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OLG Hamm Urteil vom 14.07.2003 - 6 U 39/03 - Zu den Pflichten des Fahrzeugführers im Bereich von Überwegen

OLG Hamm v. 14.07.2003: Zu den Pflichten des Fahrzeugführers im Bereich von Überwegen und zum Sicherheitsabstand eines Pkw mit Anhänger zum Bordstein


Das OLG Hamm (Urteil vom 14.07.2003 - 6 U 39/03) hat entschieden:
  1. Bewegt sich ein Fußgänger auf dem Gehweg parallel zum Fahrbahnrand und nähert er sich dabei einem Fußgängerüberweg, der in rechtem Winkel zu seiner Gehrichtung läuft, so werden dadurch für einen in die gleiche Richtung fahrenden Fahrzeugführer noch nicht die Pflichten gem. § 26 StVO (Heranfahren mit mäßiger Geschwindigkeit, Ermöglichen des Überquerens, nötigenfalls Warten) ausgelöst.

  2. Ein Sicherheitsabstand von 0,60 m zum Bordstein kann für einen Pkw mit Anhänger im Bereich eines Fußgängerüberweges je nach dessen konkreter Ausgestaltung, der Fahrbahnbreite und der Verkehrslage ausreichen.

Gründe:

Die Berufung der Klägerin ist nicht begründet.

Die Klägerin hat gegen die Beklagten keine Schmerzensgeldansprüche gemäß §§ 823, 847 BGB a.F. in Verb. mit § 3 Nr. 1 PflVG, da ein unfallursächliches Verschulden des Beklagten zu 1) nicht festzustellen ist. Die Betriebsgefahr des von ihm geführten Gespanns, welche gemäß § 7 StVG eine Haftung für die Ansprüche auf Ersatz materiellen Schadens begründet, rechtfertigt keine höhere Haftungsquote als die vom Landgericht zugrundegelegten 50 %, da ein unfallursächliches Verschulden der Klägerin feststeht, welches gemäß § 9 StVG in Verb. mit § 254 BGB anspruchsmindernd berücksichtigt werden muss.

1. Ein Verschulden des Beklagten zu 1) ist auch in der weiteren Beweisaufnahme durch den Senat nicht nachgewiesen worden.

1.1 Zur Annäherungs- und Kollisionsgeschwindigkeit des Gespanns haben sich in tatsächlicher Hinsicht keine neuen Erkenntnisse ergeben. Objektive Spuren, welche eine Geschwindigkeitsberechnung zuließen, sind nicht vorhanden. Es ist daher nicht nachzuweisen, dass die Beklagte zu 1) schneller als mit 30 km/h - das ist die Geschwindigkeit, die er eingeräumt hat - gefahren ist. Ein Verschuldensvorwurf kann auf diese Geschwindigkeit nicht gegründet werden. An der Unfallstelle lag die zulässige Höchstgeschwindigkeit nach den Angaben in der Verkehrsunfallanzeige bei 50 km/h. Bei der Verkehrssituation war die Geschwindigkeit von 30 km/h auch nicht unangemessen hoch. Im übrigen hat der Sachverständige im Senatstermin ausgeführt, dass für den Beklagten zu 1), nachdem die Überquerungsabsicht der Klägerin für ihn erkennbar wurde, der Unfall nur bei Schrittgeschwindigkeit vermeidbar gewesen wäre. Würde man diese in der konkreten Verkehrssituation fordern, so würden die Sorgfaltsanforderungen erheblich überspannt.

1.2 Bevor die Überquerungsabsicht der Klägerin erkennbar wurde, brauchte der Beklagte zu 1) angesichts der konkreten Ausgestaltung des Fußgängerüberweges sein Fahrverhalten nicht vorsorglich darauf ausrichten, dass möglicherweise die Klägerin, welche sich zunächst in gleicher Richtung wie er auf den Fußgängerüberweg zu bewegte, ihre Gehrichtung ändern und zum Überqueren der Fahrbahn unter Benutzung des Zebrastreifens ansetzen würde. Eine vorsorgliche weitere Herabsetzung der Geschwindigkeit in der Annäherungsphase war deswegen nicht geboten.

1.3 Dem Beklagten zu 1) kann auch nicht vorgeworfen werden, den Unfall durch einen zu geringen Seitenabstand vom rechten Fahrbahnrand verschuldet zu haben.

Eine Eingrenzung dieses Seitenabstandes war dem Sachverständigen nur innerhalb einer gewissen Bandbreite möglich aufgrund der vorgefundenen Blutlache i.V.m. der Zeugenangabe, dass die Klägerin gewissermaßen in sich zusammengesackt sei. Der Sachverständige hat daraus gefolgert, dass der Seitenabstand zum rechten Fahrbahnrand 0,30 m betragen habe mit einer Toleranz von jeweils 0,30 m nach beiden Seiten. Es ist daher nicht bewiesen, dass der Seitenabstand geringer als 0,60 m war. Genauere Erkenntnisse sind auch aus einem interdisziplinären technisch-​medizinischen Gutachten unter Beteiligung eines Mediziners, wie es die Klägerin angesprochen hat, nicht zu erwarten. Denn hier spielen die medizinischen Aspekte keine wesentliche Rolle. Wie die Klägerin nach der Kollision zu Boden gegangen ist, ist vielmehr eine Frage der Kollisionsmechanik. Hierzu verfügt der Sachverständige, dem die Ergebnisse einer Vielzahl von simulierten Fußgängerunfällen (Dummy-​Kollisionen) zur Verfügung standen, die im Sachverständigenbüro T und C durchgeführt und dokumentiert worden sind, über ausreichende Kenntnis.

Ein Seitenabstand von 0,60 m war nicht zu gering. Der Senat tritt auch insoweit der Beurteilung des Landgerichts bei, welches auf die konkreten Gegebenheiten an der Unfallstelle (Fahrbahnbreite, Grünstreifen zwischen Fahrbahn und Fußgänger/Radweg im Annäherungsbereich, Gegenverkehr auf der Fahrbahn) abgestellt hat. Zu berücksichtigen ist auch, dass die nachweisbare Fahrzeuggeschwindigkeit von 30 km/h deutlich unter der innerorts zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h lag, und dass keineswegs dichter Fußgängerverkehr herrschte, und dass der Beklagte zu 1) davon ausgehen durfte, dass seine Erkennbarkeit für die Klägerin in keiner Weise eingeschränkt sei.

2. Mit ebenfalls zutreffenden Erwägungen ist das Landgericht zu dem Ergebnis gelangt, dass der Klägerin ein eigenes Verschulden bei der Verursachung des Unfalls zur Last fällt.

Trotz ihres Vorrangs auf dem Fußgängerüberweg durfte sie diesen nicht blindlings ohne Beachtung des Fahrverkehrs auf der Fahrbahn betreten, sondern hatte diesen zu beachten, um zu sehen, ob ihr Vorrang respektiert würde. Wahrnehmungsprobleme im Hinblick auf das von der Beklagten zu 1) geführte Gespann bestanden für die Klägerin nicht, jedenfalls nicht solche von optischer Art. Die akustische Wahrnehmbarkeit des Gespanns war für die Klägerin möglicherweise dadurch beeinträchtigt, dass kurz zuvor im Gegenverkehr die Zeugin H mit ihrem Pkw den Fußgängerüberweg passiert hat; das könnte es erklärbar machen, dass die Klägerin das für sie von hinten und nach ihrer Hinwendung zum Überweg von links kommende Gespann nicht rechtzeitig wahrgenommen hat. Sie blieb aber im eigenen Interesse verpflichtet, vor dem Betreten des Fußgängerüberwegs nach links zu schauen. Das hat sie offenbar unterlassen. Denn die Kollision hat sich auf der Fahrbahn - wenn auch dicht an der Fahrbahnkante - ereignet. Der Seitenabstand des Gespanns von der Fahrbahnkante ist wie oben dargelegt in einer Bandbreite von 0 bis 0,60 m festgestellt worden. Daraus, dass die Klägerin den rechten Außenspiegel des Zugfahrzeugs nicht berührt hat, wohl aber den senkrechten Holm der vorderen rechten Ecke des Anhängers, hat der Sachverständige den überzeugenden Schluss gezogen, dass sich die Klägerin, während das Gespann den Fußgängerüberweg passierte, in Bewegung quer zur Fahrtrichtung des Fahrzeugs befunden hat. Da dieses sich innerhalb der Fahrbahngrenzen bewegt hat, muss die Klägerin auf die Fahrbahn getreten sein.

Ohne Erfolg macht die Klägerin demgegenüber mit der Berufung geltend, es sei nicht ausgeschlossen, dass das Gespann doch noch weiter rechts gefahren sei, und dass sie außerhalb des Fahrbahnbereichs auf dem Gehweg erfasst worden sei, wo sie mit Fahrverkehr noch nicht zu rechnen brauchte. In dem Grünstreifen, welcher vor dem Fußgängerüberweg den Rad/Gehweg von der Fahrbahn trennt, haben sich keine Spuren des Gespanns gefunden. Schon das spricht dagegen, dass der Beklagte zu 1) mit seinem Gespann im Gehwegbereich über den rechten Fahrbahnrand hinausgeraten ist. Der Sachverständige hat überdies bei seiner Anhörung durch den Senat die von der Klägerin behauptete Möglichkeit, dass das Gespann weiter rechts gewesen sei, nicht bestätigt; er hat es vielmehr als wahrscheinlicher bezeichnet, dass innerhalb der von ihm ermittelten Toleranzbreite von 60 cm zum Fahrbahnrand die Kollision eher mehr als 30 cm vom Fahrbahnrand erfolgt sei. Dass die vordere rechte Ecke des Anhängers, mit der die Klägerin zusammengestoßen ist, doch noch rechts vom Fahrbahnrand sich bewegt hat, hat er als ganz unwahrscheinlich bezeichnet. Wenn die Klägerin hieraus folgert, dass eine Kollisionsposition rechts vom Fahrbahnrand doch nicht völlig ausgeschlossen sei, so ist dem entgegenzuhalten, dass auch dann angesichts der konkreten Situation an der Unfallstelle der Klägerin ein Verschulden zur Last fällt. Denn auch dann müsste sich die Kollision jedenfalls ganz dicht am Fahrbahnrand und allenfalls geringfügig rechts davon ereignet haben. Zwar darf ein Fußgänger grundsätzlich davon ausgehen, dass er im Gehwegbereich vor dem Fahrverkehr geschützt ist. Aber selbst dann, wenn man den von der Klägerin in die Diskussion gebrachten Kollisionsort geringfügig rechts von der Fahrbahnkante als richtig unterstellt, war hier angesichts der konkreten Umstände die Situation so, dass die Klägerin schon vorher darauf achten musste, ob für sie von links ein Fahrzeug kam. Denn es konnte ihr nicht entgangen sein, dass die ihr zunächst entgegenkommende Zeugin H soeben mit ihrem Pkw den Fußgängerüberweg passiert hatte, und sie musste deswegen beim Zugehen auf den Zebrastreifen mit Fahrzeugen aus dem Gegenverkehr rechnen, welche angesichts der Fahrbahnbreite notwendigerweise scharf rechts fahren würden, so dass sie unter diesen Umständen bei Anwendung der gebotenen Sorgfalt schon vorher einen Blick nach links werfen musste, bevor sie unmittelbar an die Fahrbahn herantrat. Dies war um so mehr geboten, als sie sich auch während der Kollision noch in einer Vorwärtsbewegung befand.

3. Der Betriebsgefahr des vom Beklagten zu 1) geführten Fahrzeugs, welche erhöht war durch den mitgeführten Anhänger und dessen Breite, die sich hier unfallursächlich ausgewirkt hat, hat das Landgericht bei der Abwägung gegenüber dem Verschulden der Klägerin gemäß § 9 StVG in Verb. mit § 254 BGB hinreichend Rechnung getragen.

4. Die prozessualen Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 97 Abs. 1, 708 Nr. 10 ZPO. Die Zulassung der Revision war nicht veranlasst.