Das Verkehrslexikon

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Kammergericht Berlin Beschluss vom 10.08.1998 - 2 Ss 194/98 - 3 Ws (B) 401/98 - Befangenheit eines Richters wegen Äußerungen zu den Erfolgsaussichten

KG Berlin v. 10.08.1998: Zur Befangenheit eines Richters wegen Äußerungen zu den Erfolgsaussichten


Das Kammergericht Berlin (Beschluss vom 10.08.1998 - 2 Ss 194/98 - 3 Ws (B) 401/98) hat entschieden:
  1. Das vorläufige Urteil eines Richters über die Prozessaussichten begründet in aller Regel nicht die Besorgnis der Befangenheit. Fragt der Richter den Täter einer Geschwindigkeitsüberschreitung in einem informatorischen Gespräch vor der Hauptverhandlung bzw in derselben, "ob das Verfahren ausgesetzt werden kann, um das Fahrverbot zu einem günstigeren Zeitpunkt zu vollstrecken", bzw "ob er den Führerschein während seines Urlaubs abgeben könne oder ob er auf den Führerschein angewiesen sei", so ergeben sich daraus keine Anhaltspunkte für Zweifel an der Unvoreingenommenheit des Richters.

  2. Bei einer fahrlässigen Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit (hier: 30 km/h) um mehr als 100% liegt regelmäßig ein grober Verstoß im Sinne von StVG § 25 Abs 1 vor, der die Verhängung des Regelfahrverbots rechtfertigt.

Siehe auch Befangenheitsantrag - Richterablehnung und Fahrverbot wegen grober Pflichtverletzung


Gründe:

Das Amtsgericht hat den Betroffenen wegen fahrlässiger Zuwiderhandlung gegen §§ 41 Abs. 2 Nr. 7 (genauer: Zeichen 274), 49 Abs. 3 Nr. 4 StVO nach § 24 StVG zu einer Geldbuße von 200,-​- DM verurteilt und ihm nach § 25 StVG für die Dauer eines Monats verboten, Kraftfahrzeuge jeder Art im Straßenverkehr zu führen. Die Rechtsbeschwerde des Betroffenen hat es durch Beschluss vom 4. Mai 1998 nach §§ 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG, 346 Abs. 1 StPO mangels rechtzeitiger Rechtsbeschwerdebegründung als unzulässig verworfen.

1. Dem Beschwerdeführer war auf seinen Antrag nach §§ 46 Abs. 1 OWiG, 44 Satz 1, 45 StPO Wiedereinsetzung in die versäumte Rechtsbeschwerdebegründungsfrist zu gewähren, weil er glaubhaft dargetan hat, dass die Säumnis ausschließlich auf einem Verteidigerverschulden beruhte, und die versäumte Handlung nachgeholt worden ist. Der Beschluss vom 4. Mai 1998 ist damit gegenstandslos.

2. Die Rechtsbeschwerde des Betroffenen, mit der er das Verfahren beanstandet und die Verletzung sachlichen Rechts rügt, hat keinen Erfolg.

a) Die Verfahrensrüge, ein gegen die erkennende Richterin gerichtetes Ablehnungsgesuch des Betroffenen sei zu Unrecht verworfen worden (§§ 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG, 338 Nr. 3 StPO), ist unbegründet. Der beanstandeten Entscheidung, die nach Beschwerdegrundsätzen zu prüfen ist, liegen Äußerungen der abgelehnten Richterin vor und während der am 3. Dezember 1997 nicht zu Ende geführten ersten Hauptverhandlung zugrunde. Nach Darstellung des Beschwerdeführers, der die Richterin in ihrer dienstlichen Stellungnahme insoweit nicht widersprochen hat, fand vor dieser Hauptverhandlung ein informatorisches Gespräch statt, in dessen Verlauf die Richterin den Verteidiger fragte, "ob das Verfahren ausgesetzt werden kann, um das Fahrverbot zu einem günstigeren Zeitpunkt zu vollstrecken". Der Sinn dieser Frage ging ersichtlich dahin, vorab zu klären, ob der Betroffene den nach der damaligen Einschätzung der Richterin wenig aussichtsreichen Einspruch gegen den Bußgeldbescheid zurückzunehmen bereit war, wenn er durch die Aussetzung Gelegenheit erhielt, einen für ihn günstigen Zeitpunkt zu bestimmen. Da es zu keinem Einvernehmen kam, wurde mit der Hauptverhandlung begonnen. Bei der Vernehmung zur Sache hörte die Richterin den Betroffenen zunächst zum Tatgeschehen und fragte ihn dann, "ob er den Führerschein während eines Urlaubs abgeben könne und ob er auf den Führerschein angewiesen" sei. Diese Fragestellung versteht der Beschwerdeführer dahin, dass die Richterin ohne Rücksicht auf das Ergebnis der Hauptverhandlung an dem Fahrverbot festhalten wollte.

