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BGH Beschluss vom 02.08.2000 - 3 StR 502/99 - Kompensation der Verfahrensverzögerung in der Strafzumessung

BGH v. 02.08.2000: Kompensation der Verfahrensverzögerung in der Strafzumessung


Der BGH (Beschluss vom 02.08.2000 - 3 StR 502/99) hat entschieden:
  1. Auch ein Rechtsanwalt, dem die Verteidigung nicht übertragen ist, kann Revision einlegen und die Begründungsschrift unterzeichnen, wenn er zum Zeitpunkt der Unterzeichnung der Erklärungen zur Einlegung bzw Begründung der Revision bevollmächtigt ist.

  2. Zwar ist eine Verletzung des Beschleunigungsgebots im Revisionsverfahren grundsätzlich nur aufgrund einer entsprechenden Verfahrensrüge zu prüfen. Eine Verfahrensverzögerung kann aber (noch) mit einer Verfahrensrüge geltend gemacht werden, wenn sie im Wesentlichen erst nach Ablauf der Revisionsbegründungsfrist eintritt. In solchen Fällen hat das Revisionsgericht die rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung auf die zulässige Revision des Angeklagten in entsprechender Anwendung von StPO § 354a von Amts wegen zu berücksichtigen.
  3. Im Falle der Zurückverweisung hat der neue Tatrichter das Ausmaß der Kompensation für den vom Revisionsgericht festgestellten Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot des MRK Art 6 Abs 1 S 1 jeweils unter Vergleich der ohne Berücksichtigung des Konventionsverstoßes angemessenen mit der tatsächlich verhängten Strafe ausdrücklich und konkret zu bestimmen.

Siehe auch Lange Verfahrensdauer - Verletzung des Beschleunigungsgebots und Rechtsmittel im Strafverfahren


Gründe:

Das Landgericht Oldenburg hat den Angeklagten wegen Vergewaltigung und wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren und sechs Monaten verurteilt, seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet und der Verwaltungsbehörde untersagt, ihm vor Ablauf von fünf Jahren eine Fahrerlaubnis zu erteilen. Die Revision des Angeklagten hat zum Strafausspruch und zu den Maßregelaussprüchen nach § 63 StGB und §§ 69, 69 a StGB Erfolg; im übrigen ist sie unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.

1. Die durch Rechtsanwalt N. eingelegte und mit der Sachrüge begründete Revision ist zulässig.

Rechtsanwalt N. hat am 26. Februar 1999 rechtzeitig Revision eingelegt. Da erst die Zustellung des Urteils an den Angeklagten am 21. Mai 1999 wirksam erfolgte, war auch die Revisionsbegründung durch Rechtsanwalt N. am 1. Juni 1999 rechtzeitig. Zwar war die erste Zustellung des Urteils an Rechtsanwalt N. am 9. April 1999 unwirksam, da er nicht nach § 145 a Abs. 1 StPO ermächtigt war, Zustellungen für den Angeklagten in Empfang zu nehmen. Er hatte am 9. Februar 1999 das Mandat als Wahlverteidiger niedergelegt, womit die schriftliche Vollmacht vom 13. Oktober 1997 erledigt war (vgl. BGHSt 41, 303, 304); er ist danach nicht zum Pflichtverteidiger bestellt worden. Die Zustellung an den Angeklagten persönlich am 21. Mai 1999 ist hingegen gemäß § 37 Abs. 1 StPO i.V.m. §§ 211, 212, 195 Abs. 2, 191 ZPO wirksam erfolgt.

Der Wirksamkeit der Revisionseinlegung und -begründung durch Rechtsanwalt N. steht nicht entgegen, dass er das Wahlverteidigermandat niedergelegt hatte, aber nicht zum Pflichtverteidiger bestellt worden war. Es kann offen bleiben, ob bereits darin, dass Rechtanwalt N. in der Hauptverhandlung mit Willen des Angeklagten als dessen Verteidiger aufgetreten ist, eine konkludente Wiedererteilung eines Wahlverteidigermandats gesehen werden kann. Denn auch ein Rechtsanwalt, dem die Verteidigung nicht übertragen ist, kann Revision einlegen und die Begründungsschrift unterzeichnen, wenn er zum Zeitpunkt der Unterzeichnung der Erklärungen zur Einlegung bzw. Begründung der Revision bevollmächtigt ist (vgl. Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO 44. Aufl. § 341 Rdn. 3, § 345 Rdn. 12); dies war der Fall, wie sich aus dem mit der Revisionsbegründung verbundenen Wiedereinsetzungsgesuch vom 1. Juni 1999 ergibt, in dem Rechtsanwalt N. anwaltlich versichert hat, dass der Angeklagte ihn mit der Einlegung der Revision beauftragt habe, wie auch durch die Einlegung der Revision am Tag des Urteils dokumentiert werde. Der Angeklagte habe davon ausgehen können, dass innerhalb der Rechtsmittelfrist ein Rechtsmittel eingelegt und begründet werden würde.

Das Wiedereinsetzungsgesuch vom 1. Juni 1999 ist -wie bereits der Generalbundesanwalt zutreffend ausgeführt hat -deshalb gegenstandslos; ebenso das Wiedereinsetzungsgesuch vom 27. Dezember 1999 durch den am 9. Dezember 1999 bestellten Pflichtverteidiger L. .

2. Die Revision ist in dem aus der Beschlussformel ersichtlichen Umfang begründet.

a) Die mit Schriftsatz vom 2. Mai 2000 erhobenen Verfahrensrügen sind unzulässig, weil sie nicht innerhalb der Revisionsbegründungsfrist angebracht worden sind. Die Revision hat jedoch mit der Sachrüge zum gesamten Rechtsfolgenausspruch Erfolg.

Zwar sind die verhängten Einzelfreiheitsstrafen von sechs Jahren und zweimal sechs Monaten, die Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren und sechs Monaten und die diesen Strafen zugrundeliegenden Feststellungen an sich nicht zu beanstanden. Der Strafausspruch unterliegt aber deshalb der Aufhebung, weil das Revisionsgericht von Amts wegen zu berücksichtigen hat, wenn das Verfahren nach Erlass des tatrichterlichen Urteils in erheblicher Weise unter Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot des Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK verzögert worden ist. Zwar ist eine Verletzung des Beschleunigungsgebots im Revisionsverfahren grundsätzlich nur aufgrund einer entsprechenden Verfahrensrüge zu prüfen (BGHR StGB § 46 II Verfahrensverzögerung 12; BGHR MRK Art. 6 Abs. 1 Satz 1 Verfahrensverzögerung 7, 9; BGH NJW 2000, 748; BGH, Beschl. vom 21. Januar 2000 -3 StR 367/99). Eine Verfahrensverzögerung kann aber (noch) nicht mit einer Verfahrensrüge geltend gemacht werden, wenn sie im wesentlichen erst nach Ablauf der Revisionsbegründungsfrist eintritt. In solchen Fällen hat das Revisionsgericht die rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung auf die zulässige Revision eines Angeklagten in entsprechender Anwendung des § 354 a StPO von Amts wegen zu berücksichtigen (BGHR StGB § 46 II Verfahrensverzögerung 8; BGH StV 1998, 377; BGH wistra 1999, 261). Der Senat hat nach Auswertung des Akteninhalts im Wege des Freibeweises festgestellt, dass nach Urteilsverkündung die fehlerhafte Sachbehandlung durch die Strafverfolgungsbehörden eine Verfahrensverzögerung von annähernd einem Jahr zur Folge hatte.

Die Akten sind beim Revisionsgericht am 16. Juni 2000, d.h. erst knapp sechzehn Monate nach der am 24. Februar 1999 erfolgten Urteilsverkündung eingegangen. Aufgrund des Umstandes, dass der Vorsitzende der Strafkammer das Schreiben des Rechtsanwalts N. vom 9. Februar 1999, mit dem dieser das Wahlverteidigermandat niedergelegt hatte, erst am 14. Mai 1999 zur Kenntnis genommen hat, wurde dem Angeklagten nicht umgehend, d.h. vor der Hauptverhandlung vom 24. Februar 1999, ein Pflichtverteidiger bestellt. Dies führte nicht nur dazu, dass die erste Zustellung des Urteils an Rechtsanwalt N. vom 9. April 1999 unwirksam war, sondern auch zu Zweifeln bei den Verfahrensbeteiligten darüber, ob Rechtsanwalt N. zur Revisionseinlegung und -begründung überhaupt bevollmächtigt war. Dennoch wurde dem Angeklagten auch am 14. Mai 1999 noch kein Pflichtverteidiger bestellt. Dies geschah erst am 9. Dezember 1999. Zudem waren Bedenken gegen eine wirksame Bevollmächtigung des Rechtsanwalts N. spätestens durch das Wiedereinsetzungsgesuch vom 1. Juni 1999 die Grundlage entzogen, in dem dieser mit Willen des Angeklagten in der Hauptverhandlung als Verteidiger aufgetretene Rechtsanwalt anwaltlich versicherte, der Angeklagte habe ihn unverzüglich mit der Einlegung der Revision beauftragt gehabt. Bereits nach Eingang der mit dem genannten Wiedereinsetzungsantrag verbundenen Revisionsbegründung vom 1. Juni 1999 und nicht erst nach zahlreichen weiteren überflüssigen Verfahrenshandlungen hätte die Akte über die Staatsanwaltschaft und den Generalbundesanwalt dem Senat vorgelegt werden müssen, der dann spätestens im Herbst 1999 statt Anfang August 2000 über die Revision entschieden hätte.

Eine Sachentscheidung, d.h. eine Herabsetzung der verhängten Einzelfreiheitsstrafen und der Gesamtfreiheitsstrafe durch den Senat kommt nicht in Betracht, weil angesichts der maßvollen Strafen nicht ausgeschlossen werden kann, dass der neue Tatrichter auch unter Berücksichtigung des Verstoßes gegen das Beschleunigungsgebot gleich hohe (vgl. dazu BGHSt 45, 308 = NJW 2000, 748) oder nur unwesentlich niedrigere Strafen verhängen wird. Der neue Tatrichter hat dabei allerdings das Ausmaß der Kompensation für den vom Senat festgestellten Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot des Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK jeweils unter Vergleich der ohne Berücksichtigung des Konventionsverstoßes angemessenen mit der tatsächlich verhängten Strafe ausdrücklich und konkret zu bestimmen (BGH NStZ 1999, 181 f. m.w.Nachw.).

b) Die Anordnung der Unterbringung des Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus hat, auch schon für sich genommen, ebenfalls keinen Bestand.

Das Landgericht ist sachverständig beraten davon ausgegangen, bei dem Angeklagten müsse aufgrund des spezifischen Zusammenwirkens von einer leichten Intelligenzminderung und persönlichkeitsspezifischen Faktoren in der Phase einer familiären Belastungssituation sowie einer alkoholischen Enthemmung (max. BAK 1 -1,5 %o) von einer erheblich verminderten Steuerungsfähigkeit ausgegangen werden. Auch seien von ihm infolge seines Zustandes, vornehmlich der leichten Intelligenzminderung, weitere erhebliche Straftaten zu erwarten, so dass der Angeklagte für die Allgemeinheit gefährlich sei. Damit hat das Landgericht aber weder hinreichend die Voraussetzungen einer positiv festzustellenden erheblich verminderten Schuldfähigkeit i.S.d. § 21 StGB dargelegt, noch das Vorliegen eines dauerhaften Zustandes i.S.d. § 63 StGB begründet. Zwar könnte für einen solchen Zustand der Umstand sprechen, dass der Angeklagte lediglich über einen IQ von 49 verfügt, jedoch ergibt sich dies nicht eindeutig aus den bisherigen Urteilsausführungen, da das Landgericht, ersichtlich dem Sachverständigen folgend, durchgängig von einer "leichten Intelligenzminderung" ausgeht, ohne dies näher zu begründen. Eine erhebliche Beeinträchtigung der Persönlichkeit des Angeklagten und der Schuldfähigkeit bei der konkreten Tatausführung versteht sich danach nicht von selbst. Auch die für eine Unterbringung nach § 63 StGB erforderliche Gefährlichkeitsprognose ist nur unzureichend begründet. Diese erfordert eine eingehende Gesamtwürdigung des Täters und der Tat. Das Landgericht legt nicht dar, warum nunmehr die schon in der Vergangenheit vorliegende Intelligenzminderung die Gefahr weiterer erheblicher Straftaten des Angeklagten begründen soll. Bisher hat er neben leichteren Verkehrsstraftaten Eigentumsdelikte begangen. Ob diese auf die Intelligenzminderung zurückzuführen sind, teilt die Strafkammer nicht mit. Bei der abgeurteilten Vergewaltigung handelt es sich um die erste Straftat, bei der der Angeklagte Gewalt gegen Personen angewendet hat. Die Strafkammer prüft ferner nicht, ob es sich nicht um eine Gelegenheits- oder Konfliktstat handelt, die unabhängig von einem möglicherweise festzustellenden dauerhaften (krankhaften) Zustand begangen worden sein kann (vgl. BGH NStZ 1985, 309; 1991, 528; Lackner StGB 23. Aufl. § 63 Rdn. 6 ff. m.w.Nachw.).

c) Der Maßregelausspruch gemäß § 69 a Abs. 1 Satz 3, § 69 Abs. 1 StGB begegnet ebenfalls rechtlichen Bedenken, weil die isolierte Sperrfrist von fünf Jahren nur formelhaft begründet ist.