Das Verkehrslexikon

A     B     C     D     E     F     G     H     I     K     L     M     N     O     P     Q     R     S     T     U     V     W     Z    

Kammergericht Berlin Beschluss vom 13.05.2015 - 3 Ws (B) 42/15 - 162 Ss 2/15 - Kein Absehen vom Fahrverbot bei Ablenkung durch einen plötzlich abbiegenden Motorradfahrer

KG Berlin v. 13.05.2015: Kein Absehen vom Fahrverbot bei Ablenkung durch einen plötzlich abbiegenden Motorradfahrer


Das Kammergericht Berlin (Beschluss vom 13.05.2015 - 3 Ws (B) 42/15 - 162 Ss 2/15) hat entschieden:
Der Verordnungsgeber geht davon aus, dass ein "qualifizierter" Rotlichtverstoß, bei dem der Fahrzeugführer die Haltelinie der Lichtzeichenanlage bei schon länger als eine Sekunde andauerndem Rotlicht passiert, regelmäßig eine grobe Pflichtverletzung darstellt, ohne dass dies weiterer Begründung bedarf. Einer Begründung bedarf es vielmehr, wenn der Tatrichter aus besonderen Umständen meint, das Regelfahrverbot nicht verhängen zu müssen. Allein die Ablenkung durch einen "plötzlich abbiegenden Motorradfahrer", mithin einem im Großstadtverkehr häufig vorkommenden normalen Verkehrsvorgang, ist nicht geeignet, einen ganz besonderen Ausnahmefall , zu begründen.


Siehe auch Augenblicksversagen und Rotlichtverstöße und Der qualifizierte Rotlichtverstoß


Gründe:

Das Amtsgericht hat den Betroffenen aufgrund eines im Schuldspruch bestandskräftigen Bußgeldbescheides wegen (fahrlässiger) Zuwiderhandlung gegen §§ 37 Abs. 2 Nr. 1 Satz 7, 49 Abs. 3 Nr. 2 StVO nach § 24 StVG zu einer Geldbuße von 400,00 Euro verurteilt. Von der Verhängung des in Nr. 132.3 BKat vorgesehenen Regelfahrverbots hat das Amtsgericht abgesehen. Die dagegen gerichtete Rechtsbeschwerde der Amtsanwaltschaft Berlin, mit der die Verletzung sachlichen Rechts gerügt wird, ist nach § 79 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 OWiG im Hinblick auf das Absehen von dem im Bußgeldbescheid verhängten Fahrverbot zulässig. Sie hat (vorläufigen) Erfolg.

Zu Recht beanstandet die Beschwerdeführerin, dass das angefochtene Urteil ein Absehen von der Anordnung des in Nr. 132.3 BKat vorgesehenen Regelfahrverbots nicht rechtsfehlerfrei begründet. Ausweislich des Bußgeldbescheides befuhr der Betroffene am 26. Februar 2014 mit dem Kleintransporter mit dem amtlichen Kennzeichen XXX den Tempelhofer Damm und missachtete in Höhe der Hausnummer 117 das Rotlicht der dortigen Lichtzeichenanlage, wobei die Rotlichtphase bereits länger als eine Sekunde andauerte. Damit liegen die Voraussetzungen der Verhängung eines einmonatigen Regelfahrverbots nach § 4 Abs. 1 Nr. 3 BKatV i.V.m. Nr. 132.3 der Anlage zu § 1 Abs. 1 BKatV vor. Dies indiziert verfassungsrechtlich unbedenklich (vgl. BVerfG NZV 1996, 284 ff.) das Vorliegen eines groben Verstoßes des Betroffenen gegen die Pflichten eines Kraftfahrzeugführers im Sinne von § 25 Abs. 1 Satz 1 StVG mit der Folge, dass es regelmäßig der Anordnung eines Fahrverbots bedarf (vgl. BGHSt 43, 241, 247; Senat in ständiger Rechtsprechung, u. a. Beschluss vom 8. Oktober 2014 - 3 Ws (B) 488/14 m.w.N.).

Ein Absehen vom Regelfahrverbot bedarf nicht nur einer ausführlichen Begründung, sondern einer umfassenden und kritischen Prüfung der von dem Betroffenen vorgetragenen Tatsachen. Sie muss ergeben, dass die Tatumstände so erheblich zugunsten des Betroffenen von dem Regelfall abweichen, dass es sich um einen ganz besonderen Ausnahmefall handelt, den der Verordnungsgeber mit der Regelung des Bußgeldkataloges und dem dort normierten Regelfahrverbot nicht erfassen wollte, oder aber, dass die Anordnung der Maßregel für den Betroffenen eine ganz außergewöhnliche Härte darstellt, die er nicht durch für ihn zumutbare Maßnahmen abfedern kann (vgl. Senat, Beschlüsse vom 18. Juni 2014 - 3 Ws (B) 311/14 - und 30. Oktober 2013 - 3 Ws (B) 524/13 -, jeweils m.w.N.). Dem tatrichterlichen Beurteilungsspielraum sind dabei jedoch aus Gründen der Gleichbehandlung und Rechtssicherheit enge Grenzen insoweit gesetzt, als die Feststellungen die tatrichterliche Annahme eines Ausnahmefalles nachvollziehbar erscheinen lassen müssen (vgl. Senat a.a.O.). Diesen Anforderungen genügen die Gründe des angefochtenen Urteils nicht.

Das Amtsgericht hat dazu einerseits ausgeführt, der Betroffene habe glaubhaft angegeben, er sei als Haushandwerker einer Wohnungsverwaltungsgesellschaft für mehrere über das Stadtgebiet von Berlin verteilte Objekte verantwortlich. Pro Tag habe er jeweils mehrere Aufträge zu erfüllen, für die er Werkzeug benötige, welche er nur in einem Kraftfahrzeug transportieren könne. Dabei sei er immer allein mit dem Fahrzeug unterwegs. Aufgrund seines Verdienstes sei er nicht in der Lage, einen Fahrer einzustellen. Da er ausschließlich als Haushandwerker eingestellt worden sei, sei er im Betrieb nicht anders einsetzbar. Nach seinem Arbeitsvertrag sei ein zusammenhängender Urlaub nur bis zu drei Wochen möglich. Das Amtsgericht hat in diesen Umständen, die es gemeint hat, nicht widerlegen zu können, in der Verhängung eines Fahrverbots eine außergewöhnliche Härte gesehen, die zu einem möglichen Existenzverlust des Betroffenen führen könne.

Die Urteilsgründe lassen jedoch schon Anhaltspunkte dafür, dass das Amtsgericht die Einlassung des Betroffenen der bei einem Verzicht auf die Verhängung eines Fahrverbots erforderlichen besonders kritischen Prüfung unterzogen hat (vgl. Senat, Beschluss vom 18. Juni 2014 - 3 Ws (B) 311/14 - m.w.N.), nicht erkennen. Allein die berufliche Angewiesenheit auf eine Fahrerlaubnis rechtfertigt ein Absehen vor der Auferlegung eines Fahrverbots nicht (vgl. Senat VRS 111, 441 und Beschluss vom 23. Dezember 2008 - 3 Ws (B) 478/08 - jeweils m.w.N.). Hier ist auch nicht ansatzweise erkennbar, dass das Amtsgericht den Vortrag des Betroffenen, ihm drohe im Falle eines Fahrverbots der Verlust seines Arbeitsplatzes, einer Überprüfung, zum Beispiel durch Nachfrage bei dem Arbeitgeber, unterzogen hat.

Auch soweit das Amtsgericht von der Verhängung des Regelfahrverbots abgesehen hat, weil der Betroffene wegen eines plötzlich abbiegenden Motorradfahrers abgelenkt gewesen sei, tragen die Urteilsgründe diese Entscheidung nicht. Das Amtsgericht geht selbst nicht von einem typischen Augenblicksversagen aus (UA S. 3). Vielmehr wird ohne nähere Begründung lediglich mitgeteilt, es sei nicht zu erkennen, dass der Betroffene unter schwerer Missachtung der Pflichten eines Kraftfahrzeugführers gehandelt habe. Diese Ausführungen verkennen die Indizwirkung der im Bußgeldkatalog normierten Fälle für die Verhängung eines Regelfahrverbots. Der Verordnungsgeber geht davon aus, dass ein „qualifizierter“ Rotlichtverstoß, bei dem der Kraftfahrer die Haltlinie der Lichtzeichenanlage bei schon länger als eine Sekunde andauerndem Rotlicht passiert, regelmäßig eine grobe Pflichtverletzung darstellt, ohne dass die weiterer Begründung bedarf. Der (ausführlichen) Begründung bedarf es vielmehr in dem Fall, in dem der Tatrichter aus besonderen Umständen meint, das Regelfahrverbot nicht verhängen zu sollen. Allein die Ablenkung durch einen „plötzlich abbiegenden Motorradfahrer“ (UA S. 3), mithin einem im Großstadtverkehr häufig vorkommenden normalen Verkehrsvorgang, ist nicht geeignet, einen ganz besonderen Ausnahmefall, den der Verordnungsgeber mit der Regelung des Bußgeldkataloges und dem dort normierten Regelfahrverbot nicht erfassen wollte, zu begründen.

Der Senat hebt daher das angefochtene, nur noch den Rechtsfolgenausspruch betreffende Urteil auf und verweist die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde, an das Amtsgericht zurück.