Das Verkehrslexikon

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VGH München Urteil vom 14.01.2015 - 11 BV 14.1345 - Sehvermögen und Bestandsschutz nach entzogener Fahrerlaubnis

VGH München v. 14.01.2015: Kein Bestandsschutz nach entzogener Fahrerlaubnis bei vermindertem Sehvermögen


Der VGH München (Urteil vom 14.01.2015 - 11 BV 14.1345) hat entschieden:
Nach einer Entziehung der Fahrerlaubnis der Klasse 3 alten Rechts hat der Betreffende, dessen Sehschärfe auf dem schlechteren Auge unter 0,1 liegt, auch dann keinen Anspruch auf Erteilung der Fahrerlaubnis der Klassen C1 und C1E, wenn er auf beiden Augen über ein normales Gesichtsfeld verfügt und das fehlende räumliche Sehvermögen kompensieren kann.


Siehe auch Sehvermögen und Fahrerlaubnis und Krankheiten und Fahrerlaubnis


Tatbestand:

Gegenstand des Rechtsstreits ist die Frage, ob der Kläger trotz seines reduzierten Sehvermögens die Erteilung der Fahrerlaubnis der Klassen C1 und C1E verlangen kann.

Wegen einer Trunkenheitsfahrt entzog das Amtsgericht Schwandorf dem Kläger mit Strafbefehl vom 30. März 2010 die Fahrerlaubnis der Klassen 1 und 3 alten Rechts. Mit Bescheid vom 2. November 2010 erteilte das Landratsamt Schwandorf (im Folgenden: Landratsamt) dem Kläger nach Ablauf der Sperrfrist die Fahrerlaubnis der Klassen A, A1, BE, M, L und S. Die vom Kläger außerdem beantragte Erteilung der Fahrerlaubnis für die Klassen C1 und C1E lehnte das Landratsamt ab, da beim Kläger nach dem Ergebnis einer augenärztlichen Untersuchung vom 16. Juni 2010 Einäugigkeit vorliege und er somit die für diese Klassen erforderlichen Mindestanforderungen an das Sehvermögen nicht erfülle.

Nach Zurückweisung des hiergegen erhobenen Widerspruchs durch Widerspruchsbescheid der Regierung der Oberpfalz vom 16. März 2011 ließ der Kläger beim Verwaltungsgericht Regensburg Klage erheben und beantragen, den Beklagten zur Erteilung der Fahrerlaubnis der Klassen C1 und C1E zu verpflichten. Mit Urteil vom 20. Juni 2011 hat das Verwaltungsgericht die Klage abgewiesen. Für die Fahreignung und somit auch für die Anforderungen an das Sehvermögen seien die im Zeitpunkt der Neuerteilung geltenden Vorschriften maßgeblich. Der Kläger verfüge auf seinem schlechteren rechten Auge nicht über die erforderliche Mindestsehschärfe. Auf die Regelung für Inhaber einer bis zum 31. Dezember 1998 erteilten Fahrerlaubnis, die sich mit geringeren Anforderungen an das Sehvermögen begnüge, könne er sich nicht berufen. Ein etwaiger Bestandsschutz sei mit der rechtmäßigen Entziehung der Fahrerlaubnis entfallen.

Mit der vom Verwaltungsgericht zugelassenen Berufung verfolgt der Kläger sein Begehren weiter. Zur Begründung lässt er vortragen, seine Eignung zum Führen von Fahrzeugen der Klassen C1 und C1E sei nach Nr. 2.2.3 der Anlage 6 zur Fahrerlaubnis-Verordnung in der bis 30. Juni 2011 geltenden Fassung zu beurteilen. Inhaber einer Fahrerlaubnis im Sinne dieser Regelung sei auch derjenige, der sich – wie der Kläger – nach vorangegangener Entziehung innerhalb von zwei Jahren um erneute Erteilung bewerbe. Der Verordnungsgeber habe Bestandsschutz für eine nur kurzfristige Entziehung der Fahrerlaubnis gewähren wollen. Eine Ungleichbehandlung des Klägers gegenüber anderen Altfällen mit vergleichbarer Beeinträchtigung des Sehvermögens sei nicht gerechtfertigt. Auch europarechtlich sei es geboten, für die Erteilung der Fahrerlaubnis auf die für Altfälle geltenden Voraussetzungen abzustellen.

Der Kläger beantragt,
den Beklagten unter Aufhebung des Urteils des Verwaltungsgerichts Regensburg vom 20. Juni 2011, des Bescheids des Landratsamts Schwandorf vom 2. November 2010 und des Widerspruchsbescheids der Regierung der Oberpfalz vom 16. März 2011 zu verpflichten, ihm die Fahrerlaubnis für die Klassen C1 und C1E zu erteilen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Der Entscheidung im Berufungsverfahren sei die Anlage 6 zur Fahrerlaubnis-Verordnung in der im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung geltenden Fassung zugrunde zu legen. Die dort festgelegten Anforderungen an das Sehvermögen für die Fahrerlaubnisklassen C1 und C1E erfülle der Kläger aufgrund seiner unter 0,1 liegenden Sehschärfe auf dem schlechteren Auge nicht. Die Sonderregelung in Nr. 2.2.3 der Anlage 6 betreffe nur Inhaber einer bis zum 31. Dezember 1998 erteilten Fahrerlaubnis und nicht Bewerber um eine neue Fahrerlaubnis. Die Regelung stehe auch mit höherrangigem Recht, insbesondere Gemeinschaftsrecht, in Einklang. Der europäische Normgeber habe bei seiner typisierenden Betrachtung berücksichtigen können, dass von größeren Fahrzeugen aufgrund ihrer allgemein schwereren Bedienbarkeit und den möglichen Unfallfolgen ein höheres Betriebsrisiko ausgehe als von kleineren Fahrzeugen. Die Betriebsgefahr stelle einen sachlichen Differenzierungsgrund für die unterschiedlichen Anforderungen an das Sehvermögen dar.

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch Einholung zweier Sachverständigengutachten Beweis hinsichtlich des Sehvermögens des Klägers und etwaiger Kompensationsmöglichkeiten erhoben. Auf die Gutachten vom 6. Februar 2012 und vom 16. April 2012, die ergänzende Stellungnahme vom 13. Juni 2012 und die Sitzungsniederschrift vom 3. Juli 2012 wird Bezug genommen.

Des Weiteren hat der Verwaltungsgerichtshof dem Europäischen Gerichtshof mit Beschluss vom 5. Juli 2012 die Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt, ob Nr. 6.4 des Anhangs III der Richtlinie 2006/126/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Dezember 2006 über den Führerschein (ABl L 403 S. 18) in der Fassung der Richtlinie 2009/113/EG der Kommission vom 25. August 2009 (ABl L 223 S. 31) insoweit mit Art. 20, Art. 21 Abs. 1 und Art. 26 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union vereinbar ist, als diese Vorschrift – ohne die Möglichkeit einer Ausnahme vorzusehen – von Bewerbern um eine Fahrerlaubnis der Klassen C1 und C1E auch dann eine Mindestsehschärfe von 0,1 auf dem schlechteren Auge verlangt, wenn diese Personen beidäugig sehen und auf beiden Augen über ein normales Gesichtsfeld verfügen. Auf die hierzu ergangene Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 22. Mai 2014 (C-356/12) wird verwiesen.

Ergänzend wird auf die vorgelegten Unterlagen des Beklagten und die Gerichtsakten beider Instanzen Bezug genommen.


Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung, über die der Senat im Einverständnis der Verfahrensbeteiligten ohne weitere mündliche Verhandlung entscheiden konnte (§ 101 Abs. 2, § 125 Abs. 1 Satz 1 VwGO), hat in der Sache keinen Erfolg. Der Kläger erfüllt nicht die Anforderungen der Verordnung über die Zulassung von Personen zum Straßenverkehr (Fahrerlaubnis-Verordnung – FeV) vom 18. Dezember 2010 (BGBl I S. 1980), zuletzt geändert durch Verordnung vom 16. Dezember 2014 (BGBl I S. 2213), an das Sehvermögen für die begehrte Erteilung der Fahrerlaubnis der Klassen C1 und C1E.

1. Bei einer Verpflichtungsklage, mit der ein Anspruch auf (Wieder-)Erteilung einer Fahrerlaubnis verfolgt wird, ist die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung bzw. im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung maßgeblich (st. Rspr., vgl. nur BVerwG, U.v. 12.7.2001 – 3 C 14.01 – BayVBl 2002, 24; BayVGH, U.v. 7.5.2001 – 11 B 99.2527 – BayVBl 2002, 116). Die Frage, ob dem Kläger ein Rechtsanspruch auf Erteilung der Fahrerlaubnis für die Klassen C1 und C1E zusteht, ist somit nach der Fahrerlaubnis-Verordnung in ihrer im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung geltenden Fassung zu beurteilen.

Für die Neuerteilung einer Fahrerlaubnis nach vorangegangener Entziehung oder nach vorangegangenem Verzicht gelten die Vorschriften für die Ersterteilung (§ 20 Abs. 1 Satz 1 FeV). Zwar wird Personen, denen eine Fahrerlaubnis bis zum Ablauf des 18. Januar 2013 entzogen worden ist oder die bis zu diesem Stichtag einen Verzicht auf ihre Fahrerlaubnis erklärt haben, die Fahrerlaubnis grundsätzlich im Umfang der Anlage 3 zur Fahrerlaubnis-Verordnung erteilt (§ 76 Nr. 11a Satz 1 FeV). Dies steht jedoch unter dem Vorbehalt des § 76 Nr. 9 FeV, der lediglich bei Inhabern einer Fahrerlaubnis der Klasse 3 alten Rechts oder einer ihr entsprechenden Fahrerlaubnis, die bis zum 31. Dezember 1998 erteilt worden ist, im dort festgelegten Umfang zur Wahrung des Bestandsschutzes Abweichungen von den Anforderungen an das Sehvermögen vorsieht. § 76 Nr. 9 FeV ist vorliegend jedoch nicht anwendbar, da diese Norm Umstellungen bestehender Fahrerlaubnisse und hiervon erfasster Fahrerlaubnisklassen betrifft (Haus in NK-GVR, 1. Auflage 2014, § 20 FeV Rn. 73). Da der Kläger aufgrund der Entziehung seiner Fahrerlaubnis mit Strafbefehl vom 30. März 2010 nicht (mehr) „Inhaber“ einer Fahrerlaubnis der Klasse 3 alten Rechts ist, die auch Fahrzeuge bis zu einem zulässigen Gesamtgewicht von 7,5 t umfasst hat, gelten für ihn die in § 12 Abs. 6 FeV und Anlage 6 Nr. 2 festgelegten Anforderungen an das Sehvermögen für die Erteilung der Fahrerlaubnis der Gruppe 2 (Klassen C, C1, CE, C1E, D, D1, DE, D1E und der Fahrerlaubnis zur Fahrgastbeförderung).

Dem Kläger kommt auch nicht die Sonderregelung in Nr. 2.2.3 der Anlage 6 zur Fahrerlaubnis-Verordnung für Inhaber einer bis zum 31. Dezember 1998 erteilten Fahrerlaubnis zugute. Da seine Fahrerlaubnis mit der Entziehung erloschen ist, ist ein Bestandsschutz hieran entfallen (vgl. BVerwG, U.v. 24.9.2002 – 3 C 18.02 – NJW 2003, 530; Haus in NK-GVR, § 20 FeV Rn. 70). Dies gilt auch hinsichtlich der mit den unionsrechtlich festgelegten Anforderungen an das Sehvermögen nicht in Einklang stehenden und inzwischen aufgehobenen Regelung in der Unternummer 2.1.4.4 zur Nr. 2.2.3 der Anlage 6 in der Fassung der Verordnung vom 18. Juli 2008 (BGBl I S. 1338), wonach nicht nur bei Inhabern, sondern auch bei Bewerbern um eine neue Fahrerlaubnis nach vorangegangener Entziehung mit einer Sehschärfe von weniger als 0,2 auf einem Auge eine zentrale Tagessehschärfe von 0,6 ausreichen sollte, wenn seit der Entziehung, der vorläufigen Entziehung oder der Beschlagnahme des Führerscheins oder einer sonstigen Maßnahme nach § 94 der Strafprozessordnung nicht mehr als zwei Jahre verstrichen sind und feststeht, dass das Wahrnehmungsvermögen des Betroffenen trotz verminderten Sehvermögens zum sicheren Führen eines Kraftfahrzeugs der Klasse/Art noch ausreicht.

2. Nach § 12 Abs. 6 FeV haben sich Bewerber um die Erteilung oder Verlängerung einer Fahrerlaubnis der Klassen C, C1, CE, C1E, D, D1, DE oder D1E einer Untersuchung des Sehvermögens nach Anlage 6 Nummer 2 zu unterziehen und hierüber der Fahrerlaubnisbehörde eine Bescheinigung des Arztes nach Anlage 6 Nr. 2.1 oder ein Zeugnis des Augenarztes nach Anlage 6 Nr. 2.2 einzureichen. Grundsätzlich verlangt Anlage 6 Nr. 2.2.1 Satz 2 bei Fehlsichtigkeit eine zentrale Tagessehschärfe des schlechteren Auges von 0,5. In Einzelfällen kann unter Berücksichtigung von Fahrerfahrung und Fahrzeugnutzung der Visus des schlechteren Auges für die Klassen C, CE, C1, C1E unter 0,5 liegen. Ein Wert von 0,1 darf jedoch nicht unterschritten werden (Anlage 6 Nr. 2.2.1 Satz 5).

Die Beweisaufnahme hat ergeben, dass die zentrale Tagessehschärfe des schlechteren (rechten) Auges des Klägers aufgrund der seit Geburt bestehenden Amblyopie unterhalb des Mindestwerts von 0,1 liegt. Dies hat die Gutachterin PD Dr. O... in der mündlichen Verhandlung am 3. Juli 2012 ausdrücklich bestätigt. Zwar verfügt der Kläger, wie beide Gutachter ausgeführt haben, auf dem schlechteren Auge über ein normales peripheres Gesichtsfeld bis ca. 90° und kann daher mit diesem Auge vergleichbar mit einem Normalsichtigen und anders als eine auf einem Auge vollständig erblindete Person im Randbereich des Gesichtsfelds Objekte wahrnehmen. Auch ist den Sachverständigen zufolge davon auszugehen, dass der Kläger, bei dem keine Doppelbilder auftreten, das fehlende räumliche Sehen durch entsprechende Verhaltensmuster (z.B. Kopfdrehungen und Blickwendungen) kompensieren und sich hierdurch auf entsprechende Situationen im Straßenverkehr einstellen kann. Dieser Prozess läuft unbewusst und unabhängig vom Willen des Klägers ab. Ungeachtet dieses Befunds liegen bei ihm jedoch allein wegen der unter 0,1 liegenden zentralen Tagessehschärfe auf dem rechten Auge die Voraussetzungen der Anlage 6 Nr. 2.2.1 für die Erteilung der Fahrerlaubnis der Klassen C1 und C1E nicht vor.

3. Trotz der von den Sachverständigen im Rahmen der Beweisaufnahme geäußerten Auffassung, dass auch Personen mit einer zentralen Tagessehschärfe unterhalb von 0,1 auf dem schlechteren Auge bei normalem Gesichtsfeld in der Lage sein können, Fahrzeuge der Gruppe 2 im Sinne der Anlage 6 zur Fahrerlaubnis-Verordnung (Klassen C, C1, CE, C1E, D, D1, DE, D1E und der Fahrerlaubnis zur Fahrgastbeförderung) ausreichend sicher zu führen, weil dem Gesichtsfeld für die Fahreignung größere Bedeutung zukomme als der zentralen Sehschärfe, ist der auf Anhang III Nr. 6.4 der Richtlinie 2006/126/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Dezember 2006 über den Führerschein (ABl L 403 S. 18) in der Fassung der Richtlinie 2009/113/EG der Kommission vom 25. August 2009 (ABl L 223 S. 31) beruhende Ausschluss von Bewerbern mit einer geringeren Sehschärfe als 0,1 auf dem schlechteren Auge mit höherrangigem Recht, insbesondere mit Art. 20 (Gleichbehandlung), Art. 21 Abs. 1 (Verbot der Diskriminierung wegen einer Behinderung) und Art. 26 (Anspruch behinderter Menschen auf Gewährleistung ihrer beruflichen Eingliederung) der Charta der Grundrechte der Europäischen Union vereinbar (EuGH, U.v. 22.5.2014 – C-356/12 – VR 2014, 284). Der gegenüber Fahrern der Gruppe 1 (Fahrerlaubnis-Klassen A, A1, A2, B, BE, AM, L und T) strengere Wert ist vor allem der größeren Verantwortung eines Fahrers der Gruppe 2 geschuldet, der in der Lage sein sollte, das Fahrzeug bei einem Ausfall des besseren Auges während der Fahrt am Straßenrand anzuhalten (vgl. hierzu die Studie ‚New standards for the visual functions of drivers‘ der im März 2004 im Vorfeld des Erlasses der Führerschein-Richtlinie einberufenen ‚Eyesight Working Group‘ [Arbeitsgruppe Sehvermögen], S. 23, und die hierzu im Berufungsverfahren auszugsweise gefertigte Übersetzung: „Man kann argumentieren, dass das Führen eines Fahrzeugs eine binokulare Tätigkeit ist und daher keine Anforderungen hinsichtlich der monokularen Sehschärfe formuliert werden sollten. Andererseits aber gibt es auch das Argument, dass angesichts der größeren Verantwortung eines Fahrers der Gruppe 2 ein weiteres Auge vorhanden sein sollte. Selbst wenn ein zweites Auge benötigt wird, kann man davon ausgehen, dass ein Fahrer mit einer Sehschärfe von 0,1 bei diesem zweiten Auge in der Lage sein sollte, den Lastkraftwagen oder Bus am Straßenrand anzuhalten. … Wir empfehlen, die Anforderung hinsichtlich der Sehschärfe beim zweiten Auge von 0,5 auf 0,1 zu ändern.“).

Zwar hat die Beweisaufnahme des Senats ergeben, dass zum einen Personen, deren Sehschärfe auf dem schlechteren Auge unter 0,1 liegt, die jedoch über ein normales Gesichtsfeld verfügen, nach Ansicht der Sachverständigen in der Lage sind, ein Fahrzeug noch anzuhalten, und zum anderen Situationen, in denen ein Mensch während einer Fahrt das Sehvermögen auf einem Auge plötzlich verliert, so dass er auf ein auf dem anderen Auge bestehendes Mindestsehvermögen angewiesen ist, um das Fahrzeug noch sicher an den Straßenrand steuern und es dort zum Stillstand bringen zu können, extrem selten sind. Der Unionsgesetzgeber verfügt jedoch über ein weites Ermessen im Hinblick auf komplexe Fragen medizinischer Art wie derjenigen, welche Sehschärfe für das Führen von Kraftfahrzeugen erforderlich ist. Er darf hierbei Erwägungen zur Verbesserung der Verkehrssicherheit den Vorzug einräumen. Der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs über das Vorabentscheidungsersuchen des Senats zufolge hat der Unionsgesetzgeber die Grenzen seines Ermessens bei der Festlegung der Mindestsehschärfe in der Führerschein-Richtlinie nicht dadurch überschritten, indem er die Erteilung einer Fahrerlaubnis an Fahrzeugführer der Gruppe 1 „in Ausnahmefällen“ auch bei Unterschreitung der festgelegten Mindestanforderungen an das Sehvermögen ermöglicht habe, wenn der Fahrzeugführer sich einer Einzelprüfung seiner Tauglichkeit zum Führen eines Kraftfahrzeugs unterziehe, diese Möglichkeit den Fahrzeugführern der Gruppe 2 aber versagt bleibe. Die Merkmale der Fahrzeuge der Gruppen 1 und 2 (Größe, Gewicht und Manövrierfähigkeit) würden unterschiedliche Voraussetzungen für die Erteilung der Fahrerlaubnis rechtfertigen, soweit sie das Führen dieser Fahrzeuge beträfen (EuGH, U.v. 22.5.2014 – C-356/12 – VR 2014, 284).

4. Dem Kläger kann die Fahrerlaubnis für die Klassen C1 und C1E auch nicht im Wege einer Ausnahme gemäß § 74 Abs. 1 FeV erteilt werden. § 74 Abs. 1 Nr. 1 FeV ermöglicht ein Abweichen von geltendem Recht nur „in bestimmten Einzelfällen“ bzw. „für bestimmte einzelne Antragsteller“. Nach den Bekundungen des Sachverständigen Prof. Dr. Dr. L... beläuft sich der Anteil der an einer Amblyopie leidenden Kraftfahrer auf ca. 7 % der Bevölkerung. Da diese Personen in aller Regel zudem auch dann über ein normales Gesichtsfeld verfügen, wenn ihre Sehschärfe auf dem schlechteren Auge unter 0,1 liegt, stellt die beim Kläger bestehende Problematik keinen seltenen, atypischen Ausnahmefall, sondern eine in beträchtlicher Zahl vorkommende Beeinträchtigung des Sehvermögens dar. Eine gerichtliche Verpflichtung der öffentlichen Gewalt, diese Problematik durch Ausnahmeentscheidungen nach § 74 Abs. 1 FeV zu bewältigen, scheidet vor diesem Hintergrund schon deshalb aus, weil dem zum einen zwingende Vorgaben des Rechts der Europäischen Union entgegenstehen und hierdurch zum anderen die für solche Fälle in § 12 Abs. 6 FeV i.V.m. Anlage 6 Nr. 2 festgelegten Anforderungen an das Sehvermögen für Fahrzeuge der Fahrerlaubnisklassen C, C1, CE, C1E, D, D1, DE, D1E und der Fahrerlaubnis zur Fahrgastbeförderung unterlaufen würden.

5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.

6. Die Revision war nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO nicht vorliegen.


Beschluss
Der Streitwert des Berufungsverfahrens wird auf 5.000 Euro festgesetzt (§ 47 Abs. 1 Satz 1, § 52 Abs. 2 GKG i.V.m. Nr. 46.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit in der 2013 aktualisierten Fassung).