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Verwaltungsgericht Düsseldorf Beschluss vom 31.05.2016 - 14 L 1611/16 - Anordnung eines Facharztgutachtens bei hochgradiger Schwerhörigkeit

VG Düsseldorf v. 31.05.2016: Anordnung eines Facharztgutachtens bei hochgradiger Schwerhörigkeit und Herz- und Gefäßkrankheiten


Das Verwaltungsgericht Düsseldorf (Beschluss vom 31.05.2016 - 14 L 1611/16) hat entschieden:
Die Anordnung einer fachärztlichen Begutachtung nach § 11 Abs. 2 FeV dient der Klärung von Eignungszweifeln, so dass dafür erforderlich aber auch ausreichend ist, dass aufgrund konkreter tatsächlicher Anhaltspunkte berechtigte Zweifel an der Kraftfahreignung des Betroffenen bestehen. Die tatsächlichen Feststellungen müssen den Eignungsmangel als naheliegend erscheinen lassen. "Bedenken" in diesem Sinne verlangen tatsächliche Hinweise auf Umstände, die für die Verkehrssicherheit in so hohem Maße bedeutsam sind, dass die bisher für die Eignungsbeurteilung zugrunde liegenden Tatsachen fachlich überprüft werden müssen. Dies ist gemäß Nr. 2 der Anlage 4 zur FeV bei hochgradiger Schwerhörigkeit der Fall und nach Nr. 4 der Anlage 4 zur FeV bei näher bezeichneten Herz- und Gefäßkrankheiten.


Siehe auch Krankheiten und Fahrerlaubnis und Stichwörter zum Thema Fahrerlaubnis und Führerschein


Gründe:

Der sinngemäße Antrag des Antragstellers,
die aufschiebende Wirkung der Klage 14 K 1611/16 gegen die Ordnungsverfügung der Antragsgegnerin vom 18. April 2016 wiederherzustellen bzw. anzuordnen,
hat keinen Erfolg.

Der Antrag ist zulässig, jedoch unbegründet.

Nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO kann das Gericht die aufschiebende Wirkung einer Klage gegen einen belastenden Verwaltungsakt wiederherstellen bzw. anordnen, wenn bei einer Interessenabwägung das private Interesse des Antragstellers an der Wiederherstellung bzw. Anordnung der aufschiebenden Wirkung gegenüber dem öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung überwiegt. Dies kommt dann in Betracht, wenn die angefochtene Verfügung offensichtlich rechtswidrig ist oder aus anderen Gründen das Interesse des Antragstellers an der beantragten Aussetzung der Vollziehung das öffentliche Interesse an der sofortigen Durchsetzbarkeit des Verwaltungsaktes überwiegt.

Diese Voraussetzungen sind nicht erfüllt. Vorliegend überwiegt das öffentliche Vollzugsinteresse das private Aussetzungsinteresse des Antragstellers.

In formeller Hinsicht genügt die Anordnung der sofortigen Vollziehung dem in § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO normierten Begründungserfordernis. Die Antragsgegnerin war sich des Ausnahmecharakters der sofortigen Vollziehung bewusst und hat dies in der angefochtenen Verfügung hinreichend zum Ausdruck gebracht. Dem stehen auch möglicherweise formelhaft klingende Wendungen angesichts der Vielzahl vergleichbarer Verfahren und der jeweils sehr ähnlich gelagerten widerstreitenden Interessen nicht entgegen.
Vgl. Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-​Westfalen (OVG NRW), Beschluss vom 19. März 2012 - 16 B 237/12 -, Rn. 2, juris; Verwaltungsgerichtshof (VGH) Bayern, Beschluss vom 15. Juni 2009 - 11 CS 09.373 -, Rn. 19, juris; VG Düsseldorf, Beschluss vom 16. Januar 2012- 6 L 1971/11 -, Rn. 2, juris.#
Das Erlassinteresse und das Interesse an der sofortigen Vollziehung können - gerade im Gefahrenabwehrrecht - durchaus zusammenfallen, wobei die Frage, ob die Abwägung inhaltlich tragfähig ist, keinen Aspekt des Formerfordernisses gemäß § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO darstellt.
Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 19. März 2012 - 16 B 237/12 -, Rn. 2, juris; OVG NRW, Beschluss vom 8. August 2008 - 13 B 1122/08 -, Rn. 4, 6, juris.
In materieller Hinsicht erweist sich die angefochtene Ordnungsverfügung der Antragsgegnerin vom 18. April 2016 bei der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes gebotenen summarischen Prüfung als offensichtlich rechtmäßig. Die in der Hauptsache erhobene Klage wird voraussichtlich erfolglos bleiben.

Die Verfügung findet ihre Rechtsgrundlage in § 3 Abs. 1 Satz 1 des Straßenverkehrsgesetzes (StVG) in Verbindung mit § 46 Abs. 1 der Verordnung über die Zulassung von Personen zum Straßenverkehr (Fahrerlaubnis-​Verordnung, FeV). Nach dieser Vorschrift hat die Fahrerlaubnisbehörde die Fahrerlaubnis zu entziehen, wenn sich ihr Inhaber als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen erweist. Davon ist auszugehen, wenn Erkrankungen oder Mängel nach den Anlagen 4, 5 oder 6 (zu den §§ 11, 13 und 14 FeV) vorliegen und dadurch die Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen ausgeschlossen ist. Dies ist gemäß Nr. 2 der Anlage 4 zur FeV bei hochgradiger Schwerhörigkeit der Fall und nach Nr. 4 der Anlage 4 zur FeV bei näher bezeichneten Herz- und Gefäßkrankheiten. Außerdem darf die Fahrerlaubnisbehörde gemäß § 11 Abs. 8 FeV von der fehlenden Kraftfahreignung ausgehen, wenn der Betroffene sich weigert, sich untersuchen zu lassen oder ein (rechtmäßig) angefordertes Gutachten nicht (rechtzeitig) beibringt.

Danach ist die Antragsgegnerin zu Recht davon ausgegangen, dass der Antragsteller zum Führen von Kraftfahrzeugen nicht geeignet ist. Denn der Antragsteller ist der nach § 11 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2, § 11 Abs. 6 FeV rechtmäßigen Begutachtungsaufforderung nicht nachgekommen.

Nach § 11 Abs. 1 Satz 2 FeV sind die an einen Fahrerlaubnisbewerber bzw. -inhaber zu stellenden notwendigen körperlichen und geistigen Anforderungen insbesondere nicht erfüllt, