BVerfG v. 18.12.1953: Doppelbestrafungsverbot - Verhältnis von Strafurteil und Strafbefehl
Das Bundesverfassungsgericht (Urteil vom 18.12.1953 - 1 BvR 230/51) hat entschieden:
Art 103 Abs 3 GG hindert nicht eine Verurteilung im ordentlichen Verfahren wegen einer bereits von einem Strafbefehl zum Teil erfassten Tat, wenn die Bestrafung unter einem nicht schon im Strafbefehl gewürdigten rechtlichen Gesichtspunkt erfolgt, der eine erhöhte Strafbarkeit begründet.
Der Beschwerdeführer hat in der Silvesternacht 1949 zwei Feuerwerkskörper (Kanonenschläge) vor der Tür des Schlafzimmers der Eheleute G. explodieren lassen, um deren Silvesterfeier zu stören. Auf Grund dieses Sachverhalts ist gegen ihn durch Strafbefehl des Amtsgerichts Kassel vom 3. Februar 1950 - 5 Cs 306/50 - wegen ruhestörenden Lärms und groben Unfugs sowie unbefugten Abbrennens von Feuerwerkskörpern (§§ 360 Nr. 11; 367 Nr. 8 StGB) eine Geldstrafe von 10.- DM rechtskräftig verhängt worden. Am 29. März 1951 ist der Beschwerdeführer durch Urteil des Amtsgerichts Kassel - 5 Ds 31/50 - wegen fahrlässiger Körperverletzung (§ 230 StGB) zu einer Geldstrafe von 150.- DM hilfsweise 15 Tagen Gefängnis, und zu einer Buße von 200.- DM mit der Begründung verurteilt worden, Frau G. habe durch die Explosion der Kanonenschläge in der Silvesternacht 1949 einen Nervenschock erlitten. Das Oberlandesgericht Frankfurt a. M. hat die von dem Beschwerdeführer gegen dieses Urteil eingelegte Revision am 5. September 1951 - 2 Ss 269/51 - im Schuldspruch verworfen, im übrigen das Urteil aufgehoben. Soweit Aufhebung erfolgt ist, hat das Oberlandesgericht die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an das Amtsgericht Kassel zurückverwiesen. Zur Begründung hat das Revisionsgericht ausgeführt, dass eine Verurteilung durch einen Strafbefehl eine nochmalige Strafverfolgung wegen derselben Tat im ordentlichen Verfahren nicht ausschließe, sofern wie hier - die Tat aus einem anderen rechtlichen Gesichtspunkt gewürdigt werde, der eine erhöhte Strafbarkeit begründe.
Gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Frankfurt a. M., das dem Beschwerdeführer am 8. Oktober 1951 zugestellt worden ist, richtet sich die am 13. Oktober 1951 eingegangene Verfassungsbeschwerde. In dieser Entscheidung erblickt der Beschwerdeführer eine Verletzung des in Art. 103 Abs. 3 GG normierten Rechtssatzes, dass niemand wegen derselben Tat auf Grund der allgemeinen Strafgesetze mehrmals bestraft werden darf.
In der mündlichen Verhandlung war der Oberbundesanwalt, dem nach § 94 Abs. 3 BVerfGG Gelegenheit zur Äußerung gegeben worden war, vertreten. Er ist der Auffassung, die angefochtene Entscheidung stehe nicht im Widerspruch mit dem in Art. 103 Abs. 3 GG niedergelegten Rechtssatz.
II.
Die Verfassungsbeschwerde ist gemäß § 90, 93 Abs. 1 BVerfGG zulässig, aber nicht begründet.
1. Art. 103 Abs. 3 GG will seinem Wortlaut nach eine mehrmalige Bestrafung wegen derselben Tat verhindern. Der Beschwerdeführer ist bis jetzt wegen derselben Tat nur einmal bestraft. Das Strafverfahren, das gegen ihn anhängig ist, ist noch nicht rechtskräftig abgeschlossen. Dem steht nicht entgegen, dass das Amtsgericht gemäß § 358 StPO die rechtliche Beurteilung, die das Revisionsgericht der Aufhebung des Urteils zugrunde gelegt hat, auch seiner Entscheidung zugrunde zu legen hat. Die Bindung des Amtsgerichts hieran kann entfallen, wenn das Ergebnis von neuen zulässigen Feststellungen der Vorinstanz die Anwendung eines anderen Strafgesetzes rechtfertigt (RGSt 31, 436 <437>). Auch kann eine inzwischen eingetretene Gesetzesänderung oder eine Amnestie zur Einstellung des Verfahrens führen (Goltdammers Archiv für Strafrecht und Strafprozess, 64. Band S. 554).
Das Urteil des Oberlandesgerichts braucht deshalb nicht rechtsnotwendig eine Bestrafung des Beschwerdeführers auszulösen.
2. Der Beschwerdeführer hält nicht nur eine mehrmalige Bestrafung, sondern schon ein wiederholtes Verfahren wegen derselben Tat für unvereinbar mit Art. 103 Abs. 3 GG. Darüber sagt die Bestimmung ihrem Wortlaut nach nichts. Es bedarf daher einer Prüfung des rechtlichen Gehalts des Rechtssatzes, der gemeinhin mit der Wendung "ne bis in idem" oder "Verbrauch der Strafklage" bezeichnet wird.