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Landgericht Saarbrücken Urteil vom 13.02.2015 - 13 S 153/14 - Aufsichtspflicht der Eltern eines Rad fahrenden Kindes

LG Saarbrücken v. 13.02.2015: Zur Aufsichtspflicht der Eltern eines Rad fahrenden Kindes


Das Landgericht Saarbrücken (Urteil vom 13.02.2015 - 13 S 153/14) hat entschieden:
Schulpflichtige Kinder dürfen sich grundsätzlich bereits ab dem 6. Lebensjahr allein im Straßenverkehr bewegen, wenn keine speziellen Gefahrenquellen entgegenstehen. Denn zum Erlernen eines selbstständigen und umsichtigen Verhaltens im Straßenverkehr gehört die Möglichkeit, sich ohne ständige direkte Kontrolle und Anleitung im Verkehr zu bewähren. Beherrscht ein Kind das Radfahren in technischer Hinsicht, setzt die Erfüllung der Aufsicht der Eltern dann voraus, dass das Kind über Regeln und Gefahren der Teilnahme am öffentlichen Straßenverkehr mit dem Fahrrad belehrt wurde. Daneben kommt es für die Beurteilung der Frage, ob in der konkreten Verkehrssituation eine Verletzung der Aufsichtspflicht der Eltern dadurch, dass sie nicht präsent waren, darauf an, ob das Kind mit der Wegstrecke vertraut war.


Siehe auch Die Pflicht von Eltern und sonstigen Aufsichtspersonen zur Beaufsichtigung von Kindern und sonstigen Schutzbefohlenen und Unfälle mit minderjährigen Radfahrern


Gründe:

I.

Der Kläger begehrt Schadensersatz aus einem Verkehrsunfall, der sich am 10.07.2013 in ... ereignet hat.

Die Ehefrau des Klägers befuhr mit dessen Pkw die ...-​Straße in Richtung Einmündung der Straße „...“. Der am 21.12.2004 geborene Sohn der Beklagten befuhr mit seinem Fahrrad die Straße „...“ und wollte nach rechts in die ...-​Straße einbiegen. Dabei kam es zur Kollision mit dem klägerischen Fahrzeug.

Der Kläger hat mit seiner Klage einen Unfallschaden in Höhe von 2.179,46 € geltend gemacht. Er hat hierzu vorgetragen, seine Ehefrau sei mit Schrittgeschwindigkeit gefahren, habe den Sohn der Beklagten in der Annäherung gesehen und noch vor der Haltelinie angehalten. Die Beklagten hafteten wegen Aufsichtsverschuldens.

Die Beklagten sind der Klage entgegen getreten. Sie haben vorgetragen, ihr Sohn sei im Radfahren geübt, von ihnen belehrt und mit der Verkehrssituation vertraut gewesen. Er habe schon mehrere Radtouren gemacht, wobei feststellbar gewesen sei, dass er sicher die Verkehrsregeln beherrsche. Auch fahre er regelmäßig allein mit seinem Fahrrad zum wöchentlichen Tischtennistraining.

Das Amtsgericht hat Beweis erhoben und danach der Klage in vollem Umfang stattgegeben. Zur Begründung hat die Erstrichterin, auf deren tatsächliche Feststellungen ergänzend Bezug genommen wird, ausgeführt, die Beklagten hätten den ihnen obliegenden Entlastungsbeweis nach § 832 BGB nicht erbracht. Denn es sei davon auszugehen, dass das Kind über die Gefahren- und Verhaltensregeln im Straßenverkehr nicht hinreichend aufgeklärt und belehrt worden sei. Auch habe das Kind die Gegebenheiten im Unfallbereich nicht hinreichend gekannt. Die Beklagten hätten insbesondere üben und kontrollieren müssen, ob das Kind die Situation „Vorfahrt achten“ beherrscht. Das Verschulden der Beklagten überwiege derart, dass die Betriebsgefahr des klägerischen Fahrzeugs zurücktrete.

Dagegen wenden sich die Beklagten mit ihrer Berufung, mit der sie ihren Antrag auf Klageabweisung weiter verfolgen. Sie rügen die Rechtsanwendung durch das Erstgericht.

Der Kläger verteidigt die angegriffene Entscheidung.


II.

Die zulässige Berufung ist begründet. Das Urteil des Amtsgerichts beruht auf einer Rechtsverletzung und die nach § 529 ZPO zugrunde zu legenden Tatsachen rechtfertigen eine andere Entscheidung (§ 513 Abs. 1 ZPO).

1. Zutreffend ist das Erstgericht allerdings davon ausgegangen, dass die Beklagten als Aufsichtspflichtige grundsätzlich nach § 832 Abs. 1 Satz 1 BGB haften, weil der minderjährige Sohn der Beklagten rechtswidrig das klägerische Fahrzeug beschädigt hat. Dies wird von der Berufung auch nicht in Frage gestellt.

2. Soweit die Erstrichterin im Übrigen festgestellt hat, dass den Beklagten der Entlastungsnachweis nach § 832 Abs. 1 Satz 2 BGB nicht gelungen sei, hält dies einer berufungsgerichtlichen Überprüfung durch die Kammer im Ergebnis nicht stand.

a) Nach § 832 Abs. 1 Satz 2 BGB tritt die Ersatzpflicht des Aufsichtspflichtigen nicht ein, wenn dieser seiner Aufsichtspflicht genügt hat. Die entsprechenden Voraussetzungen hat der Aufsichtspflichtige darzulegen und ggfl. zu beweisen (vgl. stellv. BGH, Urt. v. 01.07.1986 - VI ZR 214/84, VersR 1986, 1210 und v. 24.03.2009 - VI ZR 199/08, VersR 2009, 790).

b) Welchen Umfang die Aufsichtspflicht gegenüber Minderjährigen hat, richtet sich nach Alter, Eigenart und Charakter des Kindes sowie danach, was den Aufsichtspflichtigen in ihren jeweiligen Verhältnissen zugemutet werden kann. Entscheidend ist, was verständige Aufsichtspflichtige nach vernünftigen Anforderungen unternehmen müssen, um die Schädigung Dritter durch ein Kind zu verhindern. Dabei kommt es für die Haftung nach § 832 BGB stets darauf an, ob der Aufsichtspflicht nach den besonderen Gegebenheiten des konkreten Falles genügt worden ist (BGH, st. Rspr.; vgl. zuletzt Urt. v. 15.11.2012 - I ZR 74/12, VersR 2013, 865 m.w.N.). Diese Grundsätze sind durch die Anhebung der Deliktsfähigkeit von Kindern im Straßenverkehr im Jahre 2002 nicht verändert worden (vgl. BGH, Urt. v. 24.03.2009 - VI ZR 51/08, VersR 2009, 788; OLG Koblenz, Schaden-​Praxis 2009, 280; Lang, jurisPR-​VerkR 19/2014 Anm. 2 m.w.N.). Das bedeutet insbesondere, dass die in § 828 Abs. 2 BGB zum Ausdruck gebrachte gesetzgeberische Wertung, die mit der Teilnahme von Kindern unter zehn Jahren am Straßenverkehr verbundenen Schadensrisiken dem haftpflicht- und häufig auch kaskoversicherten Kraftfahrer zuzuweisen, nicht durch eine Ausweitung der Elternhaftung wieder rückgängig gemacht werden darf (vgl. OLG Koblenz, Schaden-​Praxis 2009, 280; Lang, 51. Deutscher Verkehrsgerichtstag, Schriftenreihe, S. 61, 81 f., jew. m.w.N.). Vielmehr ist bei der Beurteilung der Aufsichtspflicht gegenüber Minderjährigen maßgeblich zu berücksichtigen, dass die Eltern nach § 1626 Abs. 2 BGB den gesetzlichen Auftrag haben, ihre Kinder zu verantwortungsbewussten und selbstständig handelnden Erwachsenen zu erziehen, was eine mit zunehmender Reife des Kindes sukzessive größer werdende Gewährung von Freiraum zum „Entdecken von Neuland“ voraussetzt (vgl. BGH, Urt. v. 15.11.2012 aaO; Gebhardt, DAR 2006, 686; Lang, jurisPR-​VerkR 19/2014 Anm. 2; ders., 51. Deutscher Verkehrsgerichtstag 2013, Schriftenreihe, 61, 79, 82, jew. m.w.N.).

Entsprechend dieser Grundsätze dürfen sich schulpflichtige Kinder grundsätzlich bereits ab dem 6. Lebensjahr allein im Straßenverkehr bewegen, wenn keine speziellen Gefahrenquellen entgegenstehen. Denn zum Erlernen eines selbstständigen und umsichtigen Verhaltens im Straßenverkehr gehört die Möglichkeit, sich ohne ständige direkte Kontrolle und Anleitung im Verkehr zu bewähren (vgl. OLG Koblenz, Schaden-​Praxis 2009, 280; Staudinger/Belling, BGB, Neubearbeitung 2012, § 832 Rn. 137; Lang, jurisPR-​VerkR 19/2014 Anm. 2; ders., 51. Deutscher Verkehrsgerichtstag 2013, S. 61, 82, jew. m.w.N.). Beherrscht ein Kind das Radfahren in technischer Hinsicht, setzt die Erfüllung der Aufsicht der Eltern dann voraus, dass das Kind über Regeln und Gefahren der Teilnahme am öffentlichen Straßenverkehr mit dem Fahrrad belehrt wurde (vgl. OLG Koblenz aaO; Staudinger aaO; Kuhn, 51. Deutscher Verkehrsgerichtstag 2013, S. 43, 52). Daneben kommt es für die Beurteilung der Frage, ob in der konkreten Verkehrssituation eine Verletzung der Aufsichtspflicht der Eltern dadurch, dass sie nicht präsent waren, darauf an, ob das Kind mit der Wegstrecke vertraut war (OLG Koblenz aaO mit Verweis auf BGH, Urt. v. 07.07.1987 - VI ZR 176/86, VersR 1988, 83).

c) Hiervon ausgehend haben die Beklagten vorliegend den Entlastungsnachweis erbracht. Dabei verkennt die Kammer nicht, dass das Kind von den Beklagten nicht im Einzelnen über das in einer entsprechenden Verkehrssituation gebotene Verhalten aufgeklärt worden ist. Unter den hier gegebenen Umständen genügte indes die von der Zweitbeklagten plausibel bekundete und auch von dem Kind bestätigte allgemeine Belehrung, wonach langsam zu fahren und auf das „Vorrecht“ von Autos zu achten ist, den Anforderungen an eine entsprechende Belehrung.

aa) Wie weit die Belehrungs- und Unterrichtungspflicht der Aufsichtspflichtigen über die Regeln und Gefahren im Straßenverkehr gegenüber radfahrenden Kindern reicht, hängt maßgeblich davon ab, auf welchen Strecken sich das Kind im Einverständnis mit den Aufsichtspflichtigen im Straßenverkehr bewegt. Die Belehrung und Unterrichtung von radfahrenden Kindern über die einzuhaltenden Verkehrsregeln und die Gefahren muss daher umso eingehender und nachhaltiger sein, je gefahrenträchtiger die befahrene Wegstrecke ist.

bb) Vorliegend handelt es sich bei dem gesamten Bereich, in dem der Sohn der Beklagten geradelt ist, um einen verkehrsberuhigten Bereich in unmittelbarer Nähe zur elterlichen Wohnung. In solchen Bereichen dürfen Eltern ihren Kindern gerade wegen der Funktion der Verkehrsberuhigung größere Freiheiten lassen als in „normalen“ Straßen. Deshalb ist auch eine unbeaufsichtigte Teilnahme am Straßenverkehr durch fahrradfahrende Kinder in verkehrsberuhigten Zonen - wie hier - ohne weiteres zulässig (Staudinger aaO Rn. 137; Kuhn, 51. Deutscher Verkehrsgerichtstag 2013, Schriftenreihe, S. 43, 53), da nur in diesen Verkehrsbereichen die Defizite der Kinder durch entsprechend vorsichtiges und verantwortungsbewusstes Verhalten der anderen Verkehrsteilnehmer ausgeglichen werden (Staudinger aaO Rn. 137; vgl. für eine Sackgasse auch LG Coburg, Hinweisbeschluss vom 21.08.2008 - 33 S 66/08, Pressemitteilung vom 26.09.2008 Nr. 386/08, abgedruckt in juris). Für den Umfang der Belehrungs- und Unterrichtungspflicht der Aufsichtspflichtigen folgt hieraus, dass die Aufsichtspflichtigen das Kind beim Radfahren in verkehrsberuhigten Bereichen nicht mit einzelnen Verkehrsregeln vertraut machen und deren Beherrschung gar überprüfen müssen. Vielmehr genügt es beim Befahren von verkehrsberuhigten Bereichen, die nicht zum fließenden Verkehr gehören (vgl. Kammer, Urt. v. 20.07.2007 - 13 A S 13/07, DAR 2008, 216), wenn das Kind - wie hier - über allgemeine Gefahren des Straßenverkehrs und den im ruhenden Verkehr maßgeblichen Grundsatz der gegenseitigen Rücksichtnahme (vgl. nur Kammer, Urt. v. 19.07.2013 - 13 S 61/13, ZfS 2013, 564 m.w.N.) auch im Verhältnis zu Autofahrern aufgeklärt und zu dessen Beachtung angehalten worden ist.

cc) Die Kammer ist schließlich davon überzeugt, dass der Sohn der Beklagten im Übrigen in der Lage war, ohne weitere Unterrichtung oder gar Beaufsichtigung den verkehrsberuhigten Bereich im Umfeld der elterlichen Wohnung, mithin in einem ihm ohne weiteres bekannten Bereich, allein mit seinem Rad zu befahren. Denn er war - wie sich aus der Anhörung der Zweitbeklagten und der Vernehmung des Kindes nachvollziehbar ergibt - im Radfahren geübt und hatte bis zum streitigen Vorfall durch seine Fahrweise keinen Anlass gegeben, ihn „engmaschiger“ zu überwachen (vgl. hierzu auch LG Coburg, Hinweisbeschluss vom 21.08.2008 - 33 S 66/08, Pressemitteilung vom 26.09.2008 Nr. 386/08, abgedruckt in juris).


III.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 Abs. 1 ZPO.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit findet ihre Grundlage in §§ 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO i.V.m. § 26 Nr. 8 EGZPO.

Die Revision ist nicht zuzulassen. Die Rechtssache erlangt keine grundsätzliche über den konkreten Einzelfall hinausgehende Bedeutung und die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erfordert nicht die Entscheidung des Revisionsgerichts (§ 543 Abs. 2 ZPO).