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OLG München Urteil vom 08.03.2013 - 10 U 2375/12 - Unfall zwischen vom Fahrbahnrand anfahrenden Lkw und vom anderen Straßenteil einfahrenden Pkw

OLG München v. 08.03.2013: Unfall zwischen vom Fahrbahnrand anfahrenden Lkw und vom anderen Straßenteil einfahrenden Pkw


Das OLG München (Urteil vom 08.03.2013 - 10 U 2375/12) hat entschieden:
Ein über den Geh- und Radweg von einem Parkplatz auf die Fahrbahn Einfahrender hat die Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer auszuschließen, § 10 S. 1 StVO. Für den vom Fahrbahnrand Anfahrenden gilt zwar ebenfalls § 10 StVO, seine Pflicht besteht aber in erster Linie gegenüber dem fließenden Verkehr auf der Fahrbahn und nicht primär gegenüber Verkehr auf dem Geh- und Radweg. Der vom Fahrbahnrand anfahrende Lkw-Fahrer haftet daher bei einer Kollision mit einem von einem anderen Straßenteil einfahrenden Pkw nur zu 30 %.


Siehe auch Einfahren von einem "anderen Straßenteil" und Stichwörter zum Thema Vorfahrt


Gründe:

A.

Gegenstand des Rechtsstreits sind Schadensersatzansprüche der Klagepartei aus einem Verkehrsunfall vom 28.11.2009 gegen 12.30 Uhr auf der F.Straße in I. in Höhe Haus Nr. 54. Der Geschäftsführer der Klägerin fuhr mit deren Pkw, amtl. Kennzeichen ... von einem Parkplatz vor dem Geschäft diagonal über den Gehweg in die Fahrbahn ein, wo der Beklagte zu 2) mit dem bei der Beklagten zu 1) haftpflichtversicherten Lkw, amtl. Kennzeichen …04 vom Fahrbahnrand anfuhr und es zur Kollision kam. Streitig ist insbesondere, wo sich der Pkw zum Zeitpunkt des Anfahrens des Lkw befand und ob ersterer stand.

Die Klägerin behauptet, der Geschäftsführer der Klägerin sei vom Parkplatz kommend schräg vor den Lkw gefahren, habe an der Sichtlinie gehalten, um den fließenden Verkehr zu beobachten, als nach längerer Standzeit der Lkw in das stehende Fahrzeug gefahren sei.

Die Beklagten behaupten, der Beklagte zu 2) habe den Motor längere Zeit laufen lassen, im rechten Spiegel das auf dem Parkplatz stehende Fahrzeug der Klägerin gesehen, habe dann in den linken Spiegel gesehen und sei losgefahren und der Geschäftsführer der Klägerin sei ebenfalls losgefahren und schräg auf den Lkw zugefahren.

Vorprozessual erfolgte durch die Beklagte zu 1) eine Zahlung in Höhe von 2.691,83 € nebst Rechtsanwaltskosten in Höhe von 265,70 €. Hinsichtlich der Einzelheiten zur Schadenshöhe wird auf den Tatbestand des Endurteils des LG Ingolstadt vom 09.05.2012, durch welches der Klage auf der Grundlage einer Haftungsverteilung von 75 % zu 25 % zu Lasten der Beklagten teilweise stattgegeben wurde (Bl. 75/81 d. A.), Bezug genommen. Hinsichtlich der Erwägungen des Landgerichts wird auf die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils Bezug genommen.

Gegen das der Klagepartei am 16.05.2012 zugestellte Urteil legte die Klagepartei mit einem beim Oberlandesgericht am 18.06.2012 eingegangenen Schriftsatz ihrer Prozessbevollmächtigten Berufung ein (Bl. 98/99 d. A.), welche nach Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist mit einem beim Oberlandesgericht am 06.09.2012 eingegangenen Schriftsatz ihrer Prozessbevollmächtigten (Bl. 114/119 d. A.) begründet wurde. Die Klagepartei geht von der Haftungsverteilung des Landgerichts aus, behauptet aber einen höheren Schaden als vom Landgericht mit 6.521,32 € angenommen. Der Senat wies die Berufung der Klägerin nach Hinweis vom 28.09.2012 (Bl. 120/128 d. A.) mit Beschluss vom 31.10.2012 nach § 522 II ZPO zurück (Bl. 136/138 d. A.).

Gegen das den Beklagten am 18.05.2012 zugestellte Urteil legten die Beklagten mit einem beim Oberlandesgericht am 11.06.2012 eingegangenen Schriftsatz ihres Prozessbevollmächtigten Berufung ein (Bl. 93/94 d. A.), welche nach Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist mit einem beim Oberlandesgericht am 08.08.2012 eingegangenen Schriftsatz ihres Prozessbevollmächtigten (Bl. 109/113 d. A.) begründet wurde.

Die Beklagten beantragen,
unter Abänderung des angefochtenen Urteils die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Der Senat hat die Unfallbeteiligten erneut angehört und gemäß Beweisanordnung vom 02.11.2012 (Bl. 139/141 d. A.) die vom Landgericht unterlassene Beweiserhebung durch uneidliche Vernehmung des Zeugen P. sowie durch Einholung eines mündlichen Gutachtens des Sachverständigen Dipl.-​Ing. (FH) Hubert R. zum Unfallhergang nachgeholt. Die Klagepartei hat weitere vom Geschäftsführer der Klägerin über den Unfall gefertigte Fotos, so auch eine Aufnahme entgegen der Fahrtrichtung der Beteiligten übergeben. Insoweit sowie hinsichtlich der vom Sachverständigen gefertigten Fotos, Skizzen und unfallanalytischen Erwägungen/Berechnungen wird auf die Sitzungsniederschrift vom 22.02.2013 (Bl. 152/157 d. A.) nebst Anlagen verwiesen.


B.

Die statthafte sowie form- und fristgerecht eingelegte und begründete, somit zulässige Berufung hat in der Sache Erfolg.

I.

Das Landgericht hat zu Unrecht einen über die vorprozessualen Zahlungen hinausgehenden Anspruch der Klägerin bejaht. Ausgehend von einem vom Landgericht im Ergebnis zutreffend angesetzten ersatzfähigen Schaden von 6.521,32 € ergibt sich auch bei einer Mithaftung der Beklagten von 30 % nur ein Anspruch in Höhe von 1.956,40 € nebst Rechtsanwaltskosten in Höhe von 229,55 €, welcher durch die vorprozessualen Zahlungen vollständig erfüllt ist. Der Senat ist auf Grund der von ihm selbst vollständig durchgeführten Beweisaufnahme davon überzeugt, dass der Geschäftsführer der Klägerin den laufenden Motor des Lkw und damit die in Betracht zu ziehende Anfahrabsicht wahrnahm, als er in den Pkw einstieg und zu einem Zeitpunkt losfuhr, als der Beklagte zu 2) nach dem Blick in den rechten Außenspiegel, wo er das stehende Fahrzeug der Klägerin auf dem Parkplatz wahrnahm, seinen Blick nach links wechselte, um den fließenden Verkehr zu beobachten; der Geschäftsführer der Klägerin fuhr aus einem Grundstück aus Sicht des Beklagten zu 2) aus dem rückwärtigen Verkehrsraum schräg vor die Front des Lkw in den vom Beklagten zu 2) durch die A-​Säule besonders schlecht einsehbaren Verkehrsraum. Zum Kollisionszeitpunkt waren beide Fahrzeuge in Bewegung, der Lkw mit einer Geschwindigkeit von 4 km/h – 5 km/h, der Pkw mit 5 km/h – 8 km/h.

1. Der Einlassung des Geschäftsführers der Klägerin, er sein mindestens 5 Sek. oder 6 Sek. vor dem Lkw gestanden (in erster Instanz gab er noch eine Verweildauer vor dem Lkw von 30 Sekunden an), um eine Lücke im fließenden Verkehr abzuwarten und zwar in einer Position wie aus der von ihm gefertigten, im Termin vom 22.02.2013 übergebenen Fotoaufnahme ersichtlich, als ihn der Lkw gerammt habe, folgt der Senat nicht. Diese Behauptungen sind durch das Gutachten widerlegt. Der Sachverständige, von dessen hervorragender Sachkunde sich der Senat aus einer Vielzahl erholter Gutachten und Anhörungen überzeugen konnte, führte aus, dass das Schadensbild am Pkw, bestehend aus 2 tiefen Dellen und einem dazwischen befindlichen, kaum deformierten Bereich sowie die rechts vorne am Lkw befindliche, dem linken hinteren Reifen des Pkw zuzuordnende schwarze Abriebspur dafür sprechen, dass beide Fahrzeuge in Bewegung waren. Hätte sich entsprechend der Behauptung des Geschäftsführers der Klägerin nur der Lkw bewegt, wäre eine durchgehende, sich verstärkende Deformation zu erwarten gewesen. Weiter wurde der Pkw durch die Kollision nach rechts und nach vorne versetzt und die Kollisionsanalyse ergibt in Übereinstimmung mit den aus den Fotos ersichtlichen Splitterteilen am Fahrbahnrand (Anlage A 4), dass sich der Kollisionsort etwa 90 cm Richtung Fahrbahnrand hinter der aus den Fotos ersichtlichen Endstellung befindet. Aus der Kollisionsposition sah der Geschäftsführer aber nach den Feststellungen des Sachverständigen nicht an der linken Lkw–Front vorbei und konnte, auch wenn man sich den Lkw noch parallel zur Fahrbahn denkt, den Verkehr auf der Fahrbahn überhaupt nicht beobachten.

