Das Verkehrslexikon

A     B     C     D     E     F     G     H     I     K     L     M     N     O     P     Q     R     S     T     U     V     W     Z    

OLG Frankfurt am Main Urteil vom 09.04.2015 - 22 U 238/13 - Zur Bedeutung des Schutzbereichs der Norm für die Haftungsverteilung nach § 17 StVG

OLG Frankfurt am Main v. 09.04.2015: Kollision eines mit überhöhter Geschwindigkeit fahrenden Kraftfahrzeugs mit einem auf der linken Fahrbahn der Autobahn stehenden Rettungswagen


Das OLG Frankfurt am Main (Urteil vom 09.04.2015 - 22 U 238/13) hat entschieden:
  1. Kommt bei Dunkelheit ein schleuderndes Fahrzeug quer auf der linken Fahrbahn der Autobahn zum Stehen, haftet ein darauf folgendes Fahrzeug mit einem Anteil von 25 %, wenn der Fahrer nicht die gemäß §§ 3, 18 VI StVO erforderliche, dem Abblendlicht angepasste Geschwindigkeit eingehalten hat.

  2. Zur Bedeutung des Schutzbereichs der Norm für die Haftungsverteilung nach § 17 StVG.

Siehe auch Fahrgeschwindigkeit und zivilrechtliche Haftung und Auffahren auf Hindernisse


Gründe:

I.

Von der Wiedergabe des Sachverhalts wird gemäß den §§ 540 Abs.2, 313 a ZPO abgesehen, da ein Rechtsmittel gegen das Urteil unzweifelhaft unzulässig ist.


II.

Die zulässige Berufung ist teilweise begründet. Die Klägerin hat gegen die Beklagte gemäß den §§ 7, 17, 18 StVG, 426 BGB, 115 VVG Anspruch auf Ersatz des Schadens, der ihr dadurch entstanden ist, dass sie Ansprüche Dritter in vollem Umfang befriedigt hat.

Die Klägerin hat gegenüber dem geschädigten Beifahrer Aufwendungen gehabt und außerdem Ansprüche der Stadt1 und der Stadt2 befriedigt. Für diese Ansprüche haften Fahrer und Halter der unfallbeteiligten Fahrzeuge gemäß den §§ 7, 17 StVG, 840 BGB als Gesamtschuldner, da sich der Unfall für keine Seite als unabwendbares Ereignis im Sinne des § 17 Abs. 3 StVG darstellt. Die Haftungsverteilung folgt aus § 17 Abs. 1 StVG, der eine Modifikation der grundsätzlich gemäß § 426 BGB bestehenden gesamtschuldnerischen Haftung nach Kopfteilen darstellt und die Haftungsverteilung nach Verursachungsbeiträgen vorsieht. Die Klägerin kann sich insoweit auch auf die Ansprüche der Geschädigten berufen, die gemäß § 426 Abs. 2 BGB auf sie übergegangen sind.

Das Landgericht hat die auf 50 % Haftungsanteil gerichtete Klage der Klägerin mit der Begründung abgewiesen, dass die Geschwindigkeit des bei der Beklagten versicherten Fahrzeugs auf der Autobahn zulässig gewesen sei, Eisglätte auf der Fahrbahn nicht geherrscht habe und die Betriebsgefahr dieses Fahrzeugs in der konkreten Situation vollständig hinter dem Verschulden des klägerischen Fahrzeugs zurücktrete.

Die dagegen eingelegte Berufung hat teilweise Erfolg, weil der Senat angesichts der konkreten Unfallumstände von einer Mithaftung des Fahrzeugs der Beklagten in Höhe von 25 % ausgeht.

Vorrangig ist der Unfall sicherlich durch das Fahrverhalten des Rettungsfahrzeugs verursacht worden, dessen Fahrer nicht die situations- und witterungsangepasste Geschwindigkeit eingehalten hat. Das Fahrzeug schleuderte auf eisglatter Fahrbahn und kam quer zur Fahrbahn auf der Überholspur zum Stehen. In solchen Fällen kann sicherlich, wie das Landgericht zutreffend ausgeführt hat, die einfache Betriebsgefahr des anderen Fahrzeugs in vollem Umfang zurücktreten. Dabei kommt es allerdings nicht, wie das Landgericht ausgeführt hat, auf ein erhöhtes Verschulden einer Seite an. Maßgeblich ist vielmehr, dass der Verursachungsbeitrag einer Seite, der auch durch besonders grobes Verschulden erhöht sein kann, dermaßen überwiegt, dass allein die aus der Nichtbeweisbarkeit eines unabwendbaren Ereignisses folgende Mithaftung des anderen Fahrzeugs in vollem Umfang zurücktreten kann.

Dennoch ergeben sich vorliegend ausreichende Anhaltspunkte, die auch eine erhöhte Verursachungsbeteiligung des bei der Beklagten versicherten Fahrzeugs ergeben.

Dies folgt allerdings nicht bereits aus der Tatsache, dass das Fahrzeug gegen das querstehende Fahrzeug gefahren ist. Die Grundsätze des Anscheinsbeweises, die bei einem Auffahrunfall gelten, sind vorliegend nicht einschlägig, weil es sich gerade nicht um einen Auffahrunfall im gleichgerichteten Verkehr handelt, sondern das Fahrzeug quer zur Fahrbahn stand. Ebenso kann entgegen der Auffassung der Klägerin zu Lasten der Beklagten nicht ein Verstoß gegen das Rechtsfahrgebot berücksichtigt werden, da die konkreten Umstände im fließenden Verkehr auf der Autobahn überhaupt nicht feststehen und mithin auch nicht festgestellt werden kann, ob das Fahrzeug unzulässig auf der linken Fahrbahn gefahren ist. Im Rahmen der Haftungsverteilung nach § 17 Abs. 1 kommt es im Übrigen nicht vorrangig auf den Schutzzweck der Norm einer einzelnen Verkehrsvorschrift an, wie die Beklagtenseite meint. Ein Verkehrsverstoß kann auch unabhängig von der Frage, ob der Gegner in den Schutzbereich der Vorschrift eingebunden ist, in die Haftungsverteilung einbezogen werden (BGH 16.1.07 – VI ZR 248/05 – NZV 07, 354; OLG Hamm 20.9.10 – 6 U 222/09 –; KG 28.12.06 - 12 U 47/06 -).

Dem Landgericht kann allerdings nicht dahingehend gefolgt werden, dass der Fahrer des bei der Beklagten versicherten Fahrzeugs die auf der Autobahn zulässige Geschwindigkeit eingehalten und deshalb keine weitere Möglichkeit zur Abwendung des Unfalls gehabt habe. Angesichts der vom Sachverständigen festgestellten Ausgangsgeschwindigkeit von 115 – 133 km/h widerspricht diese Auffassung bereits der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Einhaltung der Richtgeschwindigkeitsverordnung. Die Überschreitung der Richtgeschwindigkeit begründet zwar keinen Sorgfaltsverstoß, dennoch ist davon auszugehen, dass sich der ideale Fahrer im Sinne des § 17 Abs. 3 StVG an solche sachverständige Feststellungen hält, wonach Geschwindigkeiten über 130 km/h das Unfallrisiko erheblich erhöhen. Sofern die Einhaltung der Richtgeschwindigkeit nicht nachweisbar ist, haftet der betroffene Halter gemäß § 7 StVG, weil er die ideale Fahrweise seines Fahrers im Sinne des § 17 Abs. 3 StVG nicht nachweisen kann, was hier nicht der Fall ist.

Vorliegend kommt es allerdings maßgeblich darauf an, dass sich der Unfall bei Dunkelheit abgespielt hat. Gemäß § 3 Abs. 1 Satz 4 StVO darf nur so schnell gefahren werden, dass innerhalb des sichtbaren Bereichs angehalten werden kann. Dies gilt grundsätzlich auch auf Autobahnen. Gemäß § 18 Abs. 6 StVO muss der Fahrer seine Geschwindigkeit nur dann nicht der Reichweite des Abblendlichts anpassen, wenn die Schlussleuchten eines vorausfahrenden Kraftfahrzeuges klar erkennbar sind und ein ausreichender Abstand eingehalten wird oder der Verlauf der Fahrbahn durch Leiteinrichtungen mit Rückstrahlern und Hindernisse rechtzeitig erkennbar sind. Diese Ausnahme ist von der Beklagtenseite nicht ausreichend bewiesen worden. Soweit sie darauf abstellt, dass auch nach dem Vortrag der Klägerin ein Fahrzeug, das vorher gefahren ist, ohne weiteres an dem Rettungsfahrzeug vorbeifahren konnte, bleibt dieser Vortrag zu vage, um daraus entsprechende Rückschlüsse ableiten zu können. Weder ist die Entfernung des Fahrzeugs ausreichend festgestellt, noch kann dessen konkrete Fahrweise, insbesondere auch welche Fahrspur benutzt wurde, ausreichend eingeschätzt werden.

Angesichts dieser Situation hätte der Fahrer des bei der Beklagten versicherten Fahrzeugs nur eine solche Geschwindigkeit wählen dürfen, dass er innerhalb der Reichweite des Abblendlichts, die mit 60 – 70 Metern angenommen werden kann, zum Stillstand gekommen wäre. Dies entspricht der Entfernung vom Unfallpunkt zum Reaktionspunkt, wie der Sachverständige im Ermittlungsverfahren festgestellt hat. Es ist deshalb der Schluss zulässig, dass bei Einhaltung der situationsangepassten Geschwindigkeit das Fahrzeug der Beklagten entweder noch vor dem anderen Fahrzeug zum Stehen gekommen wäre oder zumindest die Unfallfolgen erheblich geringer ausgefallen wären. Dies reicht als Kausalitätserfordernis aus (OLG Saarbrücken 14.8.14 – 4 U 150/13 –; OLG Frankfurt am Main 15.4.14 – 16 U 213/13 –).

Dabei kann auch dahinstehen, ob das Rettungsfahrzeug bereits mehrere Sekunden auf dem linken Fahrstreifen stand und ob die Warnblinkanlage eingeschaltet war. Wenn das Fahrzeug gerade erst in die Unfallposition gekommen wäre, dann hätte der Fahrer des bei der Beklagten versicherten Fahrzeugs das Fahrzeug zuvor angesichts der Lichter und der unregelmäßigen Situation beim Schleudervorgang wahrnehmen müssen. Wenn es bereits gestanden hätte, hätte er es im Bereich des Abblendlichts als Hindernis wahrnehmen und bei angepasster Geschwindigkeit sein Fahrzeug noch zum Stillstand bringen können.

Angesichts dieses erheblichen Verkehrsverstoßes kann der Haftungsanteil des bei der Beklagten versicherten Fahrzeugs gegenüber dem Verursachungsanteil des Rettungsfahrzeugs nicht in vollem Umfang zurücktreten, weshalb der Senat eine Haftungsverteilung von 25 % zu 75 % zu Lasten des Rettungsfahrzeugs annimmt.

Der vom Senat gemäß § 287 ZPO zu schätzende Schadensumfang ist von der Klägerseite mit insgesamt 20.067,23 € dargelegt worden. Zwar sind die einzelnen Schadenspositionen erst in der Berufungsinstanz vorgetragen worden, eine Zurückweisung wegen Verspätung kommt allerdings nicht in Betracht, da diese Frage erstinstanzlich nicht durch das erkennende Gericht problematisiert worden ist. Da der Beifahrer erst nach einigen Tagen verstorben ist, erschließen sich die für die Bestattung erforderlichen Kosten, die entstandenen Rechtsanwaltsgebühren und auch der gezahlte Schmerzensgeldvorschuss aus diesem Umstand. Sie sind ausreichend durch Rechnungen und Zahlungsnachweise belegt, so dass das einfache Bestreiten der Beklagtenseite im Rahmen des § 287 ZPO für den Senat nicht ausreichend ist. Die an die geschädigten Kommunen gezahlten Beträge sind insoweit unstreitig.

Der Senat geht auch von der Zulässigkeit des Feststellungsantrags aus. Die Annahme der Beklagtenseite, etwaige Ansprüche von Hinterbliebenen seien mittlerweile verjährt, ist nicht auszuschließen, für den Senat allerdings nicht mit der erforderlichen Sicherheit festzustellen. Die Hinterbliebenen des Beifahrers leben unstreitig in Mazedonien, so dass hinsichtlich der für die Verjährung erforderlichen Kenntnis der Hinterbliebenen vom Schaden bzw. Schadensumfang keine sicheren Feststellungen möglich sind. Die absolute Verjährungsfrist des § 199 BGB von zehn Jahren ist noch nicht erreicht. Gerade bei Tötung eines Angehörigen können auch langfristige Unterhalts- und sonstige Schadensersatzansprüche auftreten, deren Bestehen oder Nichtbestehen abschließend noch nicht feststellbar ist.


III.

Die Zinsforderung folgt aus den §§ 286, 288 BGB. Die prozessualen Nebenentscheidungen beruhen auf den §§ 92 II, 708 Nr. 10, 713 ZPO, 26 Nr. 8 EGZPO. Anhaltspunkte für die Zulassung der Revision bestehen nicht.