Das Verkehrslexikon

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OLG Naumburg Urteil vom 25.03.2013 - 1 U 114/12 - Unfall eines Kindes und Haftung der Mutter

OLG Naumburg v. 25.03.2013: Unfall eines 11-jährigen Kindes und Haftung der Mutter


Das OLG Naumburg (Urteil vom 25.03.2013 - 1 U 114/12) hat entschieden:
Ruft ein Elternteil ein selbst schuldunfähiges Kind in einer Weise zu sich zurück, dass dieses sofort losläuft, so kommt seine eigene Haftung nach § 823 BGB in Betracht, wenn er sich nicht vergewissert hat, dass dies ohne Gefahr für Dritte möglich ist und das Kind dadurch einen Unfall verursacht (hier mit einem Radfahrer auf dem Radweg).


Siehe auch Die Pflicht von Eltern und sonstigen Aufsichtspersonen zur Beaufsichtigung von Kindern und sonstigen Schutzbefohlenen und Unfälle zwischen Fußgänger und Radfahrer


Gründe:

Die Klägerin macht gegen die Mutter der zum Unfallzeitpunkt 6 Jahre alten J. Schadensersatzansprüche geltend. Die Unfallstelle befindet sich im Einmündungsbereich H. Straße/A. Straße in D.. Dort befindet sich neben einem Fuß- und Radweg eine Rasenfläche. Auf dieser Rasenfläche befanden sich die Beklagte, J. sowie noch ein Kind mit seiner Mutter (der Zeugin S. E.). Ohne dass die Beklagte dies zunächst bemerkte, überquerte J. den Radweg und blieb an der dahinter gelegenen Fußgängerampel stehen. Sie hatte wohl die Absicht zu drücken (oder hatte es bereits getan [mit der Beklagten, der Zeugin und deren Kind wollte man an dieser Stelle die Straße überqueren]; dass man an einer Fußgängerampel drückt und auf das grüne Lichtzeichen wartet, war J. aus dem Verkehrsunterricht bekannt). In diesem Augenblick bemerkte die Beklagte, dass sich J. nicht mehr auf der Rasenfläche, sondern an der Fußgängerampel befand. Sie forderte J. verbal auf, (sofort) zurückzukehren. Ob dies in normalem Ton oder laut erfolgte, ist streitig. Die Klägerin sprach bei ihrer Anhörung durch den Senat von einem „rauen Ton“. J. lief über den Fahrradweg zurück und stieß gegen das Vorderrad des Fahrrades der Klägerin, die sofort stürzte und sich erheblich verletzte. Die Klägerin behauptet, dass die Beklagte sie gesehen haben müsse, als sie J. rief, die Beklagte bestreitet dies und hat dies bei ihrer Anhörung durch den Senat noch einmal ausdrücklich bestätigt. Nach dem Vortrag der Klägerin habe sie J. beobachtet, als diese zur Fußgängerampel lief. Sie habe dann - was streitig ist - ihre Geschwindigkeit verlangsamt. Als J. an der Ampel gestanden habe, sei für sie der Vorgang erledigt gewesen, weil dort keinerlei Gefahr für das Kind bestanden habe. Für sie unvorhersehbar sei gewesen, dass die Beklagte J. zurückgerufen habe und diese sofort auf den Radweg gelaufen sei.

Die Beklagte stürzte nach dem Zusammenstoß mit J. auf ihre linke Körperseite und erlitt eine mediale Schenkelhalsfraktur Pauwels Typ 1 mit Dislokation links bei Verkürzung der Belastungsunfähigkeit des linken Hüftgelenks. Die Klägerin wurde noch am Unfalltag (13.5.2009) operativ versorgt und verblieb bis zum 20.5.2009 in stationärer Behandlung. Danach erfolge die ambulante Weiterbehandlung. Die Klägerin musste Unterarmgehstützen benutzen. In einem Rentengutachten für die Unfallkasse Sachsen-​Anhalt wird für den Untersuchungszeitpunkt (15.12.2009) eine leichte Belastungs- und Bewegungseinschränkung dokumentiert. Seit dem 5.10.2009 ist die Klägerin wieder arbeitsfähig. Das bei dem Eingriff am Unfalltag eingebrachte Osteosynthesematerial wurde mittels einer 2. Operation im Februar 2010 wieder entfernt. Die Klägerin macht folgende Schadenspositionen gelten:

Schmerzensgeld 5.000,00 Euro
Reparaturkosten Fahrrad 55,76 Euro
Beschädigung Kleidung 234,95 Euro
neue Schuhe 134,75 Euro
Verdienstausfall 111,07 Euro
Kostenpauschale 25,00 Euro


Darüber hinaus begehrt sie die Feststellung der Ersatzpflicht der Beklagten für mögliche künftige Schäden.

Von der weiteren Darstellung des Sachverhalts wird gemäß § 540 Abs. 2 ZPO abgesehen.

Das Landgericht hat die Klage nach Beweisaufnahme mit der Begründung abgewiesen, dass eine Aufsichtspflichtverletzung gemäß § 832 BGB nicht vorliege. Dagegen wendet sich die Klägerin mit der Berufung, mit der sie ihre erstinstanzlichen Klageanträge weiterverfolgt. Die Beklagte verteidigt das angefochtene Urteil und beantragt, die Klage abzuweisen.


II.

Die Berufung ist zulässig, insbesondere form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden. Das Rechtsmittel hat ganz überwiegend Erfolg.

Im Ergebnis zutreffend geht das Landgericht davon aus, dass eine Haftung der Beklagten aus dem Gesichtspunkt einer Aufsichtspflichtverletzung gemäß § 832 BGB nicht in Betracht kommt. Diese Vorschrift soll andere Verkehrsteilnehmer vor „typisch“ kindlichem Fehlverhalten schützen. Ein solcher Fall ist vorliegend nicht gegeben. Wäre es zum Zusammenstoß mit der Klägerin gekommen, als J. aus eigenem Antrieb über den Radweg lief, könnte man - mit dem Landgericht - die Frage problematisieren, ob die Beklagte dies durch ein Verhalten unterbinden (bzw. verhindern) musste. Der Vorgang, dass J. aus eigenem Antrieb zur Fußgängerampel lief, war indes abgeschlossen. Als unstreitig ist anzusehen, dass für sie an der Fußgängerampel keine Gefahr bestand. Dass sie jetzt zurücklief, tat sie nicht aus eigenem Antrieb, sondern auf den Zuruf der Beklagten hin. Da J. selbst unstreitig nach § 828 Abs. 1 BGB nicht haftet, kommt demgegenüber eine originäre Haftung der Beklagten aus § 823 Abs. 1 BGB in Betracht, quasi mit J. als schuldunfähigem Werkzeug. Haftungsrechtlich hat dies für die Beklagte Konsequenzen. Hinsichtlich der Beaufsichtigung von J. (i.S.v. § 832 BGB) gibt es sicher einen „Ermessenspielraum“ des Aufsichtspflichtigen. Dies gilt aber nicht für eine eigene Handlung, hier gilt uneingeschränkt § 276 BGB. Die Beklagte trägt vor, dass sie die Klägerin nicht gesehen hat, als sie nach J. rief. Es kann offen bleiben, ob dies im Rahmen einer Haftung aus § 832 BGB ausreichend gewesen wäre. Bei einem eigenen Haftungstatbestand aus § 823 Abs. 1 BGB (i.V.m. § 276 BGB) hätte die Klägerin sich wie jeder andere den Fahrradweg kreuzende Fußgänger davon überzeugen müssen, dass J. den Weg ohne Gefährdung oder Behinderung von anderen Verkehrsteilnehmern rücküberqueren konnte (dazu: OLG Hamm Urteil vom 16.9.1998 - 13 U 76/98 - [z.B. NZV 1999, 418]). Das hat die Beklagte nach eigenem Vortrag nicht getan. Berücksichtigt man zudem, dass für J. an der Fußgängerampel keine Gefahr bestand (sie aus dem Verkehrsunterricht wusste, was dort zu tun war), deshalb auch keine Notmaßnahme zu ergreifen war und sich die Beklagte auch nicht erst nach J. umsehen musste (nach ihren eigenen Angaben hatte sie freien Blick auf die Ampelanlage) ist eine Haftung dem Grunde nach - entgegen der Ansicht des Landgerichts - zu bejahen.