Keine der genannten Äußerungen waren bei vernünftiger Würdigung aller Umstände geeignet, Misstrauen gegen die Unparteilichkeit der Richterin zu rechtfertigen (§ 24 Abs. 2 StPO). Das vorläufige Urteil eines Richters über die Prozessaussichten begründet in aller Regel nicht die Besorgnis der Befangenheit. Denn ein verständiger Angeklagter (hier: Betroffener) wird davon ausgehen, dass ein Richter aufgrund seiner Stellung, Erziehung und Ausbildung willens und in der Lage ist, beim Auftauchen neuer Gesichtspunkte sein vorläufiges Urteil jederzeit bis zur endgültigen Entscheidung zu überprüfen und abzuändern (vgl. Wendisch in Löwe-​Rosenberg, StPO 25. Aufl., § 24 Rdn. 26, 28 m.N.). Diese allgemein anerkannten Grundsätze gelten allerdings nur, sofern nicht besondere Umstände hinzukommen, die an der Unvoreingenommenheit des Richters Zweifel aufkommen lassen. Für derartige Umstände bieten aber die Äußerungen in dem informatorischen Gespräch nicht den geringsten Anhaltspunkt, zumal die Richterin, wie aus ihrer dienstlichen Erklärung hervorgeht, bei den Erörterungen ausdrücklich betont hat, der Ausgang des Verfahrens hänge von dem Ergebnis der Hauptverhandlung ab.

Was die Befragung des Betroffenen in der Hauptverhandlung anbelangt, ist für den Senat schon nicht nachvollziehbar, dass der Beschwerdeführer diesen Vorgang als erneuten Versuch der Richterin verstanden wissen will, den Betroffenen ohne Rücksicht auf das Ergebnis der Hauptverhandlung zur Einspruchsrücknahme zu veranlassen. Da dem Betroffenen im Bußgeldbescheid eine Geschwindigkeitsüberschreitung zur Last gelegt worden war, für die der Bußgeldkatalog ein Regelfahrverbot vorsieht, war es durchaus sachgerecht, im Rahmen der Anhörung des Betroffenen zur Sache auch die beruflichen und wirtschaftlichen Folgen einer solchen Maßregelanordnung zu klären; denn das Gericht muss u. a. prüfen, ob sie den Betroffenen außergewöhnlich hart treffen würde. Nichts anderes hat die Richterin mit den von dem Beschwerdeführer beanstandeten Fragen, inwieweit er - insbesondere im Urlaub - auf die Fahrberechtigung angewiesen ist, getan. Anhaltspunkte für eine Befangenheit ergeben sich daraus nicht.

b) Die allgemeine Sachrüge ist offensichtlich unbegründet, soweit sie sich gegen den Schuldspruch und die Bemessung der Geldbuße wendet.

Die mit Einzelausführungen angegriffene Anordnung des Fahrverbots hält sachlich-​rechtlicher Nachprüfung ebenfalls stand. Nach den Feststellungen ist der Tatbestand des § 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BKatV (Nr. 5.3 BKat in Verbindung mit Tabelle 1 a Buchstabe c lfd. Nr. 5.3.3) erfüllt. Dies indiziert das Vorliegen eines groben Verstoßes im Sinne des § 25 Abs. 1 Satz 1 StVG, der zugleich ein derart hohes Maß an Verantwortungslosigkeit im Straßenverkehr offenbart, dass es regelmäßig der Denkzettel- und Besinnungsmaßnahme eines Fahrverbotes bedarf (vgl. BGHSt 38, 125, 134). Das Amtsgericht hat mit Recht angenommen, dass der von ihm festgestellte Sachverhalt keine Besonderheiten aufweist, die trotz des Regelfalles die Verhängung eines Fahrverbotes als unangemessen erscheinen lassen. Die von dem Betroffenen befahrene Straße A. ist eine vielbefahrene innerstädtische Hauptverkehrsstraße, auf der zur Vorfallzeit - einem Freitag kurz vor 20.00 Uhr - mit erheblichem Verkehrsaufkommen gerechnet werden musste. Die Fahrspuren in beiden Richtungen waren durch Bauarbeiten streckenweise erheblich eingeengt, der damit verbundenen Gefahr wurde durch eine Geschwindigkeitsbegrenzung auf 30 km/h entgegengewirkt. Mit seiner diesen Wert um mehr als 100 % überschreitenden Geschwindigkeit war der Betroffene offensichtlich nicht in der Lage, auf plötzlich auftretende Verkehrsereignisse wirkungsvoll zu reagieren. Dem Vorbringen des Betroffenen, er habe keine Geschwindigkeitsbegrenzung gesehen und deshalb eine zulässige Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h angenommen, kommt demgegenüber keine wesentliche Bedeutung. Denn nach den Feststellungen war das betreffende Verkehrszeichen gut sichtbar aufgestellt, und das Amtsgericht hebt auch zutreffend darauf ab, dass in Baustellenbereichen regelmäßig mit Geschwindigkeitsbegrenzungen gerechnet werden muss.

Das Amtsgericht hat geprüft, ob bei dem Betroffenen eine Besinnung auf seine Pflichten als Kraftfahrzeugführer allein durch die Verhängung einer empfindlichen Geldbuße zu erreichen wäre, und diese Frage rechtsfehlerfrei verneint. Die Annahme der Tatrichterin, dass Anhaltspunkte für einen außergewöhnlichen Härtefall fehlen, ist ebenfalls nicht zu beanstanden.

3) Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 46 Abs. 1 OWiG, 473 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 7 StPO.