Das Verkehrslexikon

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Landgericht Paderborn Urteil vom 29.05.2013 - 5 S 13/13 - Verkehrsunfall eines Vorfahrtsberechtigten mit einem Nachzügler im Kreuzungsbereich

LG Paderborn v. 29.05.2013: Zur Haftungsverteilung bei Verkehrsunfall eines Vorfahrtsberechtigten mit einem Nachzügler im Kreuzungsbereich


Das Landgericht Paderborn (Urteil vom 29.05.2013 - 5 S 13/13) hat entschieden:
  1. Wer bei Grünlicht in die Kreuzung eingefahren ist und im Kreuzungsbereich aufgehalten wird, darf die Kreuzung zwar vorrangig räumen und ist zum Räumen ohne Rücksicht auf die Ampelanzeige berechtigt, er darf aber nicht blindlings darauf vertrauen, vorgelassen zu werden, sondern ist verpflichtet, den einsetzenden Gegen- und Querverkehr sorgfältig zu beobachten.

  2. Das Hineinfahren in eine unübersichtliche Kreuzung mit fliegendem Start - also ohne vorheriges Anhalten vor dem Lichtzeichenwechsel - ist nur erlaubt, wenn sich der Einfahrende vorher davon überzeugt hat, dass die Kreuzung von bevorrechtigtem Querverkehr frei ist. Dabei muss er vollen Überblick über die Kreuzung haben und diesen zuverlässig als frei erkennen. Er muss aber nicht mit verbotswidrigem Querverkehr, aber mit Nachzüglern rechnen.

Siehe auch Vorrang des Kreuzungsräumers - Nachzügler und Stichwörter zum Thema Vorfahrt


Gründe:

I.

Von den gem. § 540 Abs. 1 Nr. 1 ZPO zu treffenden Feststellungen zur Tatsachengrundlage wird gem. §§ 540 Abs. 2, 313 a Abs. 1 S. 1 ZPO abgesehen.


II.

Die zulässige, insbesondere form- und fristgerecht eingelegte Berufung des Klägers ist unbegründet, ebenso die Anschlussberufung der Beklagten.

Dem Kläger steht gegen die Beklagten aus dem Verkehrsunfall vom 31.10.2011 aus §§ 7, 18 StVG i.V.m. § 115 VVG neben dem außergerichtlich ausgeglichenen Betrag von 2.857,11 € kein höherer, aber auch kein geringerer Schadensersatzbetrag als der vom Amtsgericht ausgeurteilte i.H.v. 50,00 € zu.

1.) Zu Recht ist das Amtsgericht zu dem Ergebnis gekommen, dass die Haftungsanteile des Klägers und der Beklagten als gleichgewichtig anzusehen sind und dem Kläger in Anspruch auf Erstattung von 50 % seines Schadens zusteht.

Auch nach Auffassung der Kammer ist sowohl für den Kläger als auch für die Beklagten neben der gleich hoch anzusetzenden Betriebsgefahr ein unfallursächliches Verschulden in Form eines Verstoßes gegen das allgemeine Rücksichtnahmegebot aus § 1 Abs. 2 StVO als weiterer Verursachungsanteil zu berücksichtigen, der gleich schwer wiegt.

Die Beklagte zu 1.) hat gegen die ihr gemäß § 1 Abs. 2 StVO obliegende Sorgfaltspflicht verstoßen, indem sie beim Überqueren bzw. Räumen der Kreuzung das klägerische Fahrzeug im Querverkehr nicht hinreichend beachtet hat. Auch wenn sie, nachdem sie in der Kreuzung durch ein Fahrzeug des Gegenverkehrs, das ihr mit einem Linksabbiegevorgang die Vorfahrt genommen hatte, in der Kreuzung aufgehalten worden war, die Kreuzung als Nachzügler bevorrechtigt räumen durfte, so war sie verpflichtet, den einsetzenden Gegen- und Querverkehr zu beachten. Wer bei Grünlicht in die Kreuzung eingefahren ist und im Kreuzungsbereich aufgehalten wird, darf die Kreuzung zwar vorrangig räumen und ist zum Räumen ohne Rücksicht auf die Ampelanzeige berechtigt; er darf aber nicht blindlings darauf vertrauen, vorgelassen zu werden, sondern ist verpflichtet, den einsetzenden Gegen- und Querverkehr sorgfältig zu beobachten (vgl. OLG Düsseldorf, Urt. v. 17.05.1993 – Az.: 1 U 116/92 mwN, zitiert nach juris). Gegen diese Verpflichtung hat die Beklagte zu 1.) in erheblichem Maße verstoßen, indem sie losfuhr, ohne das herannahende klägerische Fahrzeug hinreichend zu beachten.

