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BGH Urteil vom 16.08.1995 - 2 StR 94/95 - Beweiswürdigung und Bewertung der Einlassung des Angeklagten

BGH v. 16.08.1995: Zur Beweiswürdigung und Bewertung der Einlassung des Angeklagten


Der BGH (Urteil vom 16.08.1995 - 2 StR 94/95) hat entschieden:
An die Bewertung der Einlassung des Angeklagten sind die gleichen Anforderungen zu stellen wie an die Beurteilung sonstiger Beweismittel. Entlastende Angaben des Angeklagten sind insbesondere nicht schon deshalb als unwiderlegbar hinzunehmen, weil es für das Gegenteil keine unmittelbaren Beweise gibt. Vielmehr hat der Tatrichter sich aufgrund einer Gesamtwürdigung des Ergebnisses der Beweisaufnahme seine Überzeugung von der Richtigkeit oder Unrichtigkeit der Einlassung zu bilden. Ein Wechsel der Einlassung des Angeklagten im Laufe des Verfahrens kann ein Indiz für die Unrichtigkeit der Einlassung in der Hauptverhandlung sein und ihre Bedeutung für die Beweiswürdigung verringern oder unter Umständen ganz entfallen lassen.


Siehe auch Stichwörter zum Thema Verkehrsstrafsachen und Die Einlassungen des Angeklagten im Strafverfahren


Gründe:

I.

In der zugelassenen Anklage wird dem Angeklagten zur Last gelegt, einen Menschen grausam getötet zu haben. Die Jugendkammer hat den Angeklagten vom Vorwurf des Mordes freigesprochen und ihn wegen unterlassener Hilfeleistung mit einem Dauerarrest von vier Wochen belegt.

Mit ihrer zu Ungunsten des Angeklagten eingelegten, auf die Sachrüge gestützten Revision bekämpft die Staatsanwaltschaft den Teilfreispruch.

Das Rechtsmittel führt zur Aufhebung des Urteils im ganzen.

Nach den Urteilsfeststellungen stach der Angeklagte am Abend des 28. Januar 1994 mit einem sogenannten Hirschfänger mit einer feststehenden Klinge von mindestens 10 cm Länge 50mal auf das Tatopfer P. ein. Dabei traf ein Stich die rechte Schlüsselbeinarterie, mehrere Stiche eröffneten die linke Brusthöhle unter Verletzung der linken Lunge, ein Stich durchtrennte teilweise den linken Nierenpol. P. war nach der Beibringung der Stiche zwar kampfunfähig, aber nicht handlungsunfähig. Er starb bis zu 30 Minuten später an inneren Verblutungen. Seine Leiche wurde am nächsten Morgen am Ende einer etwa gleichbleibend breiten Spur ca. 10 m vom Weg entfernt im Wald aufgefunden.

Der Angeklagte hat sich in der Hauptverhandlung dahin eingelassen, dass es zwischen ihm und P. in der Zeit vor der Tat zu Spannungen gekommen sei. Beide hätten sich um die Zeugin A. bemüht. P. hätte ihm deshalb mehrfach mit Tätlichkeiten gedroht. Am Tatabend habe er P. zufällig getroffen und mit ihm zusammen in einem Waldstück nach Munition gesucht. Es sei dann zu einer zunächst verbalen Auseinandersetzung gekommen. Schließlich habe P. einen Hirschfänger gezogen und ihn damit angegriffen. Er habe ihm das Messer aus der Hand schlagen können. Als er im Laufe der Auseinandersetzung zu Boden gefallen sei, habe er das Messer zu fassen bekommen, während P. ihm bei dieser Gelegenheit seine mitgeführte Gaspistole aus dem Hosenbund gezogen habe. Er sei dann mit dem Messer in der rechten Hand von P. verfolgt davongelaufen. Als er ins Straucheln geraten sei, habe ihn P. mit der Gaspistole, die mit Gaskartuschen geladen war, in das Gesicht geschossen. Er sei zu Boden gestürzt, habe nichts mehr gesehen und unter Atemnot gelitten. P. habe sich über ihn "hergemacht". Mit der einen Hand habe er ihn im Halsbereich niedergedrückt, mit der anderen Hand habe er ihm die Pistole direkt an den Kopf aufgesetzt gehalten und gebrüllt "Deine Zeit ist abgelaufen, ich bringe Dich um". Er habe gewusst, dass ein aufgesetzter Schuss tödliche Folgen haben konnte. Auch mit dem Ziel der Abwehr des Angriffs habe er in schneller Folge auf P. eingestochen. Als der Druck über ihm nachgelassen habe, sei er unter Mitnahme des Messers und der Pistole davongelaufen, ohne sich weiter um P. zu kümmern.

Die Jugendkammer hat die Einlassung des Angeklagten, der die weiteren Beweisergebnisse nicht widersprächen, als unwiderlegbar angesehen. Zwar liege es erfahrungsgemäß nahe, dass ein 50maliges Zustechen nicht notwendig sei, um einen Angreifer davon abzubringen, mit einer Schreckschusswaffe aus lebensbedrohlicher Nähe zu schießen. Nach dem Zweifelssatz habe die Kammer aber davon ausgehen müssen, dass P. auch noch nach dem 49. Stich in der Lage war, einen aufgesetzten Schuss auf den Angeklagten abzufeuern. Unter Zugrundelegung dieses Sachverhalts hat sie die Tötung P.'s als durch Notwehr gerechtfertigt betrachtet.

Die Revision beanstandet diese Sachbehandlung mit Recht.

Die Jugendkammer hat nicht berücksichtigt, dass an die Bewertung der Einlassung des Angeklagten die gleichen Anforderungen zu stellen sind wie an die Beurteilung sonstiger Beweismittel. Entlastende Angaben des Angeklagten sind insbesondere nicht schon deshalb als unwiderlegbar hinzunehmen, weil es für das Gegenteil keine unmittelbaren Beweise gibt. Vielmehr hat der Tatrichter sich aufgrund einer Gesamtwürdigung des Ergebnisses der Beweisaufnahme seine Überzeugung von der Richtigkeit oder Unrichtigkeit der Einlassung zu bilden (BGHSt 34, 29, 34; BGH, Urt. v. 23. April 1991 - 1 StR 128/91; BGH, Urt. v. 15. Dezember 1993 - 2 StR 578/93; BGH, Urt. v. 2. Dezember 1994 - 2 StR 362/94; Hürxthal in KK 3. Aufl. StPO § 261 Rdn. 28 m.w.N.).

Die Urteilsausführungen lassen eine umfassende Würdigung der Einlassung des Angeklagten vermissen. Den Feststellungen ist schon nicht zu entnehmen, ob sich der Angeklagte in der Hauptverhandlung erstmals auf Notwehr berufen hat. In den Urteilsgründen werden die früheren Einlassungen des Angeklagten nicht mitgeteilt. Dies wäre aber angesichts der besonderen Fallkonstellation, bei der die objektiven Befunde eine Notwehrlage nicht unbedingt naheliegen, aber erforderlich gewesen. Damit ist die Wertung der Kammer, die Einlassung des Angeklagten sei auch nicht durch die zunächst abweichenden Einlassungen zu widerlegen (UA S. 55), für den Senat nicht nachvollziehbar. Ein Wechsel der Einlassung im Laufe des Verfahrens kann ein Indiz für die Unrichtigkeit der Einlassung in der Hauptverhandlung sein und ihre Bedeutung für die Beweiswürdigung verringern oder unter Umständen ganz entfallen lassen.

Die Ausführungen der Jugendkammer lassen aber auch eine ausreichende Auseinandersetzung mit den objektiven Befunden sowohl im einzelnen als auch in der Gesamtheit des Beweisergebnisses vermissen.

So kam dem Spurenbild der Stichverletzungen besondere Bedeutung zu. Die Stiche konzentrierten sich in drei Gruppen in der linken Brust, im Kopf/Nackenbereich und der linken Rumpfrückseite (UA S. 36). Nach den Ausführungen des Sachverständigen, dem die Jugendkammer gefolgt ist, spricht die Konzentration der Stiche - wie auch das Fehlen von Ausrissen bei den Stichverletzungen - dafür, dass sich das Opfer bei der jeweiligen Gruppenbildung in Ruhe und Bewegungsarmut befunden hat (UA S. 36, 52). Dass das Opfer keine Versuche gemacht hat, die Stiche abzuwehren oder ihnen auszuweichen, legt aber einen anderen Geschehensablauf als den vom Angeklagten geschilderten nahe. In diesem Zusammenhang wäre auch der Umstand zu würdigen gewesen, dass P., der von mehreren Zeugen als dominant, ungehemmt und aggressiv geschildert worden war (UA S. 27, 33), während dieser Zeit dem Angeklagten die Waffe aufgesetzt an den Kopf gehalten haben soll, ohne von ihr Gebrauch zu machen.

Nicht gewürdigt worden ist auch der Umstand, dass laut Obduktionsbefund die Leiche P.'s durch scharfe Gewalt verursachte Verletzungen am linken Ringfinger, an den Handgelenken und in der Umgebung der rechten Ellenbeuge sowie an beiden Handrücken aufwies (UA S. 35). Sollte es sich insoweit um Abwehrverletzungen handeln, wäre damit die vom Angeklagten geschilderte andauernde Bedrohungslage kaum in Einklang zu bringen.

Die Jugendkammer hat nicht ausschließen können, dass P. sich trotz der erlittenen 50 Stichverletzungen noch bis an den späteren Auffindeort bewegt hat, etwa indem er in Bauchlage den Hang hinabrobbte oder sich selbst hinabzog. Zu Recht weist die Beschwerdeführerin darauf hin, dass auch insoweit die Beweiswürdigung der Jugendkammer lückenhaft ist. Nicht erörtert hat die Jugendkammer insbesondere den Umstand, dass hinter der Leiche in einer Entfernung von weniger als einem Meter Papiere und Karten lagen (UA S. 15). Dass P. selbst sich dieser Papiere - sollten sie ihm zuzuordnen sein - entledigt hat, erscheint fernliegend, wenn ihm eine solche Handlung nicht bereits physisch unmöglich war.

Auf den vorstehend dargelegten Rechtsmängeln beruht der Freispruch. Es ist nicht auszuschließen, dass die Jugendkammer bei vollständiger und fehlerfreier Beweiswürdigung eine Notwehrlage des Angeklagten nicht oder jedenfalls nicht für das gesamte Tatgeschehen angenommen hätte.