Das Verkehrslexikon

A     B     C     D     E     F     G     H     I     K     L     M     N     O     P     Q     R     S     T     U     V     W     Z    

OLG Saarbrücken Urteil vom 09.01.1976 - 3 U 71/75 - Zur Benutzungspflicht des rechten Seitenstreifens beim Anhalten

OLG Saarbrücken v. 09.01.1976: Zur Benutzungspflicht des rechten Seitenstreifens beim Anhalten


Das OLG Saarbrücken (Urteil vom 09.01.1976 - 3 U 71/75) hat entschieden:
Ob derjenige, der nicht parken, sondern nur halten will, dazu den rechten Seitenstreifen benutzen muss, hängt von Verkehrslage und Örtlichkeit ab.


Siehe auch Halten und Parken auf dem Seitenstreifen und Stichwörter zum Thema Halten und Parken


Tatbestand:

Der Beklagte befuhr am 27.2.1972 gegen 15.00 Uhr mit seinem Volkswagen die Straße zwischen H. und S. in Richtung S. . Er hatte die Absicht, am Straßenrand anzuhalten, um seiner Ehefrau das Aussteigen zu ermöglichen. Hinter ihm fuhr ein weiterer PKW, dem der Kläger mit seinem BMW 2002 folgte. Beide Fahrzeuge setzten zum Überholen des Beklagten an. Der Kläger musste jedoch wegen eines entgegenkommenden Wagens das Überholen abbrechen. Nachdem er sich wieder auf die rechte Seite eingeordnet hatte, fuhr er auf den am rechten Straßenrand zum Stehen gekommenen Wagen des Beklagten auf.

Der Kläger hat den Beklagten auf Ersatz seines Unfallschadens in Anspruch genommen mit der Begründung, dieser habe das Auffahren verschuldet, weil er plötzlich den rechten Blinker betätigt, seinen Wagen scharf abgebremst und am Straßenrand angehalten habe, anstatt das daneben befindliche Bankett zu benutzen oder an einer Einmündung der in der Nähe befindlichen Feldwege zu halten.

Er hat beantragt,
den Beklagten zu verurteilen, 3.019,21 DM nebst 7% Zinsen seit dem 26.9.1972 zu zahlen.
Der Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er hat behauptet: Er habe schon vor dem Überholen durch das erste ihm folgende Fahrzeug den rechten Blinker betätigt und damit seine Absicht zum Halten kundgetan. Danach habe er den Wagen des Klägers in einer Entfernung von mehreren hundert Metern im Rückspiegel gesehen. Hierauf habe er abgebremst und am rechten Straßenrand so angehalten, dass die rechten Räder auf dem Bankett gestanden hätten. Er habe schon kurze Zeit gestanden, als der Kläger aufgefahren sei.

Das Landgericht hat nach Beweisaufnahme durch das angefochtene Urteil, auf das Bezug genommen wird, die Klage mit folgender Begründung abgewiesen:

Der Unfall sei für den Beklagten unvermeidbar gewesen. Das Anhalten an der Unfallstelle sei erlaubt und das Abstellen des Wagens auf dem Bankett nicht erforderlich gewesen. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme habe das Fahrzeug mit den rechten Rädern auf dem Bankett, mithin am äußersten rechten Fahrbahnrand gestanden. Seine Absicht zum Anhalten habe er durch Bremslicht und Blinklicht in genügender Entfernung zum Fahrzeug des Klägers zu erkennen gegeben, wie auch die Länge von dessen Bremsspur zeige.

Gegen das am 3.6.1975 zugestellte Urteil hat der Kläger am 2.7.1975 Berufung eingelegt und diese am 2.10.1975 begründet.

Er führt aus:

Der Beklagte sei nach § 12 IV StVO verpflichtet gewesen, den rechten 1,60 m breiten und ausreichend befestigten Seitenstreifen zu benutzen. Die Verkehrslage habe entgegen der Auffassung des Landgerichts ein Halten am Straßenrand nicht erlaubt. Die Fahrweise des Beklagten sei mit dem Verhalten eines sorgfältigen Kraftfahrers nicht vereinbar. Ihn, den Kläger, treffe kein Verschulden, da er mit einem plötzlichen Bremsen und Anhalten des Vorausfahrenden nicht habe rechnen müssen. Der Beklagte habe den Unfall in jedem Falle mitverursacht, so dass zumindest eine Schadensteilung geboten sei.

Der Kläger beantragt,
das angefochtene Urteil abzuändern und nach seinem erstinstanzlichen Antrag zu entscheiden. Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen,
hilfsweise, ihm Vollstreckungsschutz zu gewähren. Er trägt vor:

Die Vorschrift des § 12 IV StVO beziehe sich nur auf das Parken und nicht auf das kurzfristige Halten. Der Seitenstreifen sei auch nicht ausreichend befestigt gewesen. In Zweifelsfällen bestehe keine Pflicht, ihn zu benutzen. Das Einbiegen in einen Feldweg sei nicht zumutbar gewesen. Wegen des weiteren Vorbringens der Parteien wird auf den vorgetragenen Inhalt der Schriftsätze verwiesen.


Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung ist nicht begründet.

Dem Kläger steht ein Anspruch auf Ersatz seines Unfallschadens gegen den Beklagten, wie das Landgericht im Ergebnis zu Recht entschieden hat, weder aus der Verschuldenshaftung (§§ 823ff BGB) noch nach den Vorschriften des Straßenverkehrsgesetzes zu.

Es erscheint allerdings fraglich, ob der Beklagte beim Anhalten seines Fahrzeugs jede nach den Umständen gebotene Sorgfalt beobachtet und sich damit gemäß § 7 II StVG entlastet hat. Zweifel in dieser Richtung gehen zu Lasten des beweispflichtigen Kraftfahrzeughalters. Die äußerste Sorgfalt im Sinne dieser Vorschrift ist nur gewahrt, wenn der Fahrer eine über die gewöhnliche Sorgfaltspflicht hinausgehende besonders überlegene Aufmerksamkeit, Geistesgegenwart und Umsicht gezeigt hat (BGH VRS 9, 184; 17, 102). Daran hat es der Beklagte aber möglicherweise fehlen lassen. Denn um diesen Anforderungen gerecht zu werden, muss auch auf eine durch die Umstände nahegelegte Möglichkeit eines unrichtigen oder ungeschickten Verhaltens des anderen Verkehrsteilnehmers Rücksicht genommen werden. Als der Beklagte zu bremsen begann und sich zum Anhalten anschickte, hatte er schon zuvor im Rückspiegel bemerkt, dass ihm ein zweites Fahrzeug mit hoher Geschwindigkeit folgte. Da sich aus entgegengesetzter Richtung ebenfalls ein Fahrzeug näherte und er erkennen konnte, dass eine Begegnung dieser beiden mit hoher Geschwindigkeit fahrenden Fahrzeuge und gleichzeitiges Überholen des eigenen Wagens durch den Hintermann in Anbetracht der nur 6,50 m breiten Straße nicht ohne weiteres möglich war, hätte ein besonders umsichtig handelnder Fahrer von einer stärkeren Verlangsamung seiner Geschwindigkeit bzw von einem Anhalten an dieser Stelle ganz abgesehen oder wäre beim Anhalten weiter auf den Seitenstreifen ausgewichen. Dieser wies unbestritten eine Breite von 1,60 m auf, bestand aus einer Grasnarbe und konnte bei der geringen Geschwindigkeit des Fahrzeugs vor dem Anhalten, wie der Beklagte selbst nicht in Zweifel gezogen hat, dann auch in größerer Breite in Anspruch genommen werden, was möglicherweise ein Auffahren des Klägers verhindert hätte. Ob der Beklagte hiernach die ihm mögliche äußerste Sorgfalt und überlegene Aufmerksamkeit hat walten lassen, erscheint zumindest zweifelhaft, was zur Folge hat, dass seine Haftung gemäß § 7 I StVG nicht ausgeschlossen ist. Er hat jedoch nur die einfache Betriebsgefahr seines Fahrzeuges zu vertreten, da ihm ein verkehrswidriges Verhalten nicht nachgewiesen ist.

Insoweit hat das Landgericht zutreffend ausgeführt, dass er durch das Halten am rechten Straßenrand weder gegen § 12 I Nr 1, 2 und IV StVO noch gegen § 1 StVO verstoßen hat. Bei einer Straßenbreite von 6,50 m war der Verkehr durch das haltende Fahrzeug nicht wesentlich behindert oder gefährdet. Außerdem war die Strecke übersichtlich, und die Unfallstelle befand sich außerhalb des Kurvenbereichs. Nach § 12 IV 2 StVO ist allerdings auch zum Halten in der Regel der rechte Seitenstreifen zu benutzen, wenn er ausreichend befestigt ist. Abzustellen ist aber letztlich auf die Verkehrslage und Örtlichkeit. Wenn diese es zulassen, genügt das Halten auf der rechten Seite. Die Absicht des Klägers zum Überholen nötigte den Beklagten nicht, auf den Seitenstreifen zu fahren, zumal dieser nur aus einer Grasnarbe bestand und für die ganze Breite des Volkswagens, wie der Zeuge A. bekundet hat, nicht ausgereicht hätte.

Dagegen trifft den Kläger ein erheblicher Schuldvorwurf. Da er auf den Wagen des Beklagten frontal von hinten aufgefahren ist, spricht der Beweis des ersten Anscheins für sein Verschulden an dem Unfall. Denn das Auffahren lässt sich regelmäßig nur durch überhöhte Geschwindigkeit, falsche oder ungenügende Reaktion oder Unaufmerksamkeit erklären (BGH, Versicherungsrecht, 1963, 1026; 1965, 88). Dieser Beweis wird nicht schon dadurch entkräftet, dass der Beklagte gebremst und angehalten hat, so dass der Abstand zu dem Wagen des Klägers durch die eigene Fahrweise sich weiter verkürzt hat. Anders wäre es nur, wenn der Beklagte überraschend stark gebremst hätte (BGH Versicherungsrecht 1962, 1101). Ein solches Verhalten des Beklagten ist jedoch nicht bewiesen. Selbst der Zeuge A. konnte nicht ausschließen, dass der Beklagte schon vorher das rechte Blinklicht betätigt hatte, und die Absicht zum Anhalten war für den Zeugen aus der deutlich wahrnehmbaren Fahrverzögerung erkennbar. Darüber hinaus hat A. ausdrücklich bestätigt, dass das Fahrzeug des Beklagten langsam abgebremst wurde. Gemäß § 4 StVO war der Kläger verpflichtet, den Abstand zu dem Vorausfahrenden so zu bemessen, dass er auch bei plötzlichem Bremsen des Vorausfahrenden rechtzeitig anhalten konnte. Hatte er wegen der Überholabsicht den Sicherheitsabstand unterschritten, so war er zu besonders sorgfältiger Beobachtung des vorausfahrenden Wagens und der Verkehrslage verpflichtet und hätte durch rechtzeitige Herabsetzung seiner Geschwindigkeit, die er selbst mit 100 km/h angegeben hat, der Gefahr des Auffahrens auf den seine Fahrt verlangsamenden Beklagten vorbeugen können.

Der Kläger muss daher bei der gemäß § 17 I Satz 2 StVG vorzunehmenden Abwägung der beiderseitigen Schadensverursachung im Gegensatz zum Beklagten eine erhöhte Betriebsgefahr gegen sich gelten lassen. Die Annäherung an den Beklagten mit hoher Geschwindigkeit im Zusammenhang mit dem beabsichtigten Überholvorgang brachte eine erheblich größere Verkehrsgefährdung mit sich als die Fahrweise des Beklagten, der langsam fuhr und beim Aufprall des Klägers nach den Bekundungen der Zeugen A. und B. schon gestanden hat. Hinzu kommt die Unaufmerksamkeit oder falsche Reaktion des Klägers, der den Überholvorgang abgebrochen und zu spät auf das sich zum Anhalten anschickende Fahrzeug des Beklagten reagiert hat. Der Unfallbeitrag des Klägers überwiegt gegenüber der Betriebsgefahr des Fahrzeugs des Beklagten so sehr, dass es gerechtfertigt erscheint, dessen bloße Gefährdungshaftung außer Betracht zu lassen (vgl KG Versicherungsrecht 1961, 566).

Die Berufung war hiernach zurückzuweisen.