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OLG Schleswig Urteil vom 31.07.1991 - 9 U 133/89 - Zu den Voraussetzungen für einen geschlossenen Verband

OLG Schleswig v. 31.07.1991: Zu den Voraussetzungen für einen geschlossenen Verband


Das OLG Schleswig (Urteil vom 31.07.1991 - 9 U 133/89) hat entschieden:
Voraussetzung für einen geschlossenen Verband ist neben einer einheitlichen Kennzeichnung, dass sich die einzelnen Fahrzeuge des Verbandes - hier beim Einbiegen nach links in eine Vorfahrtsstraße - "geschlossen" bewegen, dh als Glieder eines eine Einheit bildenden geschlossenen Verbandes.


Tatbestand:

Von der Darstellung des Tatbestandes wird gemäß § 543 Abs. 1 ZPO abgesehen.


Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist statthaft sowie in rechter Form und Frist eingelegt und begründet worden. Sie kann jedoch keinen Erfolg haben.

Richtig ist zwar, dass ein geschlossener Verband im Rahmen der StVO wie ein Verkehrsteilnehmer zu behandeln ist mit der Folge, dass nach berechtigtem Einbiegen in eine Vorfahrtsstraße durch das erste Fahrzeug der Kolonne die einzelnen dem Verband angehörigen Fahrzeuge folgen dürfen und trotz nachträglich auftauchender bevorrechtigter Verkehrsteilnehmer nicht wartepflichtig werden (vgl. Jagusch/Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 31. Aufl., § 27 StVO Rz. 5). Dabei kann ein geschlossener Verband auch aus nur drei Fahrzeugen – wie im vorliegenden Fall – bestehen (vgl. OLG Nürnberg VersR 1978, 1045/6). Voraussetzung ist neben einer einheitlichen Kennzeichnung (Wimpel, Beleuchtung) aber, dass sich die Fahrzeuge beim Einbiegen "geschlossen", das heißt als Glieder eines eine Einheit bildenden geschlossenen Verbandes bewegen, weil sonst der Zusammenhang zwischen ihnen für andere Verkehrsteilnehmer nicht ohne weiteres erkennbar ist. Daran hat es im vorliegenden Fall gefehlt.

Bei der Würdigung der Zeugenaussagen kommt der Aussage des Busfahrers V besondere Bedeutung zu. Dieser hielt mit einem Linienbus als erstes Fahrzeug auf der Linksabbiegespur der Gegenfahrbahn und wollte den drei Bundeswehrfahrzeugen durch Verzicht auf sein Vorfahrtsrecht das Einbiegen nach links ermöglichen. Er war der Einmündung der B 206 in die B 205 am nächsten und nahm das Verkehrsgeschehen vor sich bewusst wahr. Nach den Angaben des Zeugen V im Strafverfahren und vor dem Landgericht ist das erste Bundeswehrfahrzeug nach links eingebogen und auf der B 205 stehen geblieben, als aus Richtung B 404, aus der der Kläger mit einem Lkw nebst Tieflader kam, noch kein Fahrzeug zu sehen gewesen sei. Dann sei das zweite Bundeswehrfahrzeug bis zur Sicht/Haltelinie vorgezogen und habe den Platz seines Vordermanns eingenommen. Als es dann ebenfalls nach links eingebogen sei, sei der später am Unfall beteiligte Lkw von der B 404 kommend sichtbar gewesen. Seine Sicht in Richtung B 404 habe 300 bis 400 Meter betragen.

Diese Darstellung deckt sich mit den eigenen Angaben des Klägers vor dem Landgericht. Danach hat er bei der Annäherung an die Einmündung der B 206 auf eine Entfernung von ca. 300 Meter ein Bundeswehrfahrzeug an der anderen Straßenseite in Warteposition stehen oder ausrollen sehen, bevor das zweite Bundeswehrfahrzeug, das unmittelbar auf der Begrenzungslinie der Einmündung der B 206 gestanden habe, die B 205 überquert habe und nach links eingebogen sei.

Schließlich wird diese Darstellung auch durch die Angaben des Polizeibeamten T im Strafverfahren bestätigt, der sich zufällig in einem privaten Funkstreifenwagen als fünftes oder sechstes Fahrzeug in dem Stau hinter dem letzten Bundeswehrfahrzeug befand. Dieser hat angegeben, nach dem Einbiegen des ersten Bundeswehrfahrzeugs in die B 205 sei das zweite Bundeswehrfahrzeug an die Einmündung herangefahren und die Fahrzeugschlange habe aufgeschlossen, jedoch gleich wieder anhalten müssen. Nach schätzungsweise 10 bis 15 Sekunden habe sich die Schlange wieder in Bewegung gesetzt, weil das zweite Bundeswehrfahrzeug die Einmündung überquert habe.

Nach diesem Ergebnis der Beweisaufnahme ist der zweite Bundeswehrunimog dem ersten also nicht unmittelbar gefolgt, sondern ist an die Sicht/Haltelinie herangefahren und hat dort gehalten, bevor er in die B 205 eingebogen ist. Er hat sich also wie ein Wartepflichtiger verhalten, wodurch zu dem ersten Bundeswehrunimog ein größerer Abstand und eine zeitliche Nachfolge von mehreren Sekunden entstanden ist. Schon dadurch ist die Geschlossenheit des Verbandes unterbrochen worden.

Nicht ganz klar ist allerdings, wie sich der dritte und letzte Bundeswehrunimog verhalten hat, insbesondere ob er von seinem ursprünglichen Standort losgefahren ist oder ob er zunächst ebenfalls bis zur Sicht/Haltelinie vorgezogen ist und erst dann zum Überqueren der B 205 angesetzt hat.

Der Zeuge V hat vor dem Landgericht ausgesagt, das dritte Bundeswehrfahrzeug habe – nach dem Einbiegen des zweiten Bundeswehrfahrzeugs – auf der B 206 etwa 20 bis 30 Meter von der Begrenzungslinie entfernt auf seinem ursprünglichen Standort gestanden. Darüber habe er sich gewundert und gedacht, vielleicht habe er den Motor abgewürgt gehabt. Plötzlich sei das dritte Bundeswehrfahrzeug losgefahren, ohne irgendwie nach links oder rechts zu gucken, und sei dem Lkw direkt vor die Flinte gefahren. Es habe sich nicht an die Einmündung herangetastet, sondern sei glatt durchgefahren. Ähnlich hatte der Zeuge V sich im Strafverfahren geäußert. Danach habe er nach dem Einbiegen des zweiten Bundeswehrfahrzeugs gerade überlegt gehabt, ob er wegen des entgegenkommenden Lkw nicht auch seinerseits die Fahrt habe fortsetzen sollen, zumal das dritte Bundeswehrfahrzeug wegen des Lkw habe warten müssen, als zu seiner Überraschung das dritte Bundeswehrfahrzeug nicht etwa nur bis zur Sicht/Haltelinie vorgezogen sei, sondern unter steter Beschleunigung weitergefahren sei.

Etwas abweichend davon hat der Kläger selbst im Strafverfahren und vor dem Landgericht angegeben, der Bundeswehrunimog sei zunächst an die Sicht/Haltelinie herangerollt bzw. habe sich an die Begrenzungslinie herangetastet und sei langsam ausgerollt, so dass für ihn der Eindruck entstanden sei, der Fahrer werde seine Vorfahrt achten. Tatsächlich sei dies jedoch nicht geschehen, sondern sei der Unimog weitergefahren bzw. plötzlich schnell angefahren und praktisch direkt in seine Fahrbahn hineingefahren.

Diese Darstellung ist in gewisser Weise von dem Businsassen W bestätigt worden, der im Strafverfahren und vor dem Landgericht bekundet hat, der Fahrer des dritten Bundeswehrfahrzeugs habe an der Einmündung einen Augenblick gezögert; er sei zunächst langsam an die Begrenzungslinie herangerollt und dann losgefahren.

Wie der Zeuge R mit dem dritten Bundeswehrunimog nun im einzelnen gefahren ist, kann dahingestellt bleiben. Feststellen lässt sich jedenfalls, dass auch er nicht unmittelbar hinter dem zweiten Unimog nach links eingebogen ist, sondern sich auch zwischen ihnen ein zeitlicher und örtlicher Abstand ergeben hat.

Wie groß der Abstand zwischen den einzelnen Bundeswehrunimogs gewesen ist, lässt sich schwer feststellen. Realistisch erscheint dem Senat ein in der mündlichen Verhandlung erörterter Abstand von jeweils rund 50 Meter. Ein solcher Abstand mag bei einer Kolonnenfahrt auf der Autobahn noch angemessen sein, weil dann wesentlich schneller gefahren wird als beim Einbiegen aus dem Stand in eine Vorfahrtsstraße. Wird aber – wie hier – aus dem Stand nach links in eine Vorfahrtsstraße eingebogen, dann ist ein Abstand von rund 50 Meter und ein zeitlicher Zwischenraum von mehreren Sekunden viel zu groß, um die Fahrzeuge für die übrigen Verkehrsteilnehmer noch als geschlossenen Verband deutlich erkennbar zu machen, wie es § 27 Abs. 3 Satz 1 StVO vorschreibt. Auf das sogenannte Kolonnenvorrecht kann die Beklagte sich daher im vorliegenden Fall nicht berufen. Das Kolonnenvorrecht führt zu einer weitgehenden Zurückdrängung des Vorrechts des sonst vorfahrtsberechtigten Verkehrs. Erforderlich ist dann aber auch, dass die übrigen Verkehrsteilnehmer, denen die Ausübung des ihnen sonst zustehenden Vorfahrtsrechts untersagt wird, unmissverständlich darauf hingewiesen werden, dass sie es nicht mit Einzelfahrzeugen, sondern mit einem geschlossenen Verband zu tun haben. Dies ist aber nur der Fall, wenn die Fahrzeuge in einem Zuge und nicht wie geschehen in Etappen mit größerem zeitlichem und örtlichem Abstand einbiegen. Dass dies durch die Fahreigenschaften der Unimogs bedingt war, ist nicht zu erkennen. Verhielt sich aber jedes Fahrzeug der Kolonne praktisch wie ein Wartepflichtiger, dann musste sich dem Kläger nicht die Erkenntnis aufdrängen, es mit einem geschlossenen Verband zu tun zu haben.

Von allen vernommenen Zeugen hat nur der Zeuge G den Eindruck gehabt, dass die Bundeswehrfahrzeuge sich in einer Kolonne befunden hätten. Seine Angaben sind jedoch nicht glaubhaft. Der Zeuge G der mehrere hundert Meter hinter dem Kläger fuhr, will gesehen haben, wie alle drei Bundeswehrunimogs aus der B 206 in die B 205 eingebogen seien. Dabei sollen die beiden ersten Fahrzeuge die B 205 vor dem Tieflader mit einem "Affenzahn" überquert und diesem schon die Vorfahrt genommen haben. Dies lässt sich mit keiner anderen Darstellung vereinbaren und lässt Zweifel aufkommen, ob der Zeuge G die geschilderten Beobachtungen aus seiner Sichtposition überhaupt machen konnte oder nur unzutreffende Schlussfolgerungen gezogen hat.

Soweit andere Zeugen einen geringeren Abstand als die vom Senat angenommenen rund 50 Meter zwischen den einzelnen Unimogs bekundet haben, hält der Senat ihre Schätzung nach dem übrigen Beweisergebnis nicht für zutreffend.

Stand dem Zeugen R als Fahrer des letzten Bundeswehrunimogs somit das sogenannte Kolonnenvorrecht nicht zu, so stellt das Überqueren der Vorfahrtsstraße, ohne auf den von links kommenden bevorrechtigten Verkehr zu achten, einen erheblichen Verkehrsverstoß dar. R hat es ersichtlich an jeglicher Aufmerksamkeit fehlen lassen, hat vor dem Überqueren der Vorfahrtsstraße nicht nach links gesehen und den Lkw – wenn überhaupt – erst im letzten Augenblick wahrgenommen. Soweit er sein Fahrverhalten im Strafverfahren auf völlige Übermüdung zurückgeführt hat (vgl. den Bericht der Jugendgerichtshilfe), mag dies die subjektive Vorwerfbarkeit mildern, ändert aber nichts an dem schwerwiegenden Verkehrsverstoß.

Ein Mitverschulden an dem Unfall lässt sich dem Kläger nicht nachweisen; insbesondere nicht ein Verstoß gegen das Unterbrechungsverbot eines geschlossenen Verbandes gemäß § 27 Abs. 2 StVO. Dass die Unimogs mit Licht fuhren, hat keiner der außenstehenden Zeugen bemerkt. Allerdings waren die Unimogs wohl mit blauen Fahnen ausgerüstet; jedenfalls hat die Polizei festgestellt, dass vorne links an dem am Unfall beteiligten Unimog eine blaue Fahne abgebrochen war, die bei den Aufräumarbeiten gefunden wurde. Keiner der außenstehenden Zeugen hat die Fahnen aber vor dem Unfall bemerkt, auch der Kläger nicht, so dass einiges dafür spricht, dass die Fahnen nach dem Anfahren zunächst schlaff herunterhingen und nicht deutlich zu erkennen waren. Letztlich kann die Kennzeichnung der Unimogs aber dahingestellt bleiben. Ein Verstoß gegen das Unterbrechungsverbot lässt sich dem Kläger schon deshalb nicht nachweisen, weil sich ihm wegen der Fahrweise der Unimogs (kein geschlossenes, sondern etappenweises Vorrücken in die Vorfahrtsstraße) nicht die Erkenntnis aufdrängen musste, es mit einem geschlossenen Verband zu tun zu haben, wie oben ausgeführt ist.

Fraglich ist nur, ob der Kläger, als er bemerkte, dass R bei Annäherung an die Einmündung nur nach rechts blickte, noch darauf vertrauen durfte, R werde gleich nach links blicken und anhalten, seine, des Klägers, Vorfahrt also beachten. Dieses Vertrauen war nach Auffassung des Senats dann und solange gerechtfertigt, als der dritte Bundeswehrunimog langsam an die Sicht/Haltelinie heranrollte, sich also wie ein Wartepflichtiger verhielt. Diese Darstellung des Klägers, die durch den Businsassen W in gewisser Weise bestätigt worden ist, ist ihm letztlich nicht zu widerlegen. Als der Unimog dann in die Vorfahrtsstraße eingebogen ist, hat der Kläger noch durch Bremsen und Ausweichen nach links reagiert. Die von der Polizei gefertigten Lichtbilder zeigen Blockierspuren vom Tieflader (vgl. das Bild Bl. 17 oben der Strafakten).

Bei der Abwägung der beiderseitigen Verursachungs- und Verschuldensanteile überwiegt die Vorfahrtsverletzung des Unimogfahrers R nach Auffassung des Senats derart, dass eine Mithaftung des Klägers nicht in Betracht kommt. Die Berufung der Beklagten ist daher zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung folgt aus den §§ 97, 281 Abs. 3 ZPO. Die übrigen Nebenentscheidungen beruhen auf den §§ 708 Nr. 10, 713 und 546 Abs. 2 ZPO.