Das Verkehrslexikon

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Bundesverfassungsgericht Beschluss vom 20.10.1992 - 1 BvR 483/92 - Beweisantrag und rechtliches Gehör

BVerfG v. 20.10.1992: Rechtliches Gehör und Übergehen eines erheblichen Beweisantrags


Das Bundesverfassungsgericht (Beschluss vom 20.10.1992 - 1 BvR 483/92) hat entschieden:
Art. 103 Abs. 1 GG verpflichtet das Gericht dazu, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Dabei soll das Gebot des rechtlichen Gehörs als Prozessgrundrecht sicherstellen, dass die von den Fachgerichten zu treffende Entscheidung frei von Verfahrensfehlern ergeht, welche ihren Grund in unterlassener Kenntnisnahme und Nichtberücksichtigung des Sachvortrags der Parteien haben. In diesem Sinne gebietet Art. 103 Abs. 1 GG in Verbindung mit den Grundsätzen der Zivilprozessordnung die Berücksichtigung erheblicher Beweisanträge. Hält das Gericht die Behauptung einer Partei, nicht sie, sondern deren Tochter sei die Halterin eines Fahrzeugs für erheblich, verletzt es den Anspruch auf rechtliches Gehör, wenn einem entsprechenden Beweisantrag nicht nachgegangen wird.


Siehe auch Der Beweisantrag im Zivilprozess und Rechtliches Gehör


Gründe:

Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen eine Berufungsentscheidung, durch welche die Verurteilung eines Halters im Sinne von § 7 StVG in erster Instanz bestätigt wurde. Gerügt wird die Verletzung von Art. 103 Abs. 1 GG.

I.

1. Die Tochter des Beschwerdeführers verursachte einen Verkehrsunfall und wurde deshalb auf Schadensersatz vor dem Amtsgericht in Anspruch genommen. Daneben wurden auch der Beschwerdeführer, der im Kraftfahrzeugbrief des von der Tochter geführten Fahrzeugs als Halter eingetragen war, sowie die Haftpflichtversicherung in Anspruch genommen. Gegen die verurteilende erstinstanzliche Entscheidung legte der Beschwerdeführer Berufung ein. Erstmals trug er mit der Berufungsbegründungsschrift vor, dass er entgegen dem Fahrzeugbrief gar nicht Halter des am Unfall beteiligten Fahrzeuges sei. Halter im Sinne des § 7 StVG sei vielmehr seine nicht in seinem Haushalt lebende Tochter. Diese habe das Fahrzeug gekauft und unterhalte es alleine, indem sie Steuern, Reparaturkosten etc. aufbringe. Zum Beweis berief er sich auf das Zeugnis seiner Ehefrau. Im Termin zur mündlichen Verhandlung wurde die Haltereigenschaft des Beschwerdeführers vor der Kammer erörtert. Dabei bestritt der Kläger den Vortrag des Beschwerdeführers, die Tochter unterhalte das Fahrzeug, mit Nichtwissen. Durch Urteil vom 18. März 1992 wies das Landgericht die Berufung des Beschwerdeführers zurück und führte aus, es hätte dem Beschwerdeführer oblegen, den durch den Fahrzeugbrief gesetzten Anschein bezüglich der Haltereigenschaft zu erschüttern und zu beweisen, dass seine Tochter Halterin des Fahrzeuges sei. Dies sei ihm nicht gelungen.

2. Mit der am 30. März 1992 beim Bundesverfassungsgericht eingegangenen Verfassungsbeschwerde wendet sich der Beschwerdeführer gegen das am 25. März 1992 zugestellte landgerichtliche Urteil. Er rügt die Verletzung des rechtlichen Gehörs und trägt sinngemäß vor, das Landgericht habe übersehen, dass er bereits mit der Berufungsbegründung vorgetragen und unter Beweis gestellt habe, dass und in welcher Form seine Tochter das Fahrzeug unterhalte. Diesem Beweisantritt sei das Landgericht nicht nachgegangen, obwohl es in seinen Urteilsausführungen zu erkennen gegeben habe, dass es auf ein entsprechendes Beweisangebot angekommen wäre.

3. Der Gegner des Ausgangsverfahrens hat nicht Stellung genommen. Das Bayerische Staatsministerium der Justiz hat in seiner Stellungnahme hinreichende Umstände dafür gesehen, dass das Landgericht das entsprechende Beweisangebot nicht zur Kenntnis genommen hat.

II.

Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig und offensichtlich begründet; das Bundesverfassungsgericht hat die maßgebliche verfassungsrechtliche Frage bereits entschieden (§ 93 b Abs. 2 Satz 1 BVerfGG). Das Urteil des Landgerichts verletzt Art. 103 Abs. 1 GG.

1. Art. 103 Abs. 1 GG verpflichtet das Gericht dazu, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Dabei soll das Gebot des rechtlichen Gehörs als Prozessgrundrecht sicherstellen, dass die von den Fachgerichten zu treffende Entscheidung frei von Verfahrensfehlern ergeht, welche ihren Grund in unterlassener Kenntnisnahme und Nichtberücksichtigung des Sachvortrags der Parteien haben. In diesem Sinne gebietet Art. 103 Abs. 1 GG in Verbindung mit den Grundsätzen der Zivilprozessordnung die Berücksichtigung erheblicher Beweisanträge. Zwar gewährt Art. 103 Abs. 1 GG keinen Schutz dagegen, dass das Gericht das Vorbringen der Beteiligten aus Gründen des formellen oder materiellen Rechts ganz oder teilweise unberücksichtigt lässt. Die Nichtberücksichtigung eines von den Fachgerichten als erheblich angesehenen Beweisangebotes verstößt aber dann gegen Art. 103 Abs. 1 GG, wenn sie im Prozessrecht keine Stütze mehr findet (BVerfGE 69, 141 <143 f.>).

2. Daran gemessen verstößt die Entscheidung des Landgerichtes gegen Art. 103 Abs. 1 GG. Das Gericht hat den Vortrag des Beschwerdeführers zur Haltereigenschaft seiner Tochter zwar zur Kenntnis genommen und für erheblich erachtet, den angebotenen Beweis des Beschwerdeführers jedoch nicht erhoben. Dem Beschwerdeführer wurde seitens des Gerichtes in den Entscheidungsgründen zugebilligt, dass er den durch seine Eintragung in Fahrzeugschein, Fahrzeugbrief und Versicherungsbescheinigung gesetzten Rechtsschein erschüttern könne, indem er beweise, dass seine Tochter tatsächlich Halterin des Fahrzeuges sei und dieses, was der Gegner bestritten hatte, unterhalte. Den so geforderten Beweis hatte der Beschwerdeführer indes in der Berufungsbegründungsschrift angeboten. Die Nichtanordnung der Beweisaufnahme über die entscheidungserhebliche Tatsache findet in der Zivilprozessordnung keine Stütze. Die angegriffene

Entscheidung verstößt infolgedessen gegen Art. 103 Abs. 1 GG. 3. Das Urteil beruht auf dieser Verletzung. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Landgericht anders entschieden hätte, wenn es die Zeugin des Beschwerdeführers vernommen hätte. Allein der Umstand, dass es sich dabei um die Ehefrau des Beschwerdeführers handelt, spricht dem Beweisangebot nicht von vornherein jeden Beweiswert ab.

4. Da das Urteil des Landgerichts gegen Art. 103 Abs. 1 GG verstößt, muss es gemäß § 95 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 BVerfGG aufgehoben werden. Die Sache ist an das Landgericht zurückzuverweisen.

Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34 a BVerfGG.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.