Es ist auch von einer Alleinhaftung der Beklagten auszugehen (dazu: OLG Hamm a.a.O.). Anhaltspunkte, aus denen sich ein Mitverschulden der Klägerin ergeben könnte, lassen sich nicht feststellen. Insbesondere lässt sich nicht feststellen, dass die Klägerin mit überhöhter Geschwindigkeit gefahren ist. Sie hat behauptet, sie habe ihre Geschwindigkeit herabgesetzt, als J. zur Fußgängerampel hinlief. Ob dies zutreffend ist, kann im Ergebnis dahinstehen, da der 1. Kreuzungsvorgang abgeschlossen war, als J. an der Ampelanlage angekommen war. Für die Klägerin galt ab diesem Zeitpunkt, dass sie ohne konkrete Anhaltspunkte oder Auffälligkeiten für ein verkehrswidriges Verhalten von Kindern oder Erwachsenen (also von J. und/oder der Beklagten) weder ihre Geschwindigkeit herabsetzen noch ihre Aufmerksamkeit (Bremsbereitschaft) erhöhen musste (dazu: KG Urteil vom 11.7.2002 - 12 U 154/00 - [NZV 2003, 483, 484]). Dass die Klägerin hätte erkennen können, dass die Beklagte J. plötzlich zurückrief ohne sich zuvor von der Gefahrlosigkeit der Querung des Fahrradweges zu überzeugen, kann nicht festgestellt werden.

Dem Grunde nach besteht damit eine 100%-​Haftung der Beklagten. Hinsichtlich der einzelnen Schadenspositionen ist § 287 ZPO zu berücksichtigen und weiter der Umstand, dass die Beklagte die Positionen nicht bestritten hat.

Das von der Klägerin geforderte Schmerzensgeld von 5.000,00 Euro ist angemessen. Es sind die Art der Verletzung selbst, die Dauer der Heilbehandlung sowie die zwei operativen Eingriffe zu berücksichtigten. Die Rechtsprechung spricht bei Oberschenkel-​/Oberschenkelhalsfrakturen durchschnittlich recht hohe Schmerzensgeldbeträge zu (Übersicht bei Slizyk, Beck’sche Schmerzensgeldtabelle 2013, S. 420 - 426: speziell: OLG Hamm Urteil vom 16.11.1998 - 6 U 98/98 - [OLGR 1999, 87]; hier: zitiert nach juris [15.000,00 DM bei nur 75 % Haftungsquote]), wobei sich der geforderte Betrag von 5.000,00 Euro am unteren Rand des Spektrums bewegt. Gründe dafür, im vorliegenden Fall davon nach unten abzuweisen, sind nicht ersichtlich oder vorgetragen.

Die Reparaturkosten für das Fahrrad (55,76 Euro) sind belegt durch den Kostenvoranschlag der Fa. F. vom 26.6.2009 (K 3 Anlagenband).

Hinsichtlich der beschädigten Kleidung und der Schuhe kann kein Wiederbeschaffungswert zum Neupreis angesetzt werden. Hier muss dem Gesichtspunkt „Neu für Alt“ im Rahmen von § 287 ZPO Rechnung getragen werden, wobei gebrauchte Kleidung nur mit einem eher geringen Wert zu berücksichtigen ist. Der Senat schätzt beide Positionen auf 100,00 Euro.

Der Verdienstausfall (111,07 Euro) ist belegt durch die E-​Mail des Schulverwaltungsamtes vom 30.4.2010 (K 5 Anlagenband). Gegen die Kostenpauschale von 25,00 Euro bestehen im Rahmen von § 287 ZPO keine Bedenken.

Die vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten (dazu: Palandt/Grüneberg BGB, 72. Aufl., § 249, Rn. 57 m.w.N.) werden lediglich nach einem Gegenstandswert von 2.025,00 Euro berechnet. Da dieser Wert unterhalb dessen liegt, was der Klägerin letztlich zugesprochen wird, sind die Kosten (272,87 Euro) in vollem Umfang erstattungsfähig.

Hinsichtlich des Feststellungsantrages reicht es aus, dass der Eintritt weiterer Schadensfolgen möglich ist. Der Zinsanspruch ist begründet (soweit geltend gemacht) mit dem Ablehnungsschreiben der Versicherung vom 26.6.2009 (K 7 Anlagenband) bzw. mit dem Eintritt der Rechtshängigkeit (§§ 286, 291 BGB).

Die Kostenentscheidung folgt aus den §§ 91 Abs.1, 92 Abs. 1, 97 Abs. 1 ZPO.

Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf den §§ 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO.

Die Revision ist nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen von § 543 ZPO nicht vorliegen.

Die vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten sind nur bei der Kostenquote, nicht aber beim Streitwert zu berücksichtigen. Im Übrigen bewertet der Senat den Feststellungsantrag mit 1.000,00 Euro.