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OLG München Urteil vom 03.07.2015 - 10 U 642/15 - Sorgfaltspflichten beim Ausfahren aus einer Waschbox

OLG München v. 03.07.2015: Zu den Sorgfaltspflichten beim Ausfahren aus einer Waschbox


Das OLG München (Urteil vom 03.07.2015 - 10 U 642/15) hat entschieden:
Wenn die Sicht bei Ausfahrt aus einer Waschbox besonders schlecht ist, muss derjenige, der eine schlechte Sicht hat, besondere Vorsicht walten lassen und sich „eintasten“, also sehr langsam („zentimeterweise“, „unter Schrittgeschwindigkeit“), stets bremsbereit einfahren und bei gegebenem Anlass sofort bremsen. Damit soll erreicht werden, dass einerseits der bevorrechtigte Verkehr genügend Zeit hat, sich auf dieses Eintasten einzurichten und andererseits, dass der Wartepflichtige nahezu ohne Anhalteweg anhalten kann, wenn er einen bevorrechtigten Verkehrsteilnehmer wahrnimmt.


Siehe auch Fahrzeugbeschädigung in der Autowaschanlage und Stichwörter zum Thema Schadensersatz und Unfallregulierung


Gründe:

A.

Von der Darstellung der tatsächlichen Feststellungen wird abgesehen (§§ 540 II, 313 a I 1 ZPO i. Verb. m. § 26 Nr. 8 EGZPO).


B.

Die statthafte sowie form- und fristgerecht eingelegte und begründete, somit zulässige Berufung hat in der Sache nur in geringem Umfang Erfolg.

I.

Da seitens des Klägers keine Einwände gegen die Tatsachenfeststellungen des Landgerichts vorgebracht werden, sind hierzu weitere Ausführungen entbehrlich.

Sachlich-​rechtliche Mängel des Ersturteils sind nur in geringem Umfang festzustellen. Zu Recht hat der Kläger darauf hingewiesen, dass das Landgericht ohne Begründung die sich aus der Quote errechnende Kostenpauschale in Höhe von 7,50 € nebst Zinsen aberkannt hat. Im Übrigen lässt das Ersturteil Rechtsfehler jedoch nicht erkennen.

1. Die Haftungsverteilung gemäß § 17 StVG ist sachgerecht. Der Kläger übersieht, dass das Erstgericht zutreffend den vom Beklagten zu 2) benutzten Weg als durch bauliche Maßnahmen gekennzeichneten, für den fließenden Verkehr vorgesehenen Fahrweg klassifiziert hat. Da der Berufungskläger hiergegen keine Einwände vorgebracht hat, war der rechtliche Schluss des Erstgerichts (vgl. hierzu S. 6 des Ersturteils) zutreffend, dass der Beklagte zu 2) mit seinem Fahrzeug gegenüber dem von der Ehefrau des Klägers gesteuerten Fahrzeugs bevorrechtigt war. Die klägerische Fahrerin musste daher im Lichte des § 1 II StVO die besondere Vorsicht des § 10 StVO beachten. Allein dieser Verstoß rechtfertigt bereits die überwiegende Haftung des Klägers.

In der Berufungsbegründung wird verschwiegen, dass nicht nur der Beklagte zu 2), sondern auch die klägerische Fahrerin die Schrittgeschwindigkeit nicht eingehalten hat (vgl. S. 4 des Ersturteils: 13-​15 km/h). Die Einwände des Klägers im Schriftsatz vom 13.04.2015 (Bl. 182/183 d.A.) überzeugen nicht. Bei Unterstellung des klägerischen Vortrags, dass die Sicht bei Ausfahrt aus einer Waschbox besonders schlecht war, muss derjenige, der eine schlechte Sicht hat, besondere Vorsicht walten lassen. Hier muss sich der Wartepflichtige „eintasten“, also sehr langsam („zentimeterweise“, „unter Schrittgeschwindigkeit“), stets bremsbereit einfahren und bei gegebenem Anlass sofort bremsen. Damit soll erreicht werden, dass einerseits der bevorrechtigte Verkehr genügend Zeit hat, sich auf dieses Eintasten einzurichten und andererseits, dass der Wartepflichtige nahezu ohne Anhalteweg anhalten kann, wenn er einen bevorrechtigten Verkehrsteilnehmer wahrnimmt (Senat NZV 1989, 394; ebenso KG NZV 1998, 376; 2010, 511). Im Hinblick auf diese klarstellenden Ausführungen des Klägers hat die klägerische Fahrerin noch weitaus deutlicher als vom Landgericht angenommen die gebotene Geschwindigkeit überschritten, so dass es nicht ansatzweise eine Veranlassung gibt, den Verstoß der klägerischen Fahrerin im Verhältnis zum Verstoß des Beklagten zu 2) geringer zu gewichten.

Unzutreffend wirft der Kläger dem Beklagten zu 2) vor, das Rechtsfahrgebot nicht beachtet zu haben (§ 2 II StVO). Das Rechtsfahrgebot beinhaltet nicht, dass stets rechts zu fahren ist, sondern nur, dass entsprechend der Verkehrssituation angemessen rechts zu fahren ist (vgl. BGH NZV 1996, 444). Nach den in der Berufung nicht angegriffenen tatsächlichen Feststellungen hat der Beklagte zu 2) im Hinblick auf andere Verkehrsteilnehmer einen Sicherheitsabstand eingehalten und da das Vorrecht des Beklagten zu 2) sich auf die gesamte Fahrbahn der bevorrechtigten Straße bezog, kann der Kläger aus diesem Fahrverhalten des Beklagten zu 2) zu seinen Gunsten nichts herleiten.

Bei Heranziehung der überhöhten Geschwindigkeit und der Unachtsamkeit wegen des Angurtens ist in der Abwägung mit den schwerwiegenderen Verstößen der klägerischen Fahrerin eine Haftungsverteilung von 70 zu 30 zu Lasten des Klägers nicht zu beanstanden.

2. Bezüglich der Bemessung der Nutzungsausfallentschädigung sind Rechtsfehler ebenfalls nicht ersichtlich.

Bei der Ermittlung des Kausalzusammenhangs zwischen dem unstrittigen oder bewiesenen Haftungsgrund (Rechtsgutverletzung) und dem eingetretenen Schaden unterliegt der Tatrichter nicht den strengen Anforderungen des § 286 ZPO; vielmehr ist er nach Maßgabe des § 287 I 1 ZPO freier gestellt: Zwar kann er auch eine haftungsausfüllende Kausalität nur feststellen, wenn er von diesem Ursachenzusammenhang überzeugt ist; im Rahmen der Beweiswürdigung gem. § 287 ZPO werden aber geringere Anforderungen an seine Überzeugungsbildung gestellt - hier genügt je nach Lage des Einzelfalls eine überwiegende (höhere oder deutlich höhere) Wahrscheinlichkeit für die Überzeugungsbildung (BGHZ 4, 192 [196] = NJW 1952, 301; BGH VersR 1968, 850 [851]; 1970, 924 [926 f.]; BGHZ 126, 217 ff. = NJW 1994, 3295 ff.; NJW 2003, 1116 [1117]; 2004, 777 [778]; NJW-​RR 2005, 897; Senat NZV 2006, 261 [262], Urt. v. 28.07.2006 - 10 U 1684/06 [juris]; v. 15.09.2006 - 10 U 3622/99 = r+s 2006, 474 546 m. zust. Anm. von Lemcke = NJW-​Spezial 2006, 546 m. zust. Anm. von Heß/Burmann, Nichtzulassungsbeschwerde vom BGH durch Beschl. v. 08.05.2007 - VI ZR 29/07 [juris] zurückgewiesen; v. 21.05.2010 - 10 U 2853/06 [juris, Rz. 122] und zuletzt Urt. v. 25.06.2010 - 10 U 1847/10 [juris]; OLG Schleswig NZV 2007, 203 [204]). § 287 I 1 ZPO entbindet aber nicht vollständig von der grundsätzlichen Beweislastverteilung und erlaubt es nicht, zugunsten des Beweispflichtigen einen bestimmten Schadensverlauf zu bejahen, wenn nach den festgestellten Einzeltatsachen „alles offen“ bleibt oder sich gar eine überwiegende Wahrscheinlichkeit für das Gegenteil ergibt (so BGH VersR 1970, 924 [927]; Senat NZV 2006, 261; Urt. v. 28.07.2006 - 10 U 1684/06 [juris]; v. 15.09.2006 - 10 U 3622/99 = r+s 2006, 474 m. zust. Anm. von Lemcke = NJW-​Spezial 2006, 546 m. zust. Anm. von Heß/Burmann, Nichtzulassungsbeschwerde vom BGH durch Beschl. v. 08.05.2007 - VI ZR 29/07 [juris] zurückgewiesen; v. 21.05.2010 - 10 U 2853/06 [juris, Rz. 123]).

Bezüglich der Nutzungsausfallentschädigung hat das Landgericht unter sachgerechter Anwendung des § 287 ZPO eine Schätzung vorgenommen. Hierbei kann, wie der BGH zur Bemessung von Mietwagenkosten ausdrücklich bestätigt hat und wie von der Rechtsprechung auch zum Nutzungsausfallschaden seit Jahrzehnten angewandt wird, im Rahmen des Schätzermessens auf Listen wie der Schwacke-​Liste zurückgegriffen und diese im Einzelfall wie hier durch Zu- oder Abschläge angepasst werden (vgl. BGH NJW 2011, 1947). Es bedurfte daher weder des Nachweises einer besonderen Sachkenntnis des Erstgerichts noch der Erholung eines Gutachtens über die Höhe des Tagessatzes der Nutzungsausfallentschädigung.

Das Erstgericht war im Hinblick auf das Alter des klägerischen Fahrzeugs nicht gezwungen, die - im Übrigen nicht begründete - Eingruppierung des Fahrzeugs in die Fahrzeugklasse A bei Sanden/Danner/Küppersbusch seitens des vorprozessualen Gutachters B. (vgl. Anlage K 9) zu übernehmen. Die vom Landgericht vorgenommene Schätzung erfolgte unter Beachtung der Rechtsprechung bei Fahrzeugen über 10 Jahren und ist daher nicht zu beanstanden.

II.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 97 I, 92 II ZPO.

III.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit des Ersturteils und dieses Urteils beruht auf §§ 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO i. Verb. m. § 26 Nr. 8 EGZPO.

IV.

Die Revision war nicht zuzulassen. Gründe, die die Zulassung der Revision gem. § 543 II 1 ZPO rechtfertigen würden, sind nicht gegeben. Mit Rücksicht darauf, dass die Entscheidung einen Einzelfall betrifft, ohne von der höchst- oder obergerichtlichen Rechtsprechung abzuweichen, kommt der Rechtssache weder grundsätzliche Bedeutung zu noch erfordern die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts.