwittum“. In dieser Straße fuhr das vom Beklagten zu 1) gesteuerte, bei der Beklagten zu 2) haftpflichtversicherte Entsorgungsfahrzeug der Firma, amtliches Kennzeichen, welches nach DIN 30710 als Entsorgungsfahrzeug gekennzeichnet war. Der Beklagte zu 1) näherte sich der Einmündung zur Lothringer Straße aus der Fahrtrichtung der Zeugin gesehen von rechts. Im Einmündungsbereich kam es sodann zur Kollision der beiden Fahrzeuge, wobei das Fahrzeug des Klägers mit seiner Front gegen die linke vordere Ecke des Entsorgungsfahrzeugs stieß.
Durch den Unfall entstand am Fahrzeug des Klägers ein wirtschaftlicher Totalschaden; der Wiederbeschaffungsaufwand beläuft sich auf 4.210 EUR. Außerdem wandte der Kläger für ein Sachverständigengutachten zur Ermittlung der Schadenshöhe 818,45 EUR auf. Der Kläger hat diese Beträge zuzüglich einer Kostenpauschale von 25 EUR durch seine Prozessbevollmächtigten außergerichtlich gegenüber der Beklagten zu 2) geltend gemacht. Die Summe der vorgenannten Beträge bildet den Gegenstand der Klageforderung.
Der Kläger hat behauptet, die Zeugin habe an der Einmündung angehalten, zuerst nach links, dann nach rechts und nochmal nach links geschaut und habe dann losfahren wollen, um nach rechts in die Straße Im Pfarrwittum einzubiegen. In diesem Moment habe der Beklagte zu 1) das Entsorgungsfahrzeug nach links in den Einmündungsbereich der Lothringer Straße gelenkt, so dass es zum Zusammenstoß mit den klägerischen Fahrzeug gekommen sei. Der Kollisionsort habe in der Lothringer Straße jenseits der gedachten Begrenzungslinie zur Straße Im Pfarrwittum gelegen.
Er hat die Auffassung vertreten, der Schwenk des Entsorgungsfahrzeugs nach links in den Einmündungsbereich der Lothringer Straße sei Teil eines anschließend beabsichtigten Rückwärtsfahrmanövers des Beklagten zu 1) gewesen. Der Beklagte zu 1) habe daher die sich aus § 9 StVO ergebenden Sorgfaltspflichten beachten müssen. Außerdem habe das Fahrmanöver einem Wendevorgang gedient, so dass auch insoweit höchste Sorgfaltsanforderungen bestanden hätten. Der Beklagte zu 1) habe ohne Not die linke Seite der Straße Im Pfarrwittum befahren. Er sei daher verpflichtet gewesen, nur vorsichtig an den Einmündungsbereich heranzufahren und sich nötigenfalls eines Einweisers zu bedienen.
Der Kläger hat beantragt,
die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an den Kläger 5.053,45 EUR nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 20.10.2010 sowie vorgerichtliche Anwaltsgebühren in Höhe von 546,69 EUR ebenfalls nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen.
Die Beklagten haben beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie haben behauptet, das Entsorgungsfahrzeug habe sich dem Einmündungsbereich in Schrittgeschwindigkeit genähert. Als es mit seiner Front den Einmündungsbereich bereits erreicht habe, sei die Zeugin plötzlich ohne anzuhalten und ohne vorher nach rechts gesehen zu haben, in den Kreuzungsbereich eingefahren und mit dem Beklagtenfahrzeug kollidiert.
Die Beklagten haben die Auffassung vertreten, die Zeugin habe sich dem für sie schwer einsehbaren Einmündungsbereich, an dem sie - dies steht nicht im Streit - von rechts kommenden Fahrzeuge die Vorfahrt zu gewähren hatte, nur mit einer geringen Annäherungsgeschwindigkeit von höchstens 15 km/h nähern dürfen. Der Beklagte zu 1) habe in Ausübung der gem. § 35 Abs. 6 StVO normierten Befugnis auch auf der linken Straßenseite fahren dürfen.
