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OLG Hamm Beschluss vom 07.03.2014 - I-9 U 210/13 - Haftungsabwägung bei Unfall an Grundstücksausfahrt

OLG Hamm v. 07.03.2014: Haftungsabwägung bei Unfall an Grundstücksausfahrt mit einem Überholer


Das OLG Hamm (Beschluss vom 07.03.2014 - I-9 U 210/13) hat entschieden:
Zur Abwägung der beiderseitigen Verursachungsbeiträge des aus einem Grundstück auf die Straße einbiegenden Verkehrsteilnehmers, der unmittelbar danach nach links in eine Straße abbiegen will, und dem ihn überholenden Fahrzeugführer.


Siehe auch Grundstücksausfahrt und Unfälle zwischen Überholer und vorausfahrendem Linksabbieger


Gründe:

I.

Gemäß § 540 Abs.1 ZPO wird auf die tatsächlichen Feststellungen des angefochtenen Urteils Bezug genommen, soweit sich aus dem Nachfolgenden nichts anderes ergibt. Durch das angefochtene Urteil hat das Landgericht nach Einholung eines Unfallrekonstruktionsgutachtens eine Schadensverteilung von 75% zu 25% zu Lasten der Beklagten vorgenommen.

Gegen dieses Urteil richtet sich die Berufung des Klägers, mit der dieser die von dem Landgericht vorgenommene Haftungsverteilung rügt und Ausgleich des ihm entstandenen Schadens zu 100% begehrt.

Der Kläger beantragt,
das angefochtene Urteil teilweise abzuändern, und die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen,
  1. an ihn unter Einschluss der erstinstanzlich zugesprochenen 2.061,12 EUR einen Betrag von 3.664,- EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz aus 1.508,91 EUR seit dem 26.04.2012 und aus 2.155,09 EUR seit Rechtshängigkeit zu zahlen,

  2. ihn von ihm weiter entstandenen anrechnungsfreien vorprozessualen Rechtsanwaltskosten seiner nunmehrigen Prozessbevollmächtigten, der O Rechtsanwälte Q, M, in Höhe von 287,75 EUR freizustellen.
Die Beklagten beantragen,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie verteidigen das angefochtene Urteil mit näheren Ausführungen.

Die Akten 170 Js-​Owi 1211/12 Staatsanwaltschaft Arnsberg lagen vor.


II.

Die Berufung des Klägers hat Erfolg. Dem Kläger steht, gestützt auf §§ 7 Abs. 1, 17 Abs. 2 StVG, 823 Abs. 1 BGB, 115 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 VVG, ein restlicher Schadensersatzanspruch i.H.v. 1.602,88 EUR zu. Der Kläger kann vollen Ersatz des ihm anlässlich des Verkehrsunfalls vom 27.03.2012 entstandenen Schadens verlangen, weil die nach § 17 Abs. 2 StVG vorzunehmende Abwägung der beiderseitigen Verursachungsbeiträge ergibt, dass die Beklagten für die Folgen dieses Unfalls allein haften.

Der Senat hat mit der Terminsverfügung vom 07.01.2014 nach Vorberatung den Parteien seine Einschätzung der Rechtslage wie folgt mitgeteilt:
"Die von dem Landgericht vorgenommene Abwägung der beiderseitigen Verursachungsbeiträge nach § 17 Abs. 2 StVG ist nicht frei von Rechtsfehlern. In diese Abwägung dürfen nur die unstreitigen und bewiesenen unfallursächlichen Verursachungsbeiträge eingestellt werden. Die Ausführungen des Landgerichts lassen besorgen, dass es einen behaupteten Geschwindigkeitsverstoß seitens des Fahrers des klägerischen Fahrzeugs in die Abwägung einbezogen hat, obwohl nach den tatsächlichen Feststellungen des Landgerichts die Beweisaufnahme ein Verschulden seitens des Fahrers des klägerischen Fahrzeugs nicht ergeben hat. In die Abwägung nach § 17 Abs. 2 StVG ist daher auf Seiten des Klägers nur die von dessen Fahrzeug ausgehende Betriebsgefahr einzustellen. Demgegenüber belastet die Beklagten ein erhebliches unfallursächliches Verschulden der Beklagten zu 1) nach § 10 StVO und § 9 Abs. 1 Satz 4 StVO. Dass die Beklagte zu 1) die erhöhten Sorgfaltsanforderungen nach § 10 StVO nicht beachtet hat, hat das Landgericht in Anwendung der Anscheinsbeweisgrundsätze zutreffend bejaht, weil sich der Unfall noch im engen und zeitlichen Zusammenhang mit dem Einfahren in den fließenden Verkehr ereignet hat. Daneben hat die Beklagte zu 1) es unterlassen, sich durch die zweite Rückschau unmittelbar vor Beginn des Abbiegevorgangs über den rückwärtigen Verkehr zu vergewissern. In ihrer schriftlichen Anhörung vom 29.03.2012, Bl. 31 BA, hat die Beklagte zu 1) eingeräumt, sich vor dem Abbiegen nicht durch einen Schulterblick über den rückwärtigen Verkehr vergewissert zu haben.

Angesichts des schwer wiegenden Verschuldens ist es aus Sicht des Senats gerechtfertigt, die vom Fahrzeug des Klägers ausgehende Betriebsgefahr unberücksichtigt zu lassen."
An dieser Bewertung hält der Senat nach Durchführung der mündlichen Verhandlung nach erneuter Beratung fest.

Entgegen der Ansicht der Beklagten fließt auch der schuldhafte Verstoß der Beklagten zu 1) gegen § 10 StVO in die nach § 17 Abs. 2 StVG vorzunehmende Abwägung der beiderseitigen Verursachungsbeiträge ein. Die mit dem Einfahren aus der Grundstückseinfahrt auf die Fahrbahn regelmäßig verbundenen besonderen Gefahren, denen durch die erhöhten Sorgfaltsanforderungen nach § 10 StVO Rechnung zu tragen ist, wirkten über die Beendigung des eigentlichen Einbiegevorgangs durch Wiederaufnahme der Geradeausfahrt weiter fort. Die besondere und anhaltende Gefährlichkeit des Fahrmanövers der Beklagten zu 1) ergibt sich vorliegend daraus, dass die Beklagte zu 1) - obwohl sie den herannahenden Kläger bemerkt hatte - mit entsprechend geringer Geschwindigkeit aus einer Grundstückseinfahrt in die Fahrbahn eingebogen ist, um unmittelbar danach nach links abzubiegen. Der Einbiegevorgang war - den Angaben des Sachverständigen Dipl.-​Ing H in der Anlage 24 seines Gutachtens zufolge - nach etwa 14m Wegstrecke abgeschlossen. Nach einer Wegstrecke von nur 2m leitete die Beklagte zu 1) den Abbiegevorgang nach links ein, der nach weiteren 12m Fahrtstrecke durch die Kollision mit dem Fahrzeug des Klägers endete. Da für den nachfolgenden Verkehr diese Abbiegeabsicht nicht ohne Weiteres zu erkennen ist, und die verlangsamte Fahrweise auch auf eine gemächliche Beschleunigung zwecks Einordnung in den fließenden Verkehr hinweisen kann, hätte die Beklagte zu 1) sich dessen bewusst sein müssen und ihre Einfahrt auf die Fahrbahn zurückstellen bzw. sich besonders darüber vergewissern müssen, dass der nachfolgende Verkehr ihre Linksabbiegeabsicht erkennen würde.

Angesichts dessen kann auch nicht festgestellt werden, dass der Kläger unter Verstoß gegen § 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO bei unklarer Verkehrslage überholt hat. Dass die Beklagte zu 1) ihre Linksabbiegeabsicht entsprechend den Vorgaben des § 9 Abs. 1 StVO rechtzeitig und deutlich angekündigt hat, haben die darlegungs- und beweispflichtigen Beklagten schon nicht substantiiert dargelegt, was angesichts des Fahrmanövers der Beklagten zu 1) auch schwerlich gelingen kann.

Der dem Kläger entstandene Gesamtschaden beträgt nunmehr unstreitig 6.411,84 EUR. Unter Berücksichtigung der vorprozessual geleisteten Zahlung von 2.747,84 EUR und der erstinstanzlich ausgeurteilten 2.061,12 EUR verbleiben noch 1.602,88 EUR. Dieser Betrag ist gem. § 291 BGB ab dem 13.06.2013 mit 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz zu verzinsen.

Hinsichtlich der vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten ist dem von dem Kläger geltend gemachten Freistellungsverlangen in Höhe von insgesamt 287,75 EUR entsprochen worden. Ein darüber hinausgehender Betrag wird mit der Berufung nicht geltend gemacht.

Die Nebenentscheidungen beruhen auf den §§ 92 Abs. 1, 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO.

Gründe, die Revision zuzulassen, bestehen nicht.