Das Verkehrslexikon

A     B     C     D     E     F     G     H     I     K     L     M     N     O     P     Q     R     S     T     U     V     W     Z    

OVG Münster Beschluss vom 29.04.2015 - 16 A 2773/13 - Fahrerlaubnisentziehung und Bindung der Verwaltungsbehörde an Strafurteil

OVG Münster v. 29.04.2015: Fahrerlaubnisentziehung und Bindung der Verwaltungsbehörde an Strafurteil


Das OVG Münster (Beschluss vom 29.04.2015 - 16 A 2773/13) hat entschieden:
Die Bindung nach § 3 Abs. 4 Satz 1 StVG an den vom Strafgericht festgestellten Sachverhalt setzt voraus, dass im Strafverfahren die Entziehung der Fahrerlaubnis gemäß § 69 StGB in Betracht gekommen ist.


Siehe auch Die Bindungswirkung des Strafurteils bzw. der Entscheidung im Ordnungswidrigkeitenverfahren gegenüber der Verwaltungsbehörde bei der Beurteilung der Fahreignung und bei Probezeitmaßnahmen und Verhältnis des Strafverfahrens zum Fahrerlaubnis-Verwaltungsverfahren bei Drogenkonsum


Gründe:

Der auf die Berufungszulassungsgründe des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO (ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils) und des § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO (grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache) gestützte Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung ist unbegründet, weil die genannten Zulassungsgründe nicht vorliegen.

Die Berufung ist nicht wegen ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des angegriffenen Urteils zuzulassen.

Entgegen der Auffassung des Klägers musste der Beklagte bei der Entscheidung über die Entziehung der Fahrerlaubnis des Klägers wegen regelmäßigen Cannabiskonsums nicht davon ausgehen, dass dieser seit Mai 2012 drogenfrei lebte. Eine Bindung an die entsprechenden Feststellungen im Urteil des Amtsgerichts Düsseldorf vom 26. März 2013 (107 Ls-​60 Js 2615/12-​62/12), die auf den vom Strafgericht als glaubhaft angesehenen Angaben des Klägers beruhen, bestand nicht. Gemäß § 3 Abs. 4 Satz 1 StVG kann die Fahrerlaubnisbehörde, will sie in einem Entziehungsverfahren einen Sachverhalt berücksichtigen, der Gegenstand der Urteilsfindung in einem Strafverfahren gegen den Inhaber der Fahrerlaubnis gewesen ist, zu dessen Nachteil vom Inhalt des Urteils insoweit nicht abweichen, als es sich auf die Feststellung des Sachverhalts oder die Beurteilung der Schuldfrage oder die Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen bezieht. Die Bindung nach § 3 Abs. 4 Satz 1 StVG an den vom Strafgericht festgestellten Sachverhalt setzt voraus, dass im Strafverfahren die Entziehung der Fahrerlaubnis gemäß § 69 StGB in Betracht gekommen ist.
Vgl. BVerwG, Urteil vom 27. September 1995 - 11 C 34.94 -, BVerwGE 99, 249 = juris, Rn. 12; VG Freiburg, Beschluss vom 25. März 2010 - 1 K 280/10 -, Blutalkohol 47 (2010), 266 = juris, Rn. 9; Dauer, in: Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 42. Auflage 2013, § 3 StVG Rn. 17; offengelassen: OVG NRW, Beschluss vom 16. Mai 2012 - 16 A 1782/11 -, juris, Rn. 16.
Dies ergibt sich aus der Gesetzessystematik und teleologischen Erwägungen. § 3 Abs. 4 Satz 1 StVG steht in unmittelbarem Zusammenhang mit § 3 Abs. 3 Satz 1 StVG. Danach darf, solange gegen den Inhaber der Fahrerlaubnis ein Strafverfahren anhängig ist, in dem die Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 69 StGB in Betracht kommt, die Fahrerlaubnisbehörde den Sachverhalt, der Gegenstand des Strafverfahrens ist, in einem Entziehungsverfahren nicht berücksichtigen. Diese Regelung wird für die Zeit nach dem Abschluss des Strafverfahrens durch § 3 Abs. 4 StVG ergänzt. Dabei unterscheiden sich § 3 Abs. 3 und Abs. 4 StVG in ihrer Reichweite in Abhängigkeit davon, welchen Stand das anhängige Strafverfahren erreicht hat. § 3 Abs. 3 StVG betrifft die Zeit bis zu dessen Abschluss. § 3 Abs. 4 StVG schließt daran zeitlich an und modifiziert dieses Verbot. Da mit dem Abschluss des Strafverfahrens auch Klarheit hinsichtlich der Feststellungen zu den für die Beurteilung der Fahreignung des Betroffenen maßgeblichen Umständen eingetreten ist, reduziert es sich nunmehr auf das Verbot einer Entscheidung der Fahrerlaubnisbehörde, die im Widerspruch zu den im Strafverfahren getroffenen Feststellungen steht.
Vgl. BVerwG, Urteil vom 28. Juni 2012 - 3 C 30.11 -, NJW 2012, 3669 = juris, Rn. 33 und 37.
Normativer Anknüpfungspunkt bleibt aber auch in § 3 Abs. 4 Satz 1 StVG das bereits in § 3 Abs. 3 Satz 1 StVG genannte Strafverfahren. Eine Erstreckung der Bindungswirkung des § 3 Abs. 4 Satz 1 StVG auch auf Strafverfahren, in denen die Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 69 StGB nicht in Betracht gekommen ist, würde dem Sinn und Zweck der Vorschrift nicht gerecht. § 3 Abs. 3 und Abs. 4 StVG dienen dazu, sich widersprechende Entscheidungen der Strafgerichte und der Fahrerlaubnisbehörden zu vermeiden. Es soll verhindert werden, dass derselbe einer Eignungsbeurteilung zugrundeliegende Sachverhalt unterschiedlich bewertet wird; die Beurteilung durch den Strafrichter soll in diesen Fällen den Vorrang haben.
Vgl. BVerwG, Urteil vom 28. Juni 2012 - 3 C 30.11 -, a.a.O., juris, Rn. 36; OVG NRW, Beschluss vom 19. März 2015 - 16 B 55/15 -, juris, Rn. 4, jeweils m.w.N.
Unterliegt die Kraftfahreignung des Betroffenen aber keiner Entscheidung des Strafgerichts, weil eine Entziehung nach § 69 StGB nicht in Betracht kommt, besteht weder die Gefahr sich widersprechender Entscheidungen hinsichtlich der Eignungsbeurteilung noch werden Doppelprüfungen vorgenommen.

Von dieser Auslegung des § 3 Abs. 4 Satz 1 StVG ausgehend bestand im Fall des Klägers keine Bindung an die Feststellung des Sachverhalts im o.g. Urteil des Amtsgerichts Düsseldorf. Denn der Kläger ist mit diesem Urteil wegen unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge nach § 29 Abs. 1 Nr. 3, § 29a Abs. 1 Nr. 2 BtMG verurteilt worden. Eine Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 69 StGB kam nicht in Betracht.

Dass der Beklagte die Fahrerlaubnis des Klägers entzog, nachdem dieser die zuvor angeforderten Nachweise über seine einjährige Drogenfreiheit nicht erbracht hatte, ist nicht zu beanstanden. Mit Schreiben vom 13. Juni 2013 hörte der Beklagte den Kläger zur beabsichtigten Entziehung der Fahrerlaubnis an und gab ihm die Möglichkeit, Gründe vorzutragen, die gegen den Entzug seiner Fahrerlaubnis sprächen (z.B. abgeschlossenes Abstinenzprogramm, abgeschlossene therapeutische Aufarbeitung, Haaranalyse usw.). Der Beklagte stellte in Aussicht, dem Kläger die Möglichkeit zu geben, die Eignungszweifel im Rahmen einer medizinisch-​psychologischen Untersuchung auszuräumen, sollte er beispielsweise einen Abstinenzvertrag vorlegen können. Der Umstand, dass der Kläger einen Abstinenznachweis für den vergangenen Zeitraum nicht mehr in Auftrag geben konnte, führt entgegen der Rüge des Klägers nicht zu der Annahme, dass der Beklagte etwas Unmögliches von ihm verlangt hätte. Es war nämlich möglich, dass dem Kläger entsprechende Nachweise bereits vorlagen. Diese hätte er innerhalb der vom Beklagten bestimmten Frist (28. Juni 2013) vorlegen können.

Inwiefern entscheidungserheblich sein soll, dass der Beklagte der Bitte des Klägers um Mitteilung, ob der Beklagte ergänzende Nachweise benötige, nicht nachgekommen ist, wird in der Zulassungsbegründung nicht dargelegt. Dass dem Kläger außer den vom Beklagten als nicht hinreichend angesehenen Bescheinigungen weitere Unterlagen zur Verfügung standen, die er hätte übersenden können, macht er auch im Zulassungsverfahren nicht geltend.

Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angegriffenen Urteils ergeben sich auch nicht aus dem Einwand des Klägers, das Verwaltungsgericht habe die Anforderungen sogar höher gesteckt als die Verwaltungsbehörde, indem es auf das Erfordernis einer medizinisch-​psychologischen Untersuchung nach § 14 Abs. 2 FeV verwiesen habe. Die Wiedererlangung der Kraftfahreignung setzt in Fällen der Entziehung der Fahrerlaubnis wegen Cannabiskonsum den Nachweis voraus, dass der Betroffene Cannabis nicht regelmäßig konsumiert oder bei gelegentlichem Konsum hinreichend zwischen Konsum und Führen eines Fahrzeugs trennt. Ob der Kläger diese Voraussetzungen erfüllt, ist nicht schon mit einem Verzicht auf Drogenkonsum nachgewiesen. Es bedarf zusätzlich des Nachweises, dass bezogen auf die Einnahme illegaler Drogen auf der Grundlage einer tragfähigen Motivation eine hinreichend stabile Verhaltensänderung eingetreten ist und daher für die Folgezeit eine günstige Prognose getroffen werden kann. Dieser Nachweis kann grundsätzlich - und so auch hier - nur auf der Grundlage einer medizinisch-​psychologischen Begutachtung erbracht werden.
Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 6. Oktober 2006 - 16 B 1538/06 -, juris, Rn. 4, vom 2. April 2012 - 16 B 356/12 -, juris, Rn. 6 ff., vom 20. März 2014 - 16 B 264/14 -, juris, Rn. 12 und vom 12. März 2015 - 16 B 57/15 -, juris, Rn. 4 f.
Davon ist auch der Beklagte ausgegangen, indem er dem Kläger ausdrücklich in Aussicht stellte, ihm nach einem entsprechenden Abstinenznachweis die Möglichkeit einzuräumen, die Eignungszweifel im Rahmen einer medizinisch-​psychologischen Untersuchung auszuräumen.

Die Berufung ist auch nicht wegen einer grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache i.S.v. § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO zuzulassen. Die vom Kläger aufgeworfene Frage,

"inwieweit die Verwaltungsbehörde bei ihren Entscheidungen über die Entziehungen von Fahrerlaubnissen nur (...) Teile des sie informierenden Strafurteils berücksichtigen darf", ist nicht entscheidungserheblich, weil es nach dem Vorstehenden an jeder Bindung des Beklagten an die Feststellungen in dem in Bezug genommenen Strafurteil fehlt.

Die weitere Frage,
"ob die Verwaltungsbehörde faktisch nicht einhaltbare Fristen setzen und Bitten um Informationen, wenn mehr als die übermittelten Unterlagen gewünscht werden, ignorieren und sich anschließend auf die Position zurückziehen darf, dass zum Zeitpunkt ihrer letzten Entscheidung bestimmte Informationen und Unterlagen nicht vorgelegen hätten",
ist wegen ihres Einzelfallbezugs schon nicht grundsätzlich bedeutsam. Im Übrigen geht der Kläger von der unzutreffenden Prämisse aus, der Beklagte habe eine faktisch nicht einhaltbare Frist gesetzt, so dass sich die aufgeworfene Frage in einem Berufungsverfahren nicht stellen würde.

Mit der Ablehnung des Zulassungsantrags des Klägers wird das Urteil des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO.

Die Streitwertfestsetzung folgt aus § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 2 und 3, § 63 Abs. 3 GKG. Der Senat berücksichtigt insoweit, dass die vom Kläger uneingeschränkt angefochtene Verfügung des Beklagten vom 3. Juli 2013 neben der Entziehung der Fahrerlaubnis die Festsetzung von Kosten in Höhe von 152,63 Euro beinhaltet.

Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5, § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).