Das Landgericht hat die Klage abgewiesen und hierbei die Auffassung vertreten, dass in der Haftungsabwägung nach § 17 StVG der Zeugin eine grobe Verletzung des Vorfahrtsrechts vorzuwerfen sei, wohingegen ein Verschulden der Beklagtenseite nicht nachgewiesen worden sei. Angesichts der groben Vorfahrtsverletzung komme auch eine Mithaftung aus der Betriebsgefahr des Beklagtenfahrzeugs nicht in Betracht. Auf den Inhalt der angefochtenen Entscheidung wird auch hinsichtlich der darin enthaltenen Feststellungen gemäß § 540 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 ZPO Bezug genommen.
Mit seiner hiergegen gerichteten Berufung verfolgt der Kläger sein erstinstanzliches Klagebegehren in vollem Umfang weiter.
Er vertritt die Auffassung, das Landgericht sei rechtsfehlerhaft davon ausgegangen, dass der Beklagte zu 1) die linke Fahrbahnhälfte unter Inanspruchnahme der Sonderrechte des § 35 Abs. 6 StVO habe befahren dürfen. Denn diese Vorschrift erlaube die Inanspruchnahme von Sonderrechten nur dann, „soweit ihr Einsatz dies erfordert“. Diese Voraussetzungen seien nicht gegeben, da der Beklagte zu 1) die linke Seite der Fahrbahn nicht befahren habe, um dort Müll aufzusammeln. Vielmehr habe der Beklagte zu 1) mit seinem Fahrmanöver eine Rückwärtsfahrt in die Lothringer Straße vorbereiten wollen. Da der Einmündungsbereich großzügig trichterförmig angelegt sei, sei es auch nicht erforderlich gewesen, vor dem Rückwärtsfahren die linke Fahrbahnhälfte zu benutzen. Der Beklagte zu 1) hätte stattdessen auf der rechten Fahrbahnhälfte den Einmündungsbereich passieren können und die Rückwärtsfahrt linksseitig in die Lothringer Straße einleiten können. Wenn er bei diesem Fahrmanöver zu nah an den rechten Fahrbahnrand gekommen wäre, hätte er sein Fahrzeug wieder etwas weiter vorziehen können, um dann in der Mitte der Fahrbahn der Straße Im Pfarrwittum zu halten - allerdings hinter der Einmündung zur Lothringer Straße. Dabei hätte er sich des hinten auf dem Fahrzeug mitfahrenden Kollegen als Einweiser bedienen können.
Soweit die Kollisionsgeschwindigkeit des Entsorgungsfahrzeugs 8-10 km/h betragen habe, sei zu berücksichtigen, dass das Fahrzeug vor der Kollision abgebremst worden sei. Die Ausgangsgeschwindigkeit sei wesentlich höher gewesen.
Schließlich sei von Bedeutung, dass sich die Kollision nicht auf der Fahrbahn der Straße Im Pfarrwittum, sondern auf der Lothringer Straße ereignet habe. Der Unfall wäre vermieden worden, wenn das Entsorgungsfahrzeug die rechte Fahrbahnhälfte nicht verlassen hätte.
Der Kläger beantragt,
unter Aufhebung des Urteils des Landgerichts Saarbrücken vom 17.2.2012 - 12 O 364/10 - den Kläger nach Maßgabe der zuletzt gestellten erstinstanzlichen Anträge zu verurteilen.
Die Beklagten beantragen,
die Berufung des Klägers zurückzuweisen.
Die Beklagten verteidigen die angefochtene Entscheidung und vertreten die Auffassung, dass die Vorschrift des § 35 Abs. 6 S. 1 StVO nicht dazu diene, den Müll leichter entsorgen zu können, indem dem Fahrzeug gestattet werde, direkt neben den Tonnen zu halten. Vielmehr decke die Vorschrift auch den Weg dorthin. Wenn es aus Sicht des Fahrers eines Müllfahrzeugs sinnvoller sei, einen Schlenker zu machen, um dann rückwärts in eine Seitenstraße einzufahren, weil er auf diesem Wege einfacher an die einzelnen Anwesen und die dort abgestellten Tonnen komme, sei dies vom Regelungsgehalt der Vorschrift gedeckt. Auch treffe es nicht zu, dass die Ausgangsgeschwindigkeit des Müllfahrzeugs wesentlich höher als die vom Sachverständigen ermittelte Kollisionsgeschwindigkeit gewesen sei.
Dass sich die Kollision etwa 20-30 cm jenseits der gedachten Begrenzungslinie zwischen der Straße Im Pfarrwittum und der Lothringer Straße ereignet habe, sei für den Unfall nicht kausal geworden. Denn angesichts der Kollisionsgeschwindigkeit des Pkws des Klägers und angesichts des Umstandes, dass die Zeugin B. das vor ihr befindliche Entsorgungsfahrzeug schlicht übersehen habe, wäre es ebenso zur Kollision gekommen, wenn das Entsorgungsfahrzeug sich 20-30 cm weiter rechts befunden hätte.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Berufungsbegründung vom 14.3.2012 (Bl. 116 ff. d. A.), der Berufungserwiderung vom 17.4.2012 (Bl. 123 ff. d. A.), den Schriftsatz der Klägervertreter vom 4.5.2012 (Bl. 126 ff. d. A.) sowie den Schriftsatz der Beklagtenvertreter vom 18.5.2012 (Bl. 128 ff. d. A.) verwiesen. Hinsichtlich des Ergebnisses der mündlichen Verhandlung wird auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 7.3.2013 (Bl. 134 ff. d. A.) Bezug genommen.
II.
A.
Die zulässige Berufung des Klägers bleibt in der Sache ohne Erfolg, da die angefochtene Entscheidung weder auf einem Rechtsfehler beruht, noch die gem. § 529 ZPO zugrunde zu legenden Tatsachen ein für den Kläger günstigeres Ergebnis rechtfertigen (§ 513 ZPO).
1. Die Verwirklichung des straßenverkehrsrechtlichen Haftungstatbestandes (§ 7 Abs. 1 StVG) steht zwischen den Parteien außer Streit. Vielmehr richtet sich die Berufung ausschließlich gegen die Haftungsabwägung des Landgerichts, wonach der Kläger die alleinige Haftung trage, da die Zeugin B. den Unfall alleine verschuldet habe.
a) Hierbei ist das Landgericht von zutreffenden Rechtsgrundsätzen ausgegangen:
Gemäß § 17 Abs. 1 StVG hängt im Verhältnis der beteiligten Fahrzeughalter zueinander die Verpflichtung zum Ersatz sowie der Umfang des zu leistenden Ersatzes von den Umständen, insbesondere davon ab, inwieweit der Schaden vorwiegend von dem einen oder dem anderen Teil verursacht worden ist. Nach anerkannten Rechtsgrundsätzen (BGH, Urt. v. 21.11.2006 - VI ZR 115/05, NJW 2007, 506; Urt. v. 27.6.2000 - VI ZR 126/99, NJW 2000, 3069; Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 41. Aufl., § 17 StVG Rdnr. 5) sind bei der Abwägung der beiderseitigen Verursacherbeiträge nur solche Umstände einzubeziehen, die erwiesenermaßen ursächlich für den Schaden geworden sind. Die für die Abwägung maßgebenden Umstände müssen nach Grund und Gewicht feststehen, d. h. unstreitig, zugestanden oder nach § 286 ZPO bewiesen sein. Nur vermutete Tatbeiträge oder die bloße Möglichkeit einer Schadensverursachung aufgrund geschaffener Gefährdungslage haben deswegen außer Betracht zu bleiben. Hierbei ist es im Regelfall ohne Belang, ob die Halter die unfallbeteiligten Fahrzeuge selbst gefahren haben, da die Verantwortungsbeiträge von Halter und Fahrer zu einer einheitlichen Haftungs- bzw. Zurechnungseinheit verschmelzen (Burmann/Heß/Jahnke/Janker, Straßenverkehrsrecht, 21. Aufl., § 17 StVG Rdnr. 5).
b) Auch soweit das Landgericht in Ausfüllung dieser Rechtsgrundsätze der Zeugin einen groben Verstoß gegen § 8 Abs. 1 StVO vorgeworfen hat, lässt die angefochtene Entscheidung keinen Rechtsfehler erkennen:
aa) An ungeregelten Kreuzungen und Einmündungen hat die Vorfahrt, wer von rechts kommt (§ 8 Abs. 1 StVO). Das Vorfahrtsrecht gilt grundsätzlich über die gesamte Fahrbahn und entfällt auch dann nicht, wenn der Vorfahrtsberechtigte die Fahrbahn entgegen § 2 Abs. 2 StVO nicht möglichst weit rechts, sondern linksseitig befährt. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass die Straße Im Pfarrwittum nicht über zwei Fahrbahnen oder Fahrspuren verfügt, weshalb das Rechtsfahrgebot nicht aus § 2 Abs. 1 StVO abzuleiten ist.
Unter Beachtung der Anforderungen des § 8 Abs. 2 StVO ist der Wartepflichtige gehalten, durch sein Fahrverhalten, insbesondere durch die mäßige Geschwindigkeit erkennen zu lassen, dass er dem bevorrechtigten Verkehr die Vorfahrt gewährt. Er darf nur weiterfahren, wenn er übersehen kann, dass er den bevorrechtigten Verkehr weder gefährdet noch wesentlich behindert (§ 8 Abs. 2 S. 2 StVO).
bb) Diese Sorgfaltsanforderungen beachtete die Zeugin nach den Feststellungen des Landgerichts nicht. Das Landgericht ist nach sorgfältiger Beweisaufnahme zu dem Ergebnis gelangt, dass die Version der Zeugin, sie habe an der Einmündung nach rechts, links und wieder nach rechts geblickt, als das Müllfahrzeug plötzlich vor ihr gestanden habe, nicht glaubhaft ist, sondern sie sich dazu verleiten ließ, in einem Zug durchfahrend nach rechts abzubiegen, ohne sich zuvor zu vergewissern, ob sie den bevorrechtigten Verkehr gefährdet. Diese Tatsachenfeststellung überzeugt, da ansonsten nicht einsichtig ist, wieso die Zeugin an der angegebenen Stelle mit immerhin 20-25 km/h mit dem Lkw zusammenstieß, der allein wegen seiner Höhe bei Beachtung der gebotenen Sorgfalt nicht zu übersehen war. Letztlich greift die Berufung die Tatsachenfeststellung des Landgerichts zum nachgewiesenen Vorfahrtsverstoß der Zeugin nicht an, weshalb kein Anlass besteht, die in § 529 ZPO angeordnete Bindungswirkung zu hinterfragen.
c) Demgegenüber war dem Beklagten zu 1) kein Verstoß gegen das Rechtsfahrgebot (§ 2 Abs. 2 StVO) anzulasten, da der Beklagte zu 1) gem. § 35 Abs. 6 StVO in der vorliegend zu beurteilenden Fahrsituation vom Rechtsfahrgebot abweichen durfte.
aa) Nach dieser Vorschrift dürfen Fahrzeuge, die der Müllabfuhr dienen und entsprechend gekennzeichnet sind, auf allen Straßen und Straßenteilen und auf jeder Straßenseite in jeder Richtung zu allen Zeiten fahren und halten, soweit ihr Einsatz dies erfordert. Diese Vorschrift suspendiert vom Rechtsfahrgebot, nicht jedoch vom allgemeinen Rücksichtnahmegebot. Dies bedeutet, dass der Fahrer des privilegierten Fahrzeuges auch in Ausübung dieser Sonderbefugnisse seine Fahrweise darauf auszurichten hat, dass kein Anderer geschädigt, gefährdet oder mehr als nur unwesentlich behindert oder belästigt wird (§ 1 Abs. 2 StVO). Nach Auffassung des Landgerichts durfte sich der Beklagte zu 1) auf die Privilegierung berufen. Dies hält den Angriffen der Berufung stand.
bb) Auch solche Entsorgungsfahrzeuge, die die gelben Wertstoffsäcke entsorgen, gehören zu den gemäß § 35 Abs. 6 StVO privilegierten Fahrzeugen, wenn sie - was im vorliegenden Fall außer Streit steht - entsprechend gekennzeichnet sind.
cc) Das Kriterium „soweit ihr Einsatz dies erfordert" enthält zunächst eine räumlich-zeitliche Beschränkung: Die Privilegierung greift nur dann, wenn die Fahrt in einem räumlich-zeitlichen Zusammenhang zur Entsorgung steht. Dieser Zusammenhang ist im vorliegenden Fall nachgewiesen, da das Müllfahrzeug zum Unfallzeitpunkt im Einsatz war und das beabsichtigte Wendemanöver dem Zweck diente, die Wertstoffsäcke in der Wohnstraße des Klägers einzusammeln. Soweit die Berufung nur solche Fahrten erfassen will, die der unmittelbaren Aufnahme des Mülls dienen (worunter die Berufung wohl ein Fahrmanöver versteht, das unerlässlich ist, um die Müllgefäße zu erreichen; zu denken ist auch an ein Anhalten, um den Müll aufzuladen), wird der Regelungsgehalt der Vorschrift unzulässig verengt: Vielmehr will die Vorschrift im Interesse einer effektiven Entsorgung erkennbar die gesamte Fahrstrecke privilegieren, die ein Entsorgungsfahrzeug bei der bestimmungsgemäßen Erledigung seines Auftrags zurücklegen muss.
dd) Schließlich enthält das Kriterium „soweit ihr Einsatz dies erfordert“ eine inhaltliche Beschränkung. Auch dies hat das Landgericht erkannt, indem es die Erforderlichkeit der Fahrweise nicht erst dann bejahen will, wenn im Sinne einer Unmöglichkeit bei Einhaltung der in der StVO für alle Fahrzeuge geltenden Vorschriften eine Entsorgung nicht mehr möglich wäre. Nach Auffassung des Landgerichts sei die Regelung so zu verstehen, dass der Fahrer die Sonderrechte bereits dann in Anspruch nehmen dürfe, wenn es zur Erleichterung der Aufgabe unter Berücksichtigung der jeweiligen Straßen- und Verkehrsverhältnisse zweckmäßig und angemessen erscheine. Diese Rechtsauffassung überzeugt. Sie wird jedoch von der eingangs dargestellten Einschränkung flankiert, wonach die Ausübung der Sonderrechte nicht gegen § 1 Abs. 2 StVO verstoßen darf: Selbst bei einer erleichterten Fahrweise darf der Fahrer von den Befugnissen des § 35 Abs. 6 StVO keinen Gebrauch machen, wenn eine Behinderung oder Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer droht.
aaa) Diesen Kriterien wurde die vom Beklagten zu 1) gewählte Fahrweise gerecht. Das Landgericht hat sich insbesondere in einer eingehenden Würdigung der Tatsachengrundlage der Frage gewidmet, welche Alternativen dem Beklagten zu 1) offenstanden, um die Wertstoffsäcke in der Lothringer Straße aufzusammeln. Insbesondere hat das Landgericht die von der Berufung in den Mittelpunkt ihrer Angriffe gestellte Alternative untersucht, ob es weniger gefährlich gewesen wäre, wenn der Beklagte zu 1) die Einmündung der Lothringer Straße - rechtsseitig in der Straße Im Pfarrwittum weiterfahrend - passiert hätte und die Rückwärtsfahrt von links in die Lothringer Straße ausgeführt hätte (cccc; Seite 9 des Urteils). Nach Auffassung des Landgerichts hätte der Beklagte zu 1) bei dieser Fahrweise den Fahrzeugen der Lothringer Straße den Vorrang einräumen müssen, wesentliche Vorgänge nicht selbst beobachten können und überdies auf einen oder zwei Einweiser zurückgreifen müssen. In der Zusammenschau hat das Landgericht die Überzeugung gewonnen, dass die vom Beklagten zu 1) gewählte Fahrweise in der gegebenen Situation das geringste Gefahrenpotenzial aufgewiesen habe, weil der Beklagte zu 1) aus den näher dargelegten Erwägungen während des gesamten Fahrmanövers Einblick in alle Straßenteile gehabt habe.
bbb) Diese Sichtweise überzeugt. Auch die Berufung setzt dem mit Ausnahme des Arguments, dass das konkrete Unfallereignis bei Einhaltung der unter Gliederungspunkt cccc der landgerichtlichen Entscheidung dargestellten Fahrweise vermieden worden wäre, nichts entgegen. Dieser Angriff verfehlt sein Ziel: Maßgeblich ist allein, ob der Beklagte zu 1) eine Fahrweise wählte, die in der konkreten Fahrsituation ex ante das geringste Gefahrenpotential beinhaltete. Dies hat der Beklagte zu 1) getan. Dem ist hinzuzufügen, dass auch das Rücksichtnahmegebot keine abweichende Beurteilung erfordert:
aaaa) Auch das allgemeine Rücksichtnahmegebot aktualisiert sich erst dann, wenn der Kraftfahrer mit einer konkreten Gefährdung rechnen muss. Demgegenüber braucht der Kraftfahrer jedenfalls bis zum Auftreten gegenteiliger Anhaltspunkte mit einem verkehrswidrigen Verhalten anderer Verkehrsteilnehmer nicht zu rechnen. Insbesondere muss der Kraftfahrer im Regelfall nicht mit verkehrswidrigem Verhalten solcher Verkehrsteilnehmer rechnen, die er noch nicht sieht (Hentschel/König/Dauer, aaO, § 1 StVO Rdnr. 20 f.).
bbbb) Im vorliegenden Sachverhalt spricht alles dafür, dass der Beklagte zu 1) bei Einleitung der Linksfahrt die Zeugin nicht sah. Aufgrund der örtlichen Gegebenheiten - die Lothringer Straße ist eine Sackgasse mit nur wenigen Häusern; das Müllfahrzeug war allein wegen seiner Größe, die die Hecke überragte, deutlich zu sehen - durfte der Beklagte zu 1) durchaus darauf vertrauen, dass ein situationsadäquat aufmerksamer Verkehrsteilnehmer in der Situation der Zeugin den aus der linksseitigen Fahrweise für Rechtsabbieger aus der Lothringer Straße resultierenden Gefahren schadensvermeidend begegnen würde.
ee) Entgegen der Auffassung der Berufung ist eine abweichende Beurteilung nicht deshalb gerechtfertigt, weil sich die Kollision 20-30 cm jenseits der gedachten Begrenzungslinie (der verlängerten Linksbegrenzung der Straße Im Pfarrwittum auf dem Straßenkörper der Lothringer Straße) ereignete (Bl. 75 d. A.). Denn selbst wenn man in dieser Abweichung eine Fahrweise erblicken würde, die von der Privilegierung des § 35 Abs. 6 StVO nicht mehr gedeckt wäre, so bliebe dieser eventuelle Sorgfaltsverstoß bei der Haftungsabwägung außer Betracht, da er für den Unfall nach den bindenden Feststellungen des Landgerichts nicht ursächlich wurde. Das Landgericht hat überzeugend ausgeführt, dass sich der Unfall in gleicher Weise ereignet hätte, wenn das Beklagtenfahrzeug 30 cm weiter rechts und vollständig auf dem Straßenkörper der Straße Im Pfarrwittum gefahren wäre (Urteil S. 10).
Dem setzt die Berufung keine durchgreifenden Bedenken entgegen: Die Berufung verkennt, dass der Unfall zwar vermieden worden wäre, wenn der Beklagte zu 1) vollständig auf der rechten Straßenseite gefahren wäre. Dass der Beklagte zu 1) demgegenüber nicht rechtsseitig, sondern linksseitig fuhr, kann ihm aus den soeben dargelegten Gründen nicht vorgeworfen werden. Es bestehen keine vernünftigen Zweifel daran, dass es auch dann zu einem Unfall gekommen wäre, wenn der Beklagte zu 1) seine linksseitige Fahrt exakt an der Begrenzungslinie der beiden Straßen abgebrochen hätte.
4. Schließlich hält die angefochtene Entscheidung einer Rechtskontrolle stand, soweit das Landgericht die Betriebsgefahr des LKW in der Haftungsabwägung vollständig hinter das grobe Verschulden der Zeugin B. zurücktreten ließ.
a) Zwar war die Betriebsgefahr des LKW in der Unfallsituation erhöht:
aa) Die Betriebsgefahr eines KFZ wird durch die Gesamtheit aller Umstände definiert, die geeignet sind, Gefahr in den Verkehr zu tragen. Aufgrund der physikalischen Natur des Fahrvorgangs hängt das Gefahrenpotential u.a. von der Fahrzeuggröße, der Fahrzeugart und dem Gewicht des Fahrzeugs ab. Jedoch ist die Höhe der Betriebsgefahr nicht abstrakt zu berechnen. Vielmehr ist die Betriebsgefahr als Faktor bei der Abwägung der Verursacherbeiträge bezogen auf den konkreten Schadensfall zu beurteilen, da sich die Betriebsgefahr erst im Unfallgeschehen manifestiert. Die Höhe der Betriebsgefahr kann nicht losgelöst von der konkreten Unfallsituation, vor allem nicht ohne Blick auf das Fahrverhalten des Unfallgegners bestimmt werden (Senat, MDR 2005, 1287; Hentschel/König/Dauer, aaO. § 17 StVG Rdnr. 6).
bb) Demnach kann es bei der Beurteilung der Betriebsgefahr nicht unberücksichtigt bleiben, dass die Betriebsgefahr des größeren und weitaus schwereren Lkw die Betriebsgefahr des klägerischen PKWs überstieg. Hinzukommt, dass die Fahrweise des Beklagten zu 1) - selbst wenn sie aufgrund ihrer Privilegierung nicht verkehrswidrig war - so dennoch aus objektiver Sicht das Risiko eines Unfalls erhöhte.
cc) Gleichwohl trat auch die erhöhte Betriebsgefahr des Berechtigten in der Haftungsabwägung gegenüber dem groben Verschulden des Wartepflichtigen vollständig zurück: Es ist in der Kasuistik (etwa OLG Hamm, MDR 1999, 1194; KG VersR 1972, 466; vgl. BGH, Urt. v. 23.05.1967 - VI ZR 210/65, VersR 1967, 802; ebenso: Hentschel/König/Dauer, aaO, § 8 StVO Rdnr. 69; Burmann/Heß/Jahnke/Janker, aaO, § 8 StVO Rdnr. 71; strenger: Zieres in: Geigel, Der Haftpflichtprozess, 26. Aufl., Kap. 27 Rdnr. 257) anerkannt, dass mitunter selbst ein geringes Mitverschulden des Berechtigten (zu denken ist hierbei insbesondere an geringfügige Geschwindigkeitsverstöße) nicht stets seine Mithaftung rechtfertigt. Dem liegt die Erwägung zugrunde, dass § 8 Abs. 2 StVO eine elementare Sorgfaltsanforderung im Straßenverkehr normiert. Ein Verstoß gegen die grundlegenden, die Sicherheit des Verkehrs gewährleistenden Pflichten (Zieres in: Geigel, Der Haftpflichtprozess, 26. Aufl., Kap. 27 Rdnr. 257) wiegt daher besonders schwer. Diese Wertung muss erst recht Anwendung finden, wenn dem Vorfahrtsberechtigten kein eigenes Verschulden, sondern lediglich die - obzwar erhöhte - Betriebsgefahr anzulasten ist.
B.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 708 Nr. 10, § 713 ZPO. Die Revision war nicht zuzulassen, weil die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung besitzt und weder die Fortbildung des Rechts noch die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts erfordert (§ 543 Abs. 2 ZPO).