2. Der Beklagte zu 2) gab an, dass er den Motor nach Beendigung der Ladetätigkeit bei eingeschaltetem Abblendlicht längere Zeit laufen ließ, um die nötige Druckluft aufzubauen, den Pkw im rechten Außenspiegel auf dem Parkgelände vor den Geschäftsräumen der Klägerin stehen sah und er dann seinen Blick nach links wandte und als es der Verkehr zuließ losfuhr und nicht nochmal nach rechts schaute und er dann den Pkw in Schrägfahrt herannahen sah. Hiervon ist der Senat überzeugt. Der Zeuge P., der dem ihm bekannten Kläger leere Obstkisten mitgeben wollte, gab ebenfalls an, dass der Motor lief, als er den Lkw (noch vor dem Unfall) sah. Ferner erläuterte der Sachverständige, dass die nötige Druckluftbefüllung mindestens 1 ½ - 2 Minuten dauert und der Pkw von einer stehenden Position während des Blickwechsels des Beklagten zu 2) nach links 1,2 Sek. bis 1,5 Sek. vor der Kollision in den schlecht einsehbaren Bereich vor der rechten Lkw Front einfuhr (Bilder 9 und 10 des Sachverständigen, rot eigezeichnete Position des Pkw gemäß Anlage A 2).

3. Bei der Abwägung der Verschuldens- und Verursachungsanteile geht der Senat von einer deutlich überwiegenden Haftung auf Seiten der Klagepartei aus.

Der Geschäftsführer der Klägerin hatte als über den Geh- und Radweg Einfahrender die Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer auszuschließen, § 10 S. 1 StVO. Für den vom Fahrbahnrand Anfahrenden gilt zwar ebenfalls § 10 StVO, seine Pflicht besteht aber in erster Linie gegenüber dem fließenden Verkehr auf der Fahrbahn (zu ähnlichen Konstellationen vgl. OLG Hamm, NZV 1995, 72 und KG, VRs 100 [Jahrgang 2001], 286) und nicht primär gegenüber Verkehr auf dem Geh- und Radweg. Vorliegend parkte der Lkw wenige Meter vor einer Ausfahrt, auf die durch Verkehrszeichen unmittelbar vor dem Lkw aufmerksam gemacht wurde in Bereich des Beginns der Bordsteinabsenkung. Nach den Feststellungen des Sachverständigen war das Dach des herannahenden Pkw und Teile der Frontscheibe für den Beklagten zu 2) bei erneuter Blickzuwendung nach rechts, zu welcher der Beklagte zu 2) gehalten war, auch wahrnehmbar.

Da der Geschäftsführer der Klägerin aus dem Ladenlokal hinter den Parkplätzen zu „seinem“ auf dem ersten an den Gehweg anschließenden Parkplatz befindlichen Pkw ging, wo sich am Straßenrand der Lkw befand, nach seinen Angaben einstieg und gleich losfuhr und andererseits der Motor des Lkw mindestens 1 ½ Minuten vor der Kollision für die in unmittelbarer Nähe wie den Geschäftsführer der Klägerin oder den Zeuge P. befindlichen Verkehrsteilnehmer wahrnehmbar lief, musste sich dem Geschäftsführer der Klägerin die Anfahrabsicht des Lkw aufdrängen. Gleichwohl begab er sich aus Sicht des Beklagten zu 2) aus dem rückwärtigen Verkehrsraum in einen Bereich vor die Lkw-Front, die erkennbar für den Beklagten zu 2) schwer einsehbar war, ohne auf sich aufmerksam zu machen, weshalb eine Mithaftung der Beklagten von mehr als 30 % nicht in Betracht kommt.

II.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 91 I, 97 I ZPO.

III.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit des Ersturteils und dieses Urteils beruht auf §§ 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO i. Verb. m. § 26 Nr. 8 EGZPO.

IV.

Die Revision war nicht zuzulassen. Gründe, die die Zulassung der Revision gem. § 543 II 1 ZPO rechtfertigen würden, sind nicht gegeben. Mit Rücksicht darauf, dass die Entscheidung einen Einzelfall betrifft, ohne von der höchst- oder obergerichtlichen Rechtsprechung abzuweichen, kommt der Rechtssache weder grundsätzliche Bedeutung zu noch erfordern die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts.