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OLG Hamm Urteil vom 27.03.2015 - I-11 U 44/14 - Kollision bei einem Auspark- bzw. Anfahrvorgang im Gegenverkehr mit einem Linksabbieger

OLG Hamm v. 27.03.2015: Kollision bei einem Auspark- bzw. Anfahrvorgang im Gegenverkehr mit einem Linksabbieger


Das OLG Hamm (Urteil vom 27.03.2015 - I-11 U 44/14) hat entschieden:
  1. Eine Wiedereingliederung eines Fahrzeuges in den fließenden Verkehr ist erst dann beendet, wenn sich das Fahrzeug endgültig in den fließenden Verkehr eingeordnet hat und jede Auswirkung des Anfahrvorganges auf das weitere Verkehrsgeschehen ausgeschlossen ist. Der Verstoß gegen § 10 StVO hat zur Folge, dass gegen den Ausparkenden bzw. Anfahrenden der Anscheinsbeweis für ein schuldhaftes Handeln spricht und ihn im Regelfall die volle oder zumindest überwiegende Haftung trifft.

  2. Kommt es beim Linksabbiegen zu einer Kollision mit einem Fahrzeug, das noch nicht dem entgegenkommenden Verkehr zuzurechnen ist, sondern sich erst am Ende eines Vorgangs befindet, durch den eine Wiedereingliederung in den fließenden Verkehr erfolgen soll, so fehlt es an einer typischen Verkehrssituation, welche das alleinige oder zumindest überwiegende Verschulden des Linksabbiegers nahe legt.

Siehe auch Kollisionen zwischen Linksabbieger und entgegenkommendem Geradeausfahrer und Anfahren vom Fahrbahnrand / Einfahren in den fließenden Verkehr


Gründe:

I.

Von der Darstellung eines Tatbestandes wird gemäß §§ 540 Abs. 2, 313a Abs. 1 S. 1 ZPO abgesehen.


II.

Die zulässige Berufung hat teilweise Erfolg.

Dem Kläger steht auf Grund des Verkehrsunfalls im Kreuzungsbereich … in D. vom 03.01.2012 gegen 19.22 Uhr ein höherer Schadensersatzanspruch gegen die Beklagten gemäß §§ 7, 17, 18 StVG, 823 Abs. 1 BGB, 115 VVG zu, als vom Landgericht ausgeurteilt wurde.

Der Unfall geschah bei der Teilnahme des Fahrzeuges der Beklagten am Straßenverkehr. Er stellt für den Beklagten zu 3) keine höhere Gewalt dar, vielmehr war die Betriebsgefahr des Fahrzeuges der Beklagten durch einen schuldhaften Verkehrsverstoß des Beklagten zu 3) erhöht worden.

Der Beklagte zu 3) hat gegen die Bestimmung des § 10 StVO verstoßen, indem er sich entweder beim Ausfahren aus einer Parklücke oder beim Anfahren vom Fahrbahnrand nicht so verhalten hat, dass eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen war.

Dabei kann dahinstehen, ob - wie der Beklagte zu 3) bei seiner Anhörung beschrieben hat - der VW-​Transporter der Beklagten zunächst in einer Parkbox rechtwinklig zur …straße geparkt worden und dann rückwärts auf die …straße zurückgesetzt worden war, oder ob - entsprechend der Unfallschilderung des Klägers - der Beklagte zu 3) das Fahrzeug im Bereich des Parkstreifens auf der aus seiner Fahrtrichtung linken Seite am Fahrbahnrand angehalten hatte. Die Schilderungen der im Senatstermin vernommenen Parteien zur Ausgangsposition des Beklagtenfahrzeuges divergieren, ohne dass eine gesicherte Feststellung möglich ist, welche Unfalldarstellung richtig ist. Nach beiden Unfalldarstellungen befand sich jedoch das Fahrzeug der Beklagten außerhalb des fließenden Verkehrs. Auch wenn der Beklagte zu 3) bereits aus der Parkbox rückwärts in die aus seiner Fahrtrichtung rechte Fahrspur der …straße gesetzt hätte, war mit dem Anfahren die Wiedereingliederung des Fahrzeuges in den fließenden Verkehr nicht abgeschlossen. Vielmehr ist dieser Vorgang erst dann beendet, wenn sich das Fahrzeug endgültig in den fließenden Verkehr eingeordnet hat und jede Auswirkung des Anfahrvorganges auf das weitere Verkehrsgeschehen ausgeschlossen ist (vgl. KG, KGR 2007, S. 772; Hentschel u. a.-​König, Straßenverkehrsrecht, 43. Aufl., § 10 StVO Rdn. 4 a m. w. N.). Vorliegend ereignete sich die Kollision der Fahrzeuge in unmittelbarer zeitlicher und örtlicher Nähe zum Auspark- bzw. Anfahrvorgang und beruhte auf der typischen Gefahr, dass sich andere Verkehrsteilnehmer auf das Hineinbegeben des Fahrzeuges in den fließenden Verkehr noch nicht eingestellt haben. Die Ansicht des Beklagten zu 3), dass ihm gegenüber dem Kläger ein Vorfahrtrecht zugestanden habe, ist daher von Rechtsirrtum geprägt.

Als Anfahrender war der Beklagte zu 3) zu höchster Sorgfalt verpflichtet, weshalb er jede Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer auszuschließen hatte. Dieser Sorgfalt hat er nicht genügt. Schon auf Grund der Position des klägerischen Fahrzeuges, welches sich zum Linksabbiegen zur Fahrbahnmitte eingeordnet hatte, hatte er Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger ihm entgegenkommend aus seiner Fahrtrichtung nach links in die U…straße abbiegen wollte. Der Beklagte zu 3) hat bei seiner Anhörung eingeräumt, dass er das Fahrzeug des Klägers entgegenkommen sah, welches sich zur Fahrbahnmitte eingeordnet hatte. Der Beklagte zu 3) musste daher in Rechnung stellen, dass der Kläger seine - des Beklagten zu 3) - Absicht zur Wiedereingliederung in den fließenden Verkehr nicht erkannt hatte und seinen Abbiegevorgang ausführen würde, ohne ihm Vorrang zu gewähren. Er war verpflichtet, das von ihm beabsichtigte Abbiegen in die U…straße solange zurückzustellen, bis er sichergehen konnte, dass er dies ohne Gefährdung des ihm entgegenkommenden Fahrzeugs durchführen konnte. Diesen Anforderungen ist er, wie die Kollision selbst und die vom Sachverständigen festgestellte Kollisionsgeschwindigkeit von mindestens 20 km/h zeigen, nicht gerecht geworden.

Der Verstoß gegen § 10 StVO hat zur Folge, dass gegen den Beklagten zu 3) der Anscheinsbeweis für ein schuldhaftes Handeln spricht und ihn im Regelfall die volle oder zumindest überwiegende Haftung trifft (vgl. BGH, DAR 2011, S. 696; Hentschel u. a.-​König, a. a. O., § 10 StVO Rdn. 11). Eine vollständige Erschütterung des gegen ihn sprechenden Anscheines ist ihm nicht gelungen.

So fällt dem Kläger entgegen der Auffassung des Landgerichts kein schuldhafter Verstoß gegen die Bestimmung des § 9 Abs. 3 und 4 StVO zur Last. Dem Kläger ist nicht vorzuwerfen, dass er es als Linksabbieger versäumt habe, das ihm entgegenkommende Fahrzeug der Beklagten durchfahren bzw. nach rechts abbiegen zu lassen.

Grundsätzlich ist zwar ein Linksabbieger gegenüber dem ihm entgegenkommenden Verkehr wartepflichtig und hat deshalb besondere Vorsicht walten zu lassen (vgl. Hentschel u. a.-​König, a. a. O., § 9 StVO Rdn. 29), weshalb bei einem Unfall beim Linksabbiegen ebenfalls ein Anschein für ein schuldhaftes Versäumnis gegen den Linksabbieger spricht (vgl. BGH, NJW2005, S. 1351; NJW-​RR 2007, S. 1077). Im vorliegenden Fall war jedoch das von dem Beklagten zu 3) geführte Fahrzeug noch nicht dem entgegenkommenden Verkehr zuzurechnen, sondern befand sich erst am Ende eines Vorgangs, durch den eine Wiedereingliederung in den fließenden Verkehr erfolgen sollte. Damit fehlt es zugleich an einer typischen Verkehrssituation, welche das alleinige oder zumindest überwiegende Verschulden des Klägers als Linksabbieger nahelegt.

Gleichwohl fällt dem Kläger ein Verstoß gegen das aus § 1 Abs. 2 StVO folgende Rücksichtnahmegebot zur Last, weil er in unklarer Verkehrslage seinen Abbiegevorgang ausgeführt hat, obwohl er nicht sicher sein konnte, dass er diesen ohne Gefährdung des Beklagten zu 3) abschließen konnte. Eine unklare Verkehrslage besteht, wenn ein Fahrer die vor ihm liegende Entwicklung des Verkehrs nicht sicher beurteilen kann. Dem Kläger konnte vorliegend nicht entgangen sein, dass der Beklagte zu 3) die Wiedereingliederung in den fließenden Verkehr zu erreichen suchte und musste in Rechnung stellen, dass dieser ihm keinen Vorrang einräumen würde. Zwar kann, nach den Ausführungen des Sachverständigen Prof. S. nicht festgestellt werden, dass der Kläger mit dem Abbiegen begann, als das Fahrzeug der Beklagten schon in Bewegung war. Vielmehr hat der Sachverständige überzeugend dargelegt, dass im Zeitpunkt des Anfahrens des Klägers der Transporter der Beklagten noch stand. Gleichwohl bestanden Anzeichen für ein unmittelbar bevorstehendes Anfahren durch diesen. Der Unfall geschah bei Dunkelheit. Gleich, ob das Beklagtenfahrzeug aus der Parklücke ausgefahren war und aus Sicht des Beklagten am rechten Fahrbahnrand anhielt, um vom Rückwärtsgang in den Vorwärtsgang zu schalten, oder ob der Transporter am aus seiner Fahrtrichtung linken Fahrbahnrand auf dem Parkstreifen stand, so besteht kein Zweifel, dass das Fahrzeug in Betrieb war und im Zeitpunkt des beiderseitigen Entschlusses zum Anfahren das Abblendlicht bei der seinerzeit herrschenden Dunkelheit eingeschaltet war. Nach den Unfallschilderungen beider Parteien stand das Fahrzeug der Beklagten jeweils in einer Position, in der ein dauerhaftes Verbleiben praktisch auszuschließen war. Der Kläger hätte daher, wie der Sachverständige Prof. S. aufgezeigt hat, den Unfall durch Kontaktaufnahme mit dem Beklagten zu 3) etwa über die Lichthupe oder auch nur durch ein Abbiegen mit geringerem Radius und entsprechend niedriger Geschwindigkeit vermeiden können. Umstände, aufgrund derer der Kläger ein berechtigtes Vertrauen entwickeln konnte, dass das Fahrzeug der Beklagten stehen bleiben würde, sind bei keiner der beiderseitigen Unfallschilderungen ersichtlich.

Bei der gemäß §§ 9 StVG, 254 Abs. 1 BGB gebotenen Abwägung der beiderseitigen Verursachungsbeiträge erwies sich jedoch der Verkehrsverstoß des Beklagten zu 3) als der deutlich gravierendere. Der Beklagte zu 3) hat es in einer generell gefahrträchtigen Verkehrssituation an der von ihm geforderten besonderen Sorgfalt fehlen lassen. Der Verstoß des Klägers gegen das Gebot des vorausschauenden und rücksichtsvollen Verhaltens ist demgegenüber von geringerem Gewicht. Aus diesem Grunde haben die Beklagten nach einer Quote von 75 % für den entstandenen Schaden des Klägers aufzukommen.

Der dem Kläger unfallbedingt entstandene Schaden berechnet sich wie folgt:

1. Wiederbeschaffungsaufwand 7.996,08 €
2. Sachverständigenkosten 845,26 €
3. Nutzungsausfall (14 Tage à 43,00 €) 602,00 €
4. Ummeldekosten 80,00 €
5. Auslagenpauschale 25,00 €
Summe: 9.548,34 €


Hinsichtlich des Wiederbeschaffungsaufwandes ist der Senat von der Berechnung des Klägers in der Klageschrift ausgegangen. Unstreitig betrug der Wiederbeschaffungswert seines Fahrzeuges 10.400,00 € und betrug der Restwert des Fahrzeuges 2.200,00 €. Darüber hinaus war, da der Kläger kein gleichwertiges Fahrzeug erworben hatte, der Mehrwertsteueranteil beim Erwerb des Ersatzfahrzeuges herauszurechnen. Angesichts des Alters des unfallgeschädigten Fahrzeuges ist dabei von einer Differenzbesteuerung auszugehen, wonach lediglich der Gewinn des Händlers, bei dem das Fahrzeug erworben wird, zu versteuern gewesen wäre. Den dabei anfallenden Mehrwertsteueranteil hat der Senat anhand der Ausführungen des Sachverständigen E. im Gutachten vom 09.03.2012 auf rund 2 % geschätzt. Soweit die Beklagten demgegenüber von einer Händlerspanne von 17,5 % am Wiederbeschaffungswert und daher von einem Mehrwertsteueranteil von 286,20 € ausgegangen sind, erschien diese Berechnung nicht vorzugswürdig. Denn die Beklagten erklären nicht, auf Grund welcher Umstände sie die Händlerspanne mit 17,5 % ansetzen. Demgegenüber kann davon ausgegangen werden, dass der Sachverständige E., dessen Schadensberechnung auch im Übrigen von den Parteien zugrundegelegt worden ist, die Besonderheiten des regionalen Marktes berücksichtigt hat, weshalb keine durchgreifenden Bedenken gegen die Richtigkeit seiner Einschätzung sprechen.

Hinsichtlich des Nutzungsausfalls, dessen Länge mit 14 Tagen unstreitig ist, hat das Landgericht hingegen zu Recht nur den Tagessatz der nächst niedrigeren Fahrzeugklasse angesetzt, da nach ständiger Rechtsprechung, welcher der Senat folgt, bei einem mehr als fünf Jahre alten Fahrzeug der Ansatz der nächst niedrigeren Fahrzeuggruppe gerechtfertigt ist (vgl. Palandt-​Grüneberg; BGB, 74. Aufl., § 249 Rdn. 44).

Von dem oben genannten Gesamtschaden kann der Kläger 75 % und damit 7.161,25 € erstattet verlangen. Da die Beklagte zu 1) bereits vorgerichtlich einen Betrag von 2.291,52 € reguliert hat und dem Kläger durch das angefochtene Urteil 2.441,51 € zugesprochen worden waren, verbleibt ein weiterer Betrag in Höhe von 2.428,22 €, hinsichtlich dessen die Berufung Erfolg hat.

Der Zinsanspruch des Klägers beruht auf §§ 280, 286 BGB.

Darüber hinaus haben die Beklagten den Kläger von vorgerichtlichen Anwaltskosten freizustellen, soweit die Einschaltung des Rechtsanwaltes zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung geboten war. Dies ist in Höhe der ursprünglich berechtigten Ansprüche des Klägers in Höhe von 7.161,25 € zu bejahen. Die berechtigte Kostenforderung bei diesem Streitwert berechnet sich daher wie folgt:

Geschäftsgebühr (1,3) 535,60 €
Unkostenpauschale 20,00 €
19 % Mehrwertsteuer 105.56 €
Summe: 661,16 €


Von diesem Betrag waren die vorprozessual regulierten 272,87 € und die erstinstanzlich zugesprochenen 216,58 € abzuziehen, weshalb die Berufung wegen eines weiteren Betrages in Höhe von 171,71 € Erfolg hat. Auch insofern ergibt sich der Zinsanspruch aus §§ 280, 286 BGB.

Die prozessualen Nebenentscheidungen folgen aus §§ 92 Abs. 1, 97 Abs. 1, 708 Nr. 10, 713 ZPO.

Die Zulassung der Revision war nicht geboten, da die Voraussetzungen des § 543 ZPO nicht vorliegen.