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BGH Urteil vom 09.05.1989 - VI ZR 223/88 - Zulassung für neuen Kläger in der Berufungsinstanz

BGH v. 09.05.1989: Zur Zulassung eines neuen Klägers in der Berufungsinstanz


Der BGH (Urteil vom 09.05.1989 - VI ZR 223/88) hat entschieden:
  1. Tritt eine am Berufungsverfahren nicht (mehr) beteiligte Partei mit einem neuen Sachantrag hervor und wird dieser vom Berufungsgericht als unzulässig zurückgewiesen, so beurteilt sich die Zulässigkeit der Revision gegen diese Entscheidung nicht nach ZPO § 547, sondern nach ZPO § 546 ZPO.

  2. Zu der Frage, unter welchen Voraussetzungen im Berufungsrechtszug eines Schadensrentenprozesses das Auftreten eines gleichfalls unterhaltsgeschädigten Familienangehörigen als weiterer Kläger als sachdienlich zuzulassen sein kann.

Siehe auch Klageänderung und Stichwörter zum Thema Zivilprozess


Tatbestand:

Die Erstklägerin ist die Witwe, die an dem jetzigen Revisionsverfahren nicht mehr beteiligten Kläger zu 2) und 3) sind die Kinder des am 15. Mai 1980 infolge eines Verkehrsunfalls verstorbenen Arztes Dr. U.. Unfallbeteiligt war der Erstbeklagte mit einem Kraftfahrzeug des Zweitbeklagten, welches bei der Drittbeklagten haftpflichtversichert war.

Durch rechtskräftig gewordenes Grund- und Teilurteil hat das Landgericht den von den Klägern u.a. geltend gemachten Anspruch auf Zahlung von Schadensrenten dem Grunde nach zu 30% für gerechtfertigt erklärt. Im Betragsverfahren sind die den Klägern von dem Landgericht zugesprochenen Renten von den Beklagten mit der Berufung als zu hoch, von den Klägern im Wege der Anschlussberufung als zu niedrig angegriffen worden. Nach Neubemessung der Renten durch das Berufungsgericht haben die Beklagten Revision wiederum mit dem Ziel einer niedrigeren Bemessung der Renten eingelegt.

Der Senat hat die Revision nicht zur Entscheidung angenommen, soweit sie sich gegen die Erstklägerin richtete. Soweit das Rechtsmittel die Kläger zu 2) und 3) betraf, hat er durch Urteil vom 6. Oktober 1987 (VI ZR 155/86 - VersR 1987, 1243 = FamRZ 1988, 37) das Berufungsurteil aufgehoben und den Rechtsstreit an das Oberlandesgericht zurückverwiesen, da die in dem damaligen Berufungsurteil vorgenommene pauschale Bemessung der Renten der Kläger zu 2) und 3) nach einem bestimmten und gleich hohen Prozentsatz des Einkommens des Getöteten angesichts der Höhe dieses Einkommens und des unterschiedlichen Alters der Kläger zu 2) und 3) der tatrichterlichen Überprüfung auf ihre Vereinbarkeit mit dem tatsächlichen Unterhaltsbedarf der Kläger zu 2) und 3) bedürfe.

In dem neuerlichen Berufungsverfahren haben die Beklagten ihren Berufungsantrag bezüglich der Kläger zu 2) und 3) auf die Sätze der sog. Düsseldorfer Tabelle zuzüglich eines Aufschlags zugeschnitten und sind auf diese Weise zu wesentlich geringeren Schadensrentenbeträgen als in dem früheren Berufungsurteil zugesprochen gelangt. Die Erstklägerin hat geltend gemacht, dass sich bei geringeren Renten für die Kläger zu 2) und 3) die an sie zu zahlende Rente erhöhen müsse. Sie hat daher beantragt,
"die Beklagten zu weiteren Rentenzahlungen an sie zu verurteilen, die sich etwa daraus ergeben, dass den Klägern zu 2) und 3) endgültig geringere Renten zuerkannt werden".
Die Beklagten haben die Zurückweisung dieses Antrags als unzulässig beantragt. Das Berufungsgericht, welches in der Tat zu geringeren Schadensrenten für die Kläger zu 2) und 3) als in dem früheren Berufungsurteil gelangt ist, hat den Antrag der Erstklägerin als unzulässig verworfen. Hiergegen wendet sich die Erstklägerin mit ihrer Revision.


Entscheidungsgründe:

A.

I.

Die Zulässigkeit der Revision der Erstklägerin ist hier nicht nach § 547 ZPO zu beurteilen. Die Entscheidung des Berufungsgerichts stellt sich nicht als Verwerfung einer Berufung als unzulässig im Sinne dieser Vorschrift dar, auch nicht als Verwerfung einer Anschlussberufung, die ebenfalls entsprechend § 547 ZPO anfechtbar wäre (vgl. BGH, Urteil vom 28. April 1980 - VII ZR 27/80 - NJW 1980, 2313, 2314 sowie Beschluss vom 30. Juni 1983 - VII ZR 366/82 - WM 1983, 1090). Der Erstklägerin war sowohl ein Wiederaufgreifen bzw. eine Erweiterung ihrer in dem ersten Berufungsverfahren eingelegten Anschlussberufung als auch eine Anschließung an die Berufung der Beklagten nach der Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht verschlossen. Nachdem sie selbst das frühere Berufungsurteil nicht angefochten hatte und die Revision der Beklagten, soweit sie die Erstklägerin betraf, nicht angenommen worden ist, war sie - wie auch die Revision sieht (Rev.begr. S. 3 oben) - schon an dem (damaligen) Revisionsverfahren nicht mehr beteiligt. Dies gilt in gleicher Weise für das anschließende neue Berufungsverfahren. Damit war in diesem Verfahren für neue Sachanträge der Erstklägerin aus ihrer ursprünglichen Klägerrolle heraus kein Raum mehr. Dass in Bezug (auch) auf sie über die Kosten des Rechtsstreits zu entscheiden blieb, reicht insoweit nicht aus. Da es sich bei der Kostenfrage um einen bloßen Annex zur Hauptsache handelt, kann die Kostenfrage nach rechtskräftiger Entscheidung über die Hauptsache nicht ihrerseits den Weg zu neuen Sachanträgen offenhalten. Hiernach hatte die Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Berufungsgericht nach Lage des Falles allein die an die Kläger zu 2) und 3) zu zahlenden Schadensrenten zum Gegenstand. Das Rechtsverhältnis mit der Erstklägerin war nicht mehr Streitgegenstand. Eine Abänderung der an sie zu zahlenden Schadensrente kam nurmehr unter den Voraussetzungen des § 323 ZPO auf dem Wege einer Abänderungsklage in Betracht.

Allerdings hat der Senat durch Urteil vom 14. Juli 1954 (VI ZR 64/54, LM ZPO § 323 Nr. 4) entschieden, dass der Kläger, der in der Berufungsinstanz mit einem Teil seines Rentenanspruchs rechtskräftig abgewiesen worden (oder geblieben) ist, nach einer auf die Revision des Beklagten erfolgten Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht unter den Voraussetzungen des § 323 ZPO statt durch Erhebung einer Abänderungsklage durch Einlegung der Anschlussberufung seinen Anspruch auf eine erhöhte Rente verfolgen könne. Ähnlich hat der Bundesgerichtshof entschieden, dass auch der Beklagte, der Berufung eingelegt hatte, jedoch zu einem Teil der Rentenleistungen verurteilt geblieben war, nach Zurückverweisung des Rechtsstreits auf die Revision des Klägers unter den nämlichen Voraussetzungen - denen des § 323 ZPO - im Wege der Berufungserweiterung die Herabsetzung der Rente verlangen könne (Urteil vom 3. April 1985 - IVb ZR 18/84 - NJW 1985, 2029). Diese Rechtsprechung ist jedoch auf den Fall zugeschnitten, dass die betreffenden Parteien weiterhin am Berufungsverfahren beteiligt sind. Sowohl Anschlussberufung als auch Berufungserweiterung setzen schon begrifflich voraus, dass zwischen den Parteien ein Berufungsverfahren (noch) anhängig ist. Dementsprechend heißt es in den angeführten BGH-Entscheidungen, dass eine auf die Gründe des § 323 ZPO gestützte Anschlussberufung bzw. Berufungserweiterung "in dem noch anhängigen Verfahren" (Senatsurteil vom 14. Juli 1954 aaO Rücks. 2. Abs.) bzw. "in dem noch laufenden Berufungsverfahren" (Urteil vom 3. April 1985 aaO S. 2030 re. Sp. 1. Abs.) zuzulassen sei. Auch das ist erkennbar auf die noch ausstehende Sachentscheidung gemünzt. Die noch ausstehende Kostenentscheidung könnte eine Anschlussberufung oder eine Berufungserweiterung aus den dargelegten Gründen nicht eröffnen.

II.

Die Zulässigkeit der Revision der Erstklägerin ergibt sich indessen aus §§ 545 Abs. 1, 546 Abs. 1 ZPO. Zugrunde liegt ein von einem Oberlandesgericht erlassenes Endurteil im Sinne des § 545 Abs. 1 ZPO. Im Verhältnis zu der Erstklägerin handelt es sich dabei der Sache nach um die Prozessabweisung einer von ihr in zweiter Instanz erhobenen Abänderungsklage im Sinne von § 323 ZPO. Denn es ging der Erstklägerin um die Anpassung eines in Bezug auf sie rechtskräftig gewordenen, wiederkehrende Leistungen betreffenden Urteils an eine neue Lage. Die Abweisung eines in zweiter Instanz erhobenen Klageanspruchs als unzulässig eröffnet aber die Revision nicht nach § 547 ZPO, sondern nach Maßgabe - und unter den Beschränkungen - des § 546 Abs. 1 ZPO (BGH, Beschluss vom 30. Juni 1983 aaO). Es kommt somit vorliegend darauf an, ob der Wert der Beschwer der Erstklägerin 40.000 DM erreicht. Das ist der Fall. Soweit das Berufungsgericht den Wert der Beschwer der Erstklägerin auf weniger als 40.000 DM festgesetzt hat, war dies zu korrigieren. Der Senat hat den auf die Revision der Erstklägerin entfallenden Streitwert auf 94.582 DM festgesetzt; damit liegt die Beschwer über 40.000 DM.


B.

I.

Das Berufungsgericht hat sich auf den Standpunkt gestellt, dass der wiedergegebene Antrag der Erstklägerin - auch - als Abänderungsklage mangels erstinstanzlicher Zuständigkeit des Oberlandesgerichts nicht zulässig sei.

II.

Dem vermag der Senat nach Lage des Falles nicht beizutreten.

1. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes kann das Auftreten einer weiteren Partei als Kläger unter den für eine Klageänderung geltenden Voraussetzungen des § 263 ZPO auch noch in der Berufungsinstanz zulässig sein (BGHZ 65, 264, 267f. (der dort genannte § 264 ZPO ist heute § 263 ZPO); s. weiter BGHZ 16, 317, 321). Hiernach ist vorliegend das mit dem wiedergegebenen Antrag der Erstklägerin verfolgte Abänderungsbegehren zulässig. Freilich liegt eine Einwilligung des Gegners, wie sie § 263 ZPO in seiner 1. Alternative voraussetzt, nicht vor. Die Beklagten haben beantragt, den Antrag der Erstklägerin als unzulässig zurückzuweisen, und damit zu erkennen gegeben, dass sie mit einer Sachprüfung nicht einverstanden sind. Indessen ist das Abänderungsbegehren der Erstklägerin im Sinne der 2. Alternative des § 263 ZPO als sachdienlich zuzulassen. Da das Berufungsgericht die Frage der Sachdienlichkeit nicht geprüft hat, unterliegt sie der Beurteilung durch den Senat (s. BGH, Urteil vom 5. Oktober 1988 - IVb ZR 52/87 - BGHR ZPO § 263 "Sachdienlichkeit 1").

Allerdings ist gegenüber dem Hervortreten neuer Parteien in der Berufungsinstanz Zurückhaltung angebracht (vgl. - zur Parteiänderung auf der Beklagtenseite - BGHZ 21, 285, 289 sowie 91, 132, 134; BGH Urteil vom 10. November 1980 - II ZR 96/80 - LM ZPO § 303 Nr. 10). Für die hier zugrundeliegende besondere Situation erscheint jedoch die Zulassung des Abänderungsbegehrens der - sei es auch formal zwischenzeitlich aus dem Prozessrechtsverhältnis ausgeschiedenen - Erstklägerin aus folgenden Gründen gerechtfertigt: Zwischen den Schadensrentenansprüchen der Kläger zu 2) und 3) einerseits und der Erstklägerin andererseits bestehen offensichtlich Wechselbeziehungen; fallen die Schadensrenten der Kläger zu 2) und 3) geringer aus, steht aus dem verteilungsfähigen Einkommen des bei dem Unfall ums Leben gekommenen Ehemannes und Vaters umso mehr für die Schadensrente der Erstklägerin zur Verfügung. Die für die Schadensrentenbemessung maßgeblichen Verhältnisse stehen - jedenfalls im wesentlichen - fest. Weiter war die Erstklägerin an dem Rechtsstreit in seiner gesamten den Prozessstoff aufbereitenden Phase beteiligt. Sie tritt den anderen Prozessbeteiligten daher unbeschadet ihres zwischenzeitlichen Ausscheidens aus dem Prozess nicht gleichsam "als Fremde" gegenüber. Letztlich müsste es auch nach dem Gesamtverlauf des Rechtsstreits, der zu einer Klarstellung der Kriterien für die Bemessung der Schadensrenten der Kläger zu 2) und 3) erst in der Revisionsinstanz geführt hat, als unbillig erscheinen, der Erstklägerin die Möglichkeit vorzuenthalten, die Konsequenzen, die sich aus der anderweitigen Bemessung der an die Kläger zu 2) und 3) zu zahlenden Schadensrenten für die ihr zustehende Schadensrente ergeben, noch in dem laufenden Rechtsstreit prüfen zu lassen. Unter Abwägung alles dessen hält es der Senat für sachdienlich, dass die durch das Abänderungsbegehren der Erstklägerin aufgeworfenen Fragen von dem Berufungsgericht als dem ohnehin mit der Sache befassten Gericht geklärt und erledigt werden und damit ein weiterer Rechtsstreit vermieden wird.

2. Die Abweisung des Antrages der Erstklägerin als unzulässig erweist sich auch nicht aus anderen Gründen als richtig.

a) Die Fassung des Antrages der Erstklägerin widerspricht trotz der darin hergestellten Abhängigkeit der Höhe der Schadensrente von der Höhe der den Klägern zu 2) und 3) zuzubilligenden Schadensrenten nicht dem Bestimmtheitserfordernis des § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO. Der Antrag ist dahin zu verstehen, dass die Erstklägerin die ihr zuzuerkennende Schadensrente in demselben Maße zu erhöhen bittet, in dem die Renten der Kläger zu 2) und 3) hinter den Beträgen des ersten Berufungsurteils zurückbleiben. Mit einem solchen Vorgehen der Erstklägerin, das den Interessen der Kläger zu 2) und 3) nicht schaden konnte, waren die - durch denselben Prozessbevollmächtigten vertretenen - Kläger zu 2) und 3) erkennbar einverstanden. Damit haben sich die Kläger als gleichzeitig unterhaltsgeschädigte Familienangehörige mit einer von ihren eigenen Vorstellungen abweichenden Aufteilung des von ihnen insgesamt in Anspruch genommenen Betrages einverstanden erklärt. Das ist nach den Grundsätzen des Senatsurteils vom 2. Mai 1972 (VI ZR 80/70, NJW 1972, 1716, 1717) zulässig.

b) Die besonderen Zulässigkeitsvoraussetzungen eines Abänderungsbegehrens nach § 323 Abs. 1 ZPO liegen vor. Die Erstklägerin beruft sich darauf, dass verglichen mit der Bemessung der Schadensrenten in dem ersten Berufungsurteil angesichts der erheblich niedrigeren Schadensrenten, die sich nach den von dem Senat in dem (ersten) Revisionsurteil herausgearbeiteten Grundsätzen für die Kläger zu 2) und 3) ergeben mussten, ein deutlich höherer Anteil aus dem verteilungsfähigen Einkommen ihres bei dem Unfall ums Lebens gekommenen Ehemannes für sie zur Verfügung stehe. Damit macht sie - vergleichbar einem Unterhaltsgläubiger, der eine gesteigerte Leistungsfähigkeit des Unterhaltsverpflichteten behauptet - im Sinne des § 323 Abs. 1 ZPO eine wesentliche Änderung der für die Höhe ihrer Schadensrente maßgebenden Verhältnisse geltend.

3. Die die Erstklägerin betreffende Entscheidung des Berufungsgerichts kann nach alledem nicht bestehenbleiben. Vielmehr ist nach Maßgabe des § 323 ZPO eine Sachentscheidung über den von der Klägerin erhobenen Anspruch auf Anpassung ihrer Schadensrente an die geänderten Verhältnisse zu treffen. Diese Entscheidung obliegt, auch angesichts des dem Tatrichter im Rahmen des § 323 ZPO zustehenden Wertungs- und Beurteilungsspielraums, dem Berufungsgericht, an das die Sache daher unter Aufhebung des die Erstklägerin betreffenden Teils des angefochtenen Urteils zurückzuverweisen war.