Das Verkehrslexikon

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Landgericht Berlin Beschluss vom 28.05.2014 - 506 Qs 58/14 - Verwertung von Indizien bei unbrauchbarer Blutprobe

LG Berlin v. 28.05.2014: Zur Verwertung von Indizien bei unbrauchbarer Blutprobe


Das Landgericht Berlin (Beschluss vom 28.05.2014 - 506 Qs 58/14) hat entschieden:
Das Fehlen einer beweiskräftigen Blutprobe steht der Annahme einer relativen Fahruntauglichkeit nicht zwangsläufig entgegen. Von einer relativen Fahruntauglichkeit ist auch dann auszugehen, wenn sich diese auf Grund einer Gesamtwürdigung aller sonstigen objektiven und subjektiven Umstände ergibt. Dabei müssen den zugrunde liegenden Indizien und ihrer Gesamtwürdigung eine außergewöhnliche, überdurchschnittliche Überzeugungskraft zukommen.


Siehe auch Alkohol im Verkehrsstrafrecht - Trunkenheitsfahrt - Fahruntüchtigkeit und Blutentnahme / Blutprobe


Gründe:

I.

Nach dem Ergebnis der Ermittlungen soll der Angeklagte am 26. November 2013 gegen 19:00 Uhr in stark alkoholisiertem Zustand als Fahrzeugführer mit dem LKW Daimler-​Benz, amtliches Kennzeichen B-​..., u.a. die Hauptstraße, aus Richtung Schlichtallee kommend, in Richtung Blockdammweg in 10317 Berlin befahren haben.

In Höhe des Grundstücks Hauptstraße ... sei der Angeklagte von der Fahrbahn nach links abgekommen und habe das Schutzgitter einer Straßenbahnhaltestelle auf 33 Metern beschädigt sowie 11 Glasscheiben zerstört. Es entstand ein Fremdschaden in Höhe von etwa 1.000,00 Euro.

Obwohl der Angeklagte den Unfall bemerkt habe, soll er sich vom Unfallort entfernt haben. Er sei in Schlangenlinien mindestens 1 Km bis zur Einmündung Köpenicker Chaussee/Zur alten Flussbadeanstalt gefahren.

Eine Messung des Atemalkohols um 19:20 Uhr mit einem Dräger Alcotest 6810 habe einen Wert von 2,0 ‰ ergeben.

Aufgrund einer Verletzung am linken Bein ist der Angeklagte in das SANA-​Klinikum Lichtenberg gebracht worden. Um die Blutalkoholkonzentration zur Vorbereitung der Behandlung zu bestimmen, hat Dr. J gegen 20:00 Uhr beim Angeklagten eine Blutprobe entnommen. Zur Reinigung habe er ein Desinfektionsmittel mit Alkohol genutzt. Nach Übergabe einer schriftlichen Schweigepflichtentbindungserklärung an Dr. L habe dieser angegeben, dass die Blutalkoholkonzentration 1,96 ‰ betrug.

Mit dem angefochtenen Beschluss vom 14. März 2014 hat das Amtsgericht Tiergarten die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis angeordnet. Auf die Beschwerdebegründung aus den Schriftsätzen vom 01. April 2014, 08. April 2014 und auf die in bezuggenommenen Ausführungen aus dem Schriftsatz vom 19. Februar 2014 wird verwiesen.


II.

1. Die Beschwerde ist zulässig.

Mit dem Antrag auf Erlass des Strafbefehls geht die gerichtliche Zuständigkeit vom Ermittlungsrichter auf den Strafrichter über. Das bedeutet, in Fällen, in denen der Ermittlungsrichter eine Entscheidung nach § 111a StPO getroffen hat, geht auch die Zuständigkeit über die Entscheidung einer hiergegen gerichteten Beschwerde auf den Strafrichter über. Der Strafrichter hat die Beschwerde gegen den Beschluss des Ermittlungsrichters als Antrag auf Aufhebung des angefochtenen § 111a-​Beschlusses zu behandeln und über diesen Antrag zu entscheiden hat (KG Berlin, Beschl. v. 24.06.2009 – 3 Ars 9/09; OLG Celle v. 10.05.2000 – 3 Ars 9.00 in StraFO 2001, S. 134). Dies ist hier jedoch nicht der Fall.

Die Strafrichterin hat am 25. Februar 2014 einen Strafbefehl gegen den Angeklagten erlassen, gegen den er rechtzeitig Einspruch eingelegt hat. Bereits durch die Beantragung des Strafbefehls ging die Zuständigkeit in vollem Umfang auf die Strafrichterin über. Die Strafrichterin hat danach am 14. März 2014 über die vorläufige Entziehung des Führerscheins in ihrer Zuständigkeit entschieden. Hiergegen richtet sich die Beschwerde vom 01. April 2014, welche nicht, wie im Schriftsatz vom 08. April 2014 behauptet, als Antrag auf Aufhebung des angefochtenen § 111a-​Beschlusses zu behandeln ist, sondern als zulässige Beschwerde.

2. Die Beschwerde ist unbegründet.

Gemäß § 111a Abs. 1 StPO sind dringende Gründe für die Annahme vorhanden, dass dem Angeklagten die Erlaubnis zum Führen von Kraftfahrzeugen wegen Ungeeignetheit demnächst durch Urteil entzogen werden wird (§ 69 StGB), weshalb die vorläufige Entziehung geboten ist.

a) Nach summarischer Prüfung ist eine Verurteilung wegen fahrlässiger Gefährdung des Straßenverkehrs gemäß § 315c Abs. 1 Nr. 1a), Abs. 3 StGB weit überwiegend wahrscheinlich. Danach wird bestraft, wer im Straßenverkehr fahrlässig ein Fahrzeug führt, obwohl er infolge des Genusses alkoholischer Getränke nicht in der Lage ist, das Fahrzeug sicher zu führen, und dadurch Leib oder Leben eines anderen Menschen oder fremde Sachen von bedeutendem Wert gefährdet.

Die Fahruntauglichkeit liegt dann vor, wenn die Gesamtleistungsfähigkeit des Fahrzeugführers so weit herabgesetzt ist, dass er sein Fahrzeug eine längere Strecke, und zwar auch bei plötzlichem Auftreten schwieriger Verkehrslagen, nicht mehr sicher zu steuern vermag (BGHSt 13, 83) oder auch, wenn Funktionsstörungen eintreten, die der Fahrer durch Willensanspannung nicht mehr ausgleichen kann (BGHSt 21, 160). Dies wird bei einer Blutalkoholkonzentration ab 1,1‰ unwiderleglich vermutet. Bei einer Blutalkoholkonzentration unter 1,1‰ aber über 0,3‰ bedarf die Feststellung der Fahruntüchtigkeit genauerer Untersuchung. Zur Feststellung dieser relativen Fahruntüchtigkeit sind alle Umstände heranzuziehen, die beweisen können, dass zur Tatzeit Faktoren vorgelegen haben, die in ihrer Gesamtheit die Annahme einer Fahruntüchtigkeit rechtfertigen (Joecks, StGB, 3. Aufl., § 316 Rn. 13). Hierfür sind u.a. so genannte Ausfallerscheinungen heranzuziehen. Beispiele hierfür sind eine sorglose und leichtsinnige Fahrweise, Fahren in Schlangenlinien, Fahrfehler, Unfall, Schwanken oder Stolpern des Fahrers (Joecks, StGB, 3. Aufl., § 316 Rn. 13).

aa) Eine Blutprobe, mit welcher allein der Beweis der Fahruntauglichkeit geführt werden kann, liegt nicht vor. Dem Angeklagten ist im Krankenhaus Blut entnommen worden. Einer Verwertung der Blutprobe steht nicht entgegen, dass der Angeklagte eine Schweigepflichtentbindungserklärung im Krankenhaus nach der Verabreichung von Schmerzmitteln unterschrieben hat. Anknüpfungspunkte dafür, dass beim Angeklagten zu diesem Zeitpunkt Willensmängel aufgrund der Medikation bestanden, liegen nicht vor. Zur Desinfektion wurde jedoch ein alkoholhaltiges Desinfektionsmittel verwendet. Es kann daher nicht ausgeschlossen werden, dass das entnommene Blut mit Spuren des Desinfektionsmittels verunreinigt wurde. Weiterhin sind der Akte keine Angaben zu entnehmen, durch welches Analyseverfahren der Blutalkoholwert bestimmt wurde.

bb) Das Fehlen einer beweiskräftigen Blutprobe steht der Annahme einer relativen Fahruntauglichkeit jedoch nicht zwangsläufig entgegen. Von einer relativen Fahruntauglichkeit ist auch dann auszugehen, wenn sich diese auf Grund einer Gesamtwürdigung aller sonstigen objektiven und subjektiven Umstände ergibt (OLG Düsseldorf, NZV 92, 81; OLG Saarbrücken, NStZ-​RR 00, 12f.). Dabei sind an die einzelnen Beweiszeichen und die Gesamtwürdigung strenge Anforderungen zu stellen. Dies bedeutet, den zugrunde liegenden Indizien und ihrer Gesamtwürdigung muss eine außergewöhnliche, überdurchschnittliche Überzeugungskraft zukommen (vgl. OLG Koblenz, VRS 50, 288, 290).

Nach Auffassung der Kammer liegt ein solcher Ausnahmefall hier vor. Die einzelnen Beweiszeichen und Indizien führen in ihrer Gesamtschau zu einer außergewöhnlichen, überdurchschnittlichen Überzeugungskraft und verdichten sich in ihrer Gesamtwürdigung dahingehend, dass der Angeklagte zumindest relativ fahruntauglich war.

Der Angeklagte lässt sich ein, zumindest zwei Bier getrunken und mithin Alkohol konsumiert zu haben. Die Polizeibeamten POK’in B, POM S, PK’in M und POM R. haben beim Angeklagten im Rahmen der Unfallaufnahme einen starken Alkoholgeruch wahrgenommen. Eine Atemalkoholkontrolle ergab mit 2,0 ‰ einen überaus hohen Wert. Die Kammer verkennt nicht, dass es sich bei einem Drägertestgerät um einen so genannten Vortest handelt. Dieser kann im Strafverfahren zwar keinen hinreichenden Tatverdacht begründen, wohl aber einen Anfangsverdacht. Der Verdacht, dass der Angeklagte zumindest im Zustand der relativen Fahruntauglichkeit ein Kraftfahrzeug gesteuert hat, wird durch ein weiteres Indiz, nämlich die entnommene Blutprobe, welche eine Blutalkoholkonzentration von 1,96 ‰ (etwa eine Stunde nach dem Unfall) ergab, unterstrichen. Hinzutritt, dass der Angeklagte, nach Angaben des Zeugen Seifert, nach dem Unfall langsam in Schlangenlinien gefahren sei.

Zu dem Unfall kam es nach Auffassung der Kammer, weil der Angeklagte aufgrund seiner Alkoholisierung nicht mehr in der Lage war, sein Fahrzeug sicher zu steuern. Auf einer Länge von 33 Metern soll er das Schutzgitter einer Straßenbahnhaltestelle sowie 11 Glasscheiben beschädigt bzw. zerstört haben. Ein fahrtauglicher Fahrer hätte unmittelbar nach einem Anstoß sein Fahrzeug aus dem Schutzgitter gelenkt. Dies wäre auch erfolgreich gewesen, wenn wie behauptet, ein Gegenlenken bereits bei Überfahren des Bordsteins erfolgt wäre. Es ist demnach nicht nachvollziehbar, weshalb der Angeklagte erst nach 33 Metern sein Fahrzeug aus dem Schutzgitter steuern konnte.

Bei überschlägiger Prüfung sind keine Anhaltspunkte dafür erkennbar, dass die genannten Zeugen unzutreffende Angaben gemacht oder den Angeklagten zu Unrecht belastet haben könnten. Unter Berücksichtigung dieser Aussagen besteht weiterhin dringender Tatverdacht nach § 315c StGB (Gefährdung des Straßenverkehrs) gegen den Angeklagten.

Die Einlassung des Angeklagten, dass ein silberner Geländewagen schräg rechts vor ihm die Hauptstraße befuhr und unter gleichzeitigem Blinken auf seine Fahrspur eingelenkt habe, wodurch er zum Ausweichen gezwungen war und es zum Bremsen zu spät gewesen sei, ist eine Schutzbehauptung. Es ist nicht zu erkennen, weshalb es zum Bremsen zu spät gewesen sein soll, wenn sich das Heck des unbekannten silbernen Geländewagens nur noch teilweise neben der Front des vom Angeklagten gesteuerten LKW befand. Es ist auch nicht verständlich, weshalb der Angeklagte nicht wenigstens auch gebremst, sondern sich nur auf ein gefährliches Ausweichen verlassen hat.

b) Eine Verurteilung wegen unerlaubten Entfernens vom Unfallort (§ 142 Abs. 1 Nr. 1 StGB) in Tateinheit mit einer vorsätzlichen Trunkenheit im Verkehr (§ 316 Abs. 1 StGB) ist ebenfalls weit überwiegend wahrscheinlich.

Obwohl der Angeklagte den Unfall bemerkt hatte, hat er den LKW noch bis zur Einmündung Köpenicker Chaussee/Zur alten Flussbadeanstalt gefahren und am rechten Fahrstreifen abgestellt.

Er lässt sich dahingehend ein, dass er sein Fahrzeug trotz seiner behaupteten Besonnenheit nicht stoppen konnte, weil die Funktion des Kupplungspedals nach dem Unfall außer Kraft gesetzt gewesen sei. Es ist indes nicht nachvollziehbar, weshalb der Angeklagte sein Fahrzeug nicht dennoch zum Stillstand bringen konnte. Es hätte näher gelegen, den Fuß vom Gaspedal zu nehmen, um die Kraftstoffversorgung des Motors zu drosseln und gleichzeitig zu bremsen. Der Wagen hätte seine Geschwindigkeit schlagartig verlangsamt, um letztlich zum Stillstand zu kommen.

Dass es sich bei der schriftlichen Einlassung des Angeklagten um Schutzbehauptungen handelt, unterstreicht die spontane Einlassung des Angeklagten gegenüber PK’in ... auf die Frage, ob er den Unfall an der Straßenbahnhaltestelle verursacht habe. Der Angeklagte äußerte sinngemäß: "Ja, ich weiß, ich habe Mist gebaut...".

Im Übrigen gestand der Angeklagte ein, zwei Bier getrunken zu haben. Nach dem Unfall hat er zumindest billigend in Kauf genommen, dass ein gefährliches Ausweichmanöver ohne gleichzeitiges Bremsen bzw. eine verzögerte Reaktion beim Gegenlenken auf Einschränkungen aufgrund des Alkoholkonsums zurückzuführen war. Die Fortsetzung der Fahrt nach dem Unfall ist demnach als vorsätzliche Trunkenheitsfahrt zu bewerten.

c) Aufgrund der außergewöhnlichen und überdurchschnittlichen Überzeugungskraft der einzelnen Tatsachen und nach erfolgter Gesamtwürdigung ist es nach Auffassung der Kammer weit überwiegend wahrscheinlich, dass dem Angeklagten die Berechtigung zum Führen von Kraftfahrzeugen entzogen werden wird.

Das Führen eines KFZ im Zustand alkoholbedingter Fahruntüchtigkeit lässt in der Regel eine bedenkliche Charakterschwäche erkennen, die den Schluss auf die Gefahr weiterer Verkehrsstraftaten rechtfertigt (vgl. LG Potsdam NZV 2001, 360). Besondere Umstände, die sich von den Tatumständen eines Durchschnittsfalles grundlegend abheben, sind vorliegend letztlich nicht erkennbar.

Eine abschließende Würdigung der Beweismittel und Klärung der Schuldfrage kann jedoch nicht in dem hiesigen, nur vorläufigen Verfahren nach § 111a StPO erfolgen, sondern muss einer späteren Hauptverhandlung vorbehalten bleiben.


III.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 473 Abs. 1 StPO.