Das Verkehrslexikon

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OVG Münster Urteil vom 09.12.2014 - 16 A 265/11 - Zur Anerkennung ausländischer Fahrerlaubnisse und zum Wohnsitzerfordernis

OVG Münster v. 09.12.2014: Zur Anerkennung ausländischer Fahrerlaubnisse und zum Wohnsitzerfordernis


Das OVG Münster (Urteil vom 09.12.2014 - 16 A 265/11) hat entschieden:

   In denjenigen Fällen, in denen der Verdacht des sog. Führerscheintourismus besteht, weil der Fahrerlaubniserwerb im Ausland nach einer Entziehung im Inland wegen aufgetretener schwerwiegender Eignungsmängel erfolgte, ein Wiedererwerb der Fahrerlaubnis bei Anlegung der im Inland geltenden Maßstäbe den gutachterlich erbrachten Nachweis einer nachhaltigen Einstellungs- und Verhaltensänderung erfordert und wenig für vertiefte Beziehungen zum Ausstellerstaat spricht, beschränkt sich die Nichtanerkennung einer gleichwohl erteilten ausländischen Fahrerlaubnis für das Inland - abgesehen von den Fällen der Fahrerlaubniserteilung noch während einer laufenden Sperrfrist oder von nachträglichen Aktualisierungen der Fahreignungsbedenken etwa durch neuerliche Zuwiderhandlungen im Straßenverkehr - auf diejenigen Verfahren, in denen die Fahrerlaubnisbehörde den Nachweis führen kann, dass der Betroffene beim Erwerb der ausländischen Fahrerlaubnis in dem Ausstellerstaat keinen Wohnsitz im Sinne von Art. 7 Abs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2006/126/EG unterhalten hat. Der Annahme, dass es nach der im Vergleich zur vorherigen zweiten Führerscheinrichtlinie (Richtlinie 91/439/EWG) geänderten Bestimmung des Art. 11 Abs. 4 Unterabs. 2 der Richtlinie 2006/126/EG nicht mehr darauf ankomme, ob dem Inhaber einer EU-/EWR-Fahrerlaubnis ein Verstoß gegen das Erfordernis eines Wohnsitzes im Ausstellermitgliedstaat nachgewiesen werden kann, hat der Europäische Gerichtshof zwischenzeitlich eine Absage erteilt, indem er festgestellt hat, dass die von ihm zur Richtlinie 91/439/EWG entwickelten Grundsätze auf die Richtlinie 2006/126/EG zu übertragen sind.


Siehe auch
Das Wohnsitzprinzip bei der Erteilung eines EU-Führerscheins
und
Stichwörter zum Thema EU-Führerschein


Tatbestand:


Die 1948 geborene Klägerin war seit 1979 Inhaberin einer Fahrerlaubnis der Klasse 3 (alt). Mit Strafbefehl vom 10. Mai 2002 entzog das Amtsgericht I. ihr die Fahrerlaubnis wegen einer Trunkenheitsfahrt mit Unfallfolge am 4. März 2002 mit einer BAK von 2,29 Promille und verhängte eine Sperrfrist von zehn Monaten für die Neuerteilung. Im nachfolgenden Wiedererteilungsverfahren legte die Klägerin ein medizinischpsychologisches Gutachten der mpu-GmbH in M. vor, das im Hinblick auf die Vermeidung weiterer Trunkenheitsfahrten zu einer positiven Prognose gelangte. Die Gutachter gingen davon aus, dass der Klägerin nach der schon erfolgten Reduzierung ihres Alkoholkonsums auf ein geringes Maß auch ein völliger Alkoholverzicht gelingen werde. Daraufhin erteilte die Beklagte ihr am 14. März 2003 eine Fahrerlaubnis der Klassen B, C1, C1E, BE und A1.

Wegen einer erneuten Trunkenheitsfahrt am 2. September 2008 um 10.35 Uhr mit einer Blutalkoholkonzentration von 1,23 Promille entzog ihr das Amtsgericht I. mit rechtskräftigem Urteil vom 2. Februar 2009 abermals die Fahrerlaubnis und verhängte eine Sperrfrist für die Neuerteilung von sieben Monaten.

Durch Mitteilung des Kraftfahrt-Bundesamtes vom 23. Februar 2010 erfuhr die Beklagte, dass der Klägerin am 27. Januar 2010 eine polnische Fahrerlaubnis der Klasse B erteilt worden ist. Aus dem in Kopie übermittelten polnischen Führerschein geht unter Ziff. 8 eine Wohnanschrift in 69-100 T. , L. 3 N. 67 m.2, hervor.




Nach vorangegangener Anhörung erließ der Oberbürgermeister der Beklagten am 14. April 2010 die angefochtene Ordnungsverfügung, mit der festgestellt worden ist, dass die Klägerin nicht berechtigt sei, mit ihrer polnischen Fahrerlaubnis auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland fahrerlaubnispflichtige Fahrzeuge zu führen, und dass der beschlagnahmte polnische Führerschein einen entsprechenden Sperrvermerk erhalten werde.

Mit der hiergegen am 20. April 2010 erhobenen Klage hat die Klägerin vorgetragen: Die von der Beklagten angewandte Bestimmung des § 28 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 FeV sei nicht mit Unionsrecht vereinbar. Auch die nunmehr geltende Dritte Führerscheinrichtlinie 2006/126/EG stelle den Grundsatz der wechselseitigen Anerkennung von Führerscheinen in den Mittelpunkt. Der Bundesrepublik Deutschland sei es verwehrt, die Anerkennung von Führerscheinen anderer Mitgliedstaaten an diejenigen Bedingungen zu knüpfen, die hierzulande für die Neuerteilung einer Fahrerlaubnis gelten würden. Vielmehr sei die Ausstellung des Führerscheins in Polen als Beweis dafür anzusehen, dass alle Erteilungsvoraussetzungen, d. h. sowohl die Zuständigkeit einer polnischen Behörde als auch die Fahreignung, ausreichend geprüft worden seien. Dem entspreche, dass die Versagungsregelung des Art. 11 Abs. 4 der Richtlinie 2006/126/EG eng auszulegen sei und nur Fälle der Fahrerlaubnisentziehung erfasse, in denen eine etwa zugleich verhängte Sperrfrist noch nicht abgelaufen sei. Insoweit habe sich keine Rechtsänderung im Vergleich zur vormals geltenden 2. Führerscheinrichtlinie 91/439/EWG ergeben, bezüglich derer der Europäische Gerichtshof bereits die Europarechtswidrigkeit entgegenstehender nationaler Regelungen festgestellt habe.

Die Klägerin hat beantragt,

   den Feststellungsbescheid des Oberbürgermeisters der Beklagten vom 14. April 2010 aufzuheben.

Das Verwaltungsgericht hat die Klage entsprechend dem Antrag der Beklagten abgewiesen.

Mit ihrer vom Verwaltungsgericht zugelassenen Berufung trägt die Klägerin noch vor: Die Richtlinie 2006/126/EG über den Führerschein verschärfe die frühere Regelung über die Nichtanerkennung EU-/EWR-ausländischer Fahrerlaubnisse in anderen Mitgliedstaaten nur auf der Rechtsfolgenseite. Hinsichtlich der materiellen Voraussetzungen der Nichtanerkennung seien nach wie vor die Grundsätze maßgeblich, die der Europäische Gerichtshof zur (Zweiten) Richtlinie 91/439/EWG statuiert habe. Diese Auffassung werde mittlerweile von mehreren Oberverwaltungsgerichten geteilt; dem Europäischen Gerichtshof liege dazu ein Vorabentscheidungsersuchen des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vor, so dass die Rechtslage zumindest als offen einzuschätzen sei.

Die Klägerin beantragt,

   das angefochtene Urteil zu ändern und nach ihrem erstinstanzlichen Antrag zu erkennen,

sowie hilfsweise,

   das Verfahren auszusetzen und dem Europäischen Gerichtshof die Frage

   "Ist Art. 11 Abs. 4 der Richtlinie 2006/126/EG in der Art auszulegen, dass ein Mitgliedstaat berechtigt ist, einen von einem anderen Mitgliedstaat ausgestellten Führerschein dauerhaft nicht anzuerkennen, wenn ihm zuvor auf dem Gebiet des erstgenannten Staates die Fahrerlaubnis entzogen worden war, eine verhängte Sperrfrist zur Neuerteilung einer Fahrerlaubnis bei der Ausstellung aber verstrichen ist?"

zur Vorabentscheidung vorzulegen.


Die Beklagte hat beantragt,

   die Berufung zurückzuweisen.

Sie trägt vor, das Verwaltungsgericht habe in der angefochtenen Entscheidung auch die gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben beachtet und zutreffend angewandt.

Der Senat hat die Meldebehörde von T. zu den Aufenthaltsverhältnissen der Klägerin im zeitlichen Zusammenhang mit der dortigen Fahrerlaubniserteilung befragt. Wegen der Antwort wird auf die Verfahrensakte (Bl. 105 und 110) verwiesen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Verfahrensakte sowie auf die beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten Bezug genommen.





Entscheidungsgründe:


Die Berufung der Klägerin ist zulässig und begründet. Ihre Klage gegen die Ordnungsverfügung der Beklagten vom 14. April 2010 hat Erfolg. Die Ordnungsverfügung ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).

Die Feststellung, dass die der Klägerin unter dem Datum vom 27. Januar 2010 erteilte polnische Fahrerlaubnis der Klasse B in der Bundesrepublik Deutschland keine Gültigkeit besitzt, kann nicht auf § 28 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 FeV in der hier maßgeblichen Fassung durch die Dritte Verordnung zur Änderung der Fahrerlaubnis-Verordnung vom 7. Januar 2009 (BGBl. I S. 29) gestützt werden. Diese Vorschrift ist unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs auch seit dem Inkrafttreten der Richtlinie 2006/126/EG nur in Fällen anwendbar, in denen die EU- oder EWR-Fahrerlaubnis - anders als hier - während einer noch laufenden Sperrfrist erteilt worden ist, und verstößt ansonsten gegen den unionsrechtlichen Anerkennungsgrundsatz.

   Vgl. EuGH, Urteil vom 26. April 2012 - C-419/10 (Hofmann) -, Rn. 50 f., 65 und 85, NJW 2012, 1935 = juris.

In denjenigen Fällen, in denen wie vorliegend der Verdacht des sog. Führerscheintourismus besteht, weil der Fahrerlaubniserwerb im Ausland nach einer Entziehung im Inland wegen aufgetretener schwerwiegender Eignungsmängel erfolgte, ein Wiedererwerb der Fahrerlaubnis bei Anlegung der im Inland geltenden Maßstäbe den gutachterlich erbrachten Nachweis einer nachhaltigen Einstellungs- und Verhaltensänderung erfordert und wenig für vertiefte Beziehungen zum Ausstellerstaat spricht, beschränkt sich mithin die Nichtanerkennung einer gleichwohl erteilten ausländischen Fahrerlaubnis für das Inland - abgesehen von den Fällen der Fahrerlaubniserteilung noch während einer laufenden Sperrfrist oder von nachträglichen Aktualisierungen der Fahreignungsbedenken etwa durch neuerliche Zuwiderhandlungen im Straßenverkehr - auf diejenigen Verfahren, in denen die Fahrerlaubnisbehörde den Nachweis führen kann, dass der Betroffene beim Erwerb der ausländischen Fahrerlaubnis in dem Ausstellerstaat keinen Wohnsitz im Sinne von Art. 7 Abs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2006/126/EG unterhalten hat. Demgegenüber beruht das angefochtene Urteil auf der Annahme, dass es nach der im Vergleich zur vorherigen zweiten Führerscheinrichtlinie (Richtlinie 91/439/EWG) geänderten Bestimmung des Art. 11 Abs. 4 Unterabs. 2 der Richtlinie 2006/126/EG nicht mehr darauf ankomme, ob dem Inhaber einer EU-/EWR-Fahrerlaubnis ein Verstoß gegen das Erfordernis eines Wohnsitzes im Ausstellermitgliedstaat nachgewiesen werden kann. Dieser früher auch vom Senat in Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes vertretenen Auffassung hat der Europäische Gerichtshof zwischenzeitlich eine Absage erteilt, indem er festgestellt hat, dass die von ihm zur Richtlinie 91/439/EWG entwickelten Grundsätze auf die Richtlinie 2006/126/EG zu übertragen sind.

   Vgl. EuGH, Urteil vom 26. April 2012 - C-419/10 (Hofmann) -, Rn. 44, 47 und 52 ff., a. a. O.

Die Ordnungsverfügung der Beklagten findet ihre Rechtsgrundlage auch nicht in § 28 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2, Satz 2 FeV. Nach § 28 Abs. 1 Satz 1 FeV dürfen Inhaber einer gültigen EU- oder EWR-Fahrerlaubnis, die ihren ordentlichen Wohnsitz im Sinne des § 7 Abs. 1 oder 2 FeV in der Bundesrepublik Deutschland haben, grundsätzlich im Umfang ihrer Berechtigung Kraftfahrzeuge im Inland führen. Gemäß § 28 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 FeV gilt das aber nicht für solche Inhaber einer EU- oder EWR-Fahrerlaubnis, die ausweislich des Führerscheins oder vom Ausstellungsmitgliedstaat herrührender unbestreitbarer Informationen zum Zeitpunkt der Erteilung ihren ordentlichen Wohnsitz im Inland hatten, es sei denn, sie hätten als Studierende oder Schüler im Sinne des § 7 Abs. 2 FeV die Fahrerlaubnis während eines mindestens sechsmonatigen Aufenthalts erworben, was indessen für die Klägerin nicht zutrifft.


§ 28 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 FeV ist zwar, anders als Nr. 3 der genannten Vorschrift, mit Unionsrecht vereinbar; sie zeichnet sogar die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zur Anerkennungspflicht ausländischer Fahrerlaubnisse nach. Gemäß Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 2006/126/EG werden die von den Mitgliedstaaten ausgestellten Führerscheine (Fahrerlaubnisse) gegenseitig anerkannt. Dabei regelt das Unionsrecht selbst die Mindestvoraussetzungen, die für die Ausstellung eines Führerscheins bzw. die Erteilung einer Fahrerlaubnis erfüllt sein müssen. Unter anderem hängt die Ausstellung des Führerscheins, wie schon oben zu § 28 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 FeV ausgeführt, vom Vorhandensein eines ordentlichen Wohnsitzes oder dem Nachweis eines mindestens sechsmonatigen Studienaufenthalts im Ausstellermitgliedstaat ab (vgl. Art. 7 Abs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2006/126/EG). Als ordentlicher Wohnsitz im Sinne der Richtlinie gilt nach Art. 12 der Ort, an dem ein Führerscheininhaber wegen persönlicher und beruflicher Bindungen oder - im Falle eines Führerscheininhabers ohne berufliche Bindungen - wegen persönlicher Bindungen, die enge Beziehungen zwischen dem Führerscheininhaber und dem Wohnort erkennen lassen, gewöhnlich, das heißt während mindestens 185 Tagen im Kalenderjahr, wohnt.

In der vom Europäischen Gerichtshof zunächst für die Richtlinie 91/439/EWG entwickelten und später auf die Richtlinie 2006/126/EG übertragenen Auslegung des unionsrechtlichen Anerkennungsgrundsatzes sehen sowohl Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie 91/439/EWG als auch Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 2006/126/EG die gegenseitige Anerkennung der von den Mitgliedstaaten ausgestellten Führerscheine ohne jede Formalität vor. Es ist Aufgabe des Ausstellermitgliedstaats zu prüfen, ob die im Unionsrecht aufgestellten Mindestvoraussetzungen, namentlich diejenigen hinsichtlich des Wohnsitzes und der Fahreignung, erfüllt sind. Haben die Behörden eines Mitgliedstaats einen Führerschein ausgestellt, sind die anderen Mitgliedstaaten nicht befugt, die Beachtung der unionsrechtlichen Ausstellungsvoraussetzungen in eigener Kompetenz nachzuprüfen. Der Besitz eines von einem Mitgliedstaat ausgestellten Führerscheins ist als Beweis dafür anzusehen, dass sein Inhaber am Tag der Ausstellung die dafür maßgeblichen Voraussetzungen erfüllt hat. Umgekehrt ist es einem Mitgliedstaat durch Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 2006/126/EG nicht verwehrt, in seinem Hoheitsgebiet die Anerkennung eines in einem anderen Mitgliedstaat ausgestellten Führerscheins abzulehnen, wenn aufgrund von Angaben im Führerschein selbst oder aufgrund anderer vom Ausstellermitgliedstaat herrührender unbestreitbarer Informationen feststeht, dass der Inhaber zum Zeitpunkt der Ausstellung seinen ordentlichen Wohnsitz nicht im Hoheitsgebiet des Ausstellermitgliedstaats hatte.

   Std. Rspr., vgl. EuGH, Urteil vom 26. April 2012 - C-419/10 (Hofmann) -, Rn. 43 bis 51, 65 und 85, a. a. O., mit weiteren Nachweisen betreffend die Auslegung der Richtlinie 91/439/EWG.

Die danach gegebenenfalls erforderliche Prüfung, ob bestimmte Informationen als aus dem Ausstellermitgliedstaat herrührend eingestuft werden können, ist nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs Sache der nationalen Gerichte. Diese müssen die ihnen vorliegenden Informationen bei Bedarf auch dahin bewerten und beurteilen, ob es sich um unbestreitbare Informationen handelt, die beweisen, dass der Inhaber des Führerscheins zu dem Zeitpunkt, als er ihn erhielt, seinen ordentlichen Wohnsitz nicht im Hoheitsgebiet des Ausstellermitgliedstaats hatte. Im Rahmen dieser Beurteilung können die nationalen Gerichte alle Umstände des bei ihnen anhängigen Verfahrens berücksichtigen. Sie können insbesondere Informationen berücksichtigen, die darauf hinweisen, dass sich der Inhaber des Führerscheins im Gebiet des Ausstellermitgliedstaats nur für ganz kurze Zeit aufgehalten und dort einen rein fiktiven Wohnsitz allein zu dem Zweck errichtet hat, der Anwendung der strengeren Bedingungen für die Ausstellung eines Führerscheins im Mitgliedstaat seines tatsächlichen Wohnsitzes zu entgehen.

   Vgl. EuGH, Urteil vom 1. März 2012 - C-467/10 (Akyüz) -, Rn. 73 ff., NJW 2012, 1341 = juris.

Darüber hinaus ist geklärt, dass unionsrechtlich allein eine nach den vorstehend beschriebenen Grundsätzen feststehende Verletzung des Wohnsitzerfordernisses genügt, um die Befugnis des sog. Aufnahmemitgliedstaats zur Nichtanerkennung der EU-/EWR-Fahrerlaubnis auszulösen; die Voraussetzungen von § 28 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 FeV, also die Entziehung der früheren inländischen Fahrerlaubnis oder ein dem vergleichbarer Sachverhalt, müssen nicht noch zusätzlich gegeben sein.

   Vgl. EuGH, Urteile vom 19. Mai 2011 - C-184/10 (Grasser) -, Rn. 32 f., NJW 2011, 3635 = juris, vom 1. März 2012 - C-467/10 (Akyüz) -, Rn. 62 ff., a. a. O., und vom 26. April 2012 - C-419/10 (Hofmann) -, Rn. 48, 65 und 85, a. a. O.; BVerwG, Urteil vom 27. September 2012 - 3 C 34.11 -, BVerwGE 144, 220 = juris, Rn. 12.

Davon ausgehend kann der polnischen Fahrerlaubnis der Klägerin die Anerkennung in der Bundesrepublik Deutschland auch nach § 28 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 FeV nicht versagt werden, denn es liegt auch weiterhin keine Verlautbarung des Ausstellerstaates vor, nach der sich die Klägerin im zeitlichen Zusammenhang mit der Erlangung der Fahrerlaubnis nicht mindestens 185 Tage in der Republik Polen aufgehalten hätte. Vielmehr folgt aus der - wegen verbliebener Zweifel - vom Senat eingeholten Auskunft der für den Ausstellungsort zuständigen Meldebehörde (Stadtamt T. ) vom 31. März 2014, dass die Klägerin vom 18. März 2009 bis zum 17. Juni 2009 unter der Anschrift "69-100 T. , X. Q. 141/6", vom 25. Juni 2009 bis zum 23. September 2009 und vom 15. Oktober 2009 bis zum 15. Dezember 2009 unter der Anschrift "69-100 T. , X1. K. 12/4" und schließlich vom 15. Dezember 2009 bis zum 14. März 2010 unter der Anschrift "69-100 T. , L. 3 N. 67/2" gemeldet war. Ausgehend vom Ausstellungsdatum der polnischen Fahrerlaubnis, also dem 27. Januar 2010, war die Klägerin seit rund zehn Monaten mit nur relativ kurzzeitigen Unterbrechungen, die sich zusammen auf rund 29 Tage beliefen, in Polen gemeldet. Hinweise darauf, dass die auch aus dem Führerscheindokument hervorgehende Wohnsitznahme der Klägerin in Polen entgegen dem melderechtlichen Befund nicht stattgefunden hat oder wesentlich kürzer bemessen war, sind der genannten Auskunft nicht zu entnehmen. Auch sonstige Nachweise aus dem Ausstellerstaat dahingehend, dass dem gemeldeten und von der dortigen Fahrerlaubnisbehörde zugrundegelegten Aufenthalt kein tatsächlicher Aufenthalt in Polen entsprochen hätte, sind nicht ersichtlich geworden. Ob sich aus in Deutschland gewonnen Erkenntnissen, etwa den hiesigen Meldeunterlagen, ein widersprechendes Ergebnis entnehmen lässt, ist ohne rechtliche Relevanz. Denn es würde sich dabei nicht - wie erforderlich - um Informationen des Ausstellerstaates handeln. Einer Befugnis des sog. Aufnahmemitgliedstaates, in diesem Falle der Bundesrepublik Deutschland, aufgrund eigener Erkenntnisse vom Fehlen eines zeitlich ausreichend bemessenen Wohnsitzes im Ausstellerstaat auszugehen, hat der Europäische Gerichtshof ausdrücklich eine Absage erteilt.

   Vgl. schon zur Rechtslage unter der Geltung der (Zweiten) Führerscheinrichtlinie 91/439/EWG: EuGH, Urteile vom 26. Juni 2008 - C-329/06 und C-343/06 (Wiedemann u.a.) -, Rn. 49 ff., NJW 2008, 2403 = NZV 2008, 641 = Blutalkohol 45 (2008), 225 = juris, und C-334/06 bis C-336/06 (Zerche u.a.), Rn. 46 ff., DAR 2008, 459 = juris; Beschluss vom 9. Juli 2009 - C-445/08 (Wierer) -, NJW 2010, 217 = DAR 2009, 637 = Blutalkohol 46 (2009), 408 = juris. Zur Richtlinie 2006/126/EG vgl. Urteile vom 1. März 2012 - C-467/10 (Akyüz) -, a. a. O., und vom 26. April 2012 - C-419/10 (Hofmann) -, a. a. O.

Aus der Rechtswidrigkeit der Feststellung, dass die Klägerin mit ihrem polnischen Führerschein nicht auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland zum Führen von Kraftfahrzeugen berechtigt ist, folgt auch die Rechtswidrigkeit der Anbringung eines entsprechenden Sperrvermerks auf dem polnischen Führerschein.




Abschließend weist der Senat darauf hin, dass das künftige Bekanntwerden neuer verwertbarer Hinweise auf einen Verstoß gegen das Wohnsitzerfordernis beim Fahrerlaubniserwerb der Klägerin in Polen - also von unbestreitbaren Tatsachen, die aus Verlautbarungen des Ausstellerstaates folgen - von der Beklagten zum Anlass genommen werden dürfte, einen erneuten Feststellungsbescheid gegen die Klägerin zu erlassen. Hinweise auf eine zeitliche Begrenzung der Befugnis, auf neue Erkenntnisse zuzugreifen, gehen insbesondere aus der Rechtsprechung des EuGH nicht hervor. Die Rechtskraft der vorliegenden verwaltungsgerichtlichen Entscheidung bezieht sich allein auf die hier streitbefangene Ordnungsverfügung der Beklagten vom 14. April 2010, nicht aber auf künftige Entscheidungen der Beklagten, die auf dann neuen Tatsachen beruhen. Schließlich wäre in einem solchen Fall - das heißt im Falle des nachträglichen Nachweises, dass der Erwerb der polnischen Fahrerlaubnis doch auf einer arglistigen Täuschung dortiger Stellen beruht hat - auch kein Raum für einen wie auch immer gearteten Vertrauensschutz (arg. § 48 Abs. 2 Satz 3 Nr. 1 und Abs. 4 Satz 2 VwVfG NRW).

Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 2 VwGO, die Entscheidung über ihre vorläufige Vollstreckbarkeit aus § 167 Abs. 2 VwGO i. V. m. den §§ 708 Nr. 10, 711 Satz 1 und 2, 709 Satz 2 ZPO.

Die Revision ist nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO nicht vorliegen.

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