Der Kläger hat gegen das allgemeine Rücksichtnahmegebot aus §§ 1 Abs. 2, 11 Abs. 3 StVO verstoßen, wonach derjenige, der Vorrang hat, auf sein Recht verzichten muss, wenn es die allgemeine Verkehrslage erfordert, und aus dem folgt, dass das grüne Lichtzeichen den Vorfahrberechtigten nicht von der Verpflichtung befreit, auf der Kreuzung verbliebene Nachzügler des Querverkehrs vorrangig räumen zu lassen. Das Hineinfahren in eine unübersichtliche Kreuzung mit fliegendem Start – also ohne ein vorheriges Anhalten vor dem Lichtzeichenwechsel – ist nur erlaubt, wenn sich der Einfahrende vorher davon überzeugt hat, dass die Kreuzung von bevorrechtigtem Querverkehr frei ist; dabei muss er vollen Überblick über die Kreuzung haben und diesen zuverlässig als frei erkennen. Ist dies nicht der Fall, kann er sich nicht darauf berufen, auf das Nichtvorhandensein von Nachzüglern vertraut zu haben; zwar muss er nicht mit verbotswidrigem Querverkehr rechnen, aber mit Nachzüglern (vgl. OLG Köln, Urt. v. 23.02.2012 – Az.: 7 U 163/11, und OLG Hamm, Urt. v. 25.04.2002 – Az.: 27 U 200/01, beide zitiert nach juris, jew. mwN). Wie das Amtsgericht zutreffend ausgeführt hat, musste der Kläger aufgrund der auf der linken Geradeausfahrspur trotz Grünlicht stehenden Fahrzeuge damit rechnen, dass im Kreuzungsbereich ggfs. eine Behinderung bestand. Es fehlte ihm die Übersicht, um darauf vertrauen zu dürfen, dass die Kreuzung vollständig geräumt war. Der Kläger hätte unter Herabsetzung seiner Geschwindigkeit und mit gesteigerter Sorgfalt in den Kreuzungsbereich einfahren müssen. Der Sachverhalt ist auch nicht deshalb anders zu bewerten, weil der Kläger aus einiger Entfernung auf den durch Grünlicht freigegebenen Kreuzungsbereich zu- und sodann in diesen eingefahren ist. Auch das Einfahren von weiter hinten ist als sog. "fliegender Start" zu qualifizieren. Einen solchen zeichnet aus, dass der Fahrer einen Lichtzeichenwechsel wahrnimmt und auf ihn reagiert, ohne anzuhalten. Für den Fahrenden ist auch aus etwas weiterer Entfernung, ebenso wie dem unmittelbarer vor der Kreuzung in Fahrt auf den Farbwechsel Reagierenden, erkennbar, dass es gerade erst zu einem Farbwechsel gekommen ist und die Kreuzung noch nicht vollständig geräumt sein könnte.

Ausgehend von der sich danach ergebenden Sachlage sind bei der gemäß § 17 StVG vorzunehmenden Abwägung die Betriebsgefahr und die aus dem schuldhaften Verkehrsverstoß des Klägers bzw. der Beklagten zu 1.) resultierenden Haftungsanteile gleich zu gewichten. Beide Verstöße zeichnet ein fehlerhaftes Vertrauen in das eigene Vorrecht und eine unzureichende Berücksichtigung der sich aus der besonderen Situation ergebenden Gefahren aus. Sowohl der Kläger als auch die Beklagte zu 1.) hätten es gleichermaßen in der Hand gehabt, den Zusammenstoß durch ein vorausschauenderes und rücksichtsvolleres Fahrverhalten zu vermeiden.

2.) Zur Höhe des Schadensersatzanspruchs des Klägers ist das Amtsgericht zutreffend davon ausgegangen, dass hinsichtlich der Bewertung zwischen den Parteien einzig streitigen Position des Restwertes nicht von dem von den Beklagten geltend gemachten Betrag von 600,00 €, sondern lediglich von einem Betrag von 500,00 € auszugehen ist. Wie das Amtsgericht zutreffend ausgeführt hat, kann dem Kläger, der das Fahrzeug bereits mit Vertrag vom 15.11.2012 zu dem vom Sachverständigen G ausgewiesenen Restwert auf 500,00 €, veräußert hat, das Angebot der Beklagten vom 11.01.2013 nicht entgegen gehalten werden; am 11.01.2013 war das klägerische Fahrzeug bereits verkauft. Damit ist von einem Gesamtschaden des Klägers i.H.v. 5.814,21 €. 50 % dieses Betrages belaufen sich 2.907,11 €, sodass dem Kläger neben dem bereits vorgerichtlich regulierten Betrag von 2.857,11 € noch ein weiterer Schadensersatzbetrag von 50,00 € zusteht. Darüber hinaus steht dem Kläger der ausgeurteilte Zinsanspruch gemäß §§ 280 Abs. 1, 286 Abs. 1, 288 Abs. 1 BGB zu.


III.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 97, 92 Abs. 2 Nr. 1 ZPO. Die Entscheidung für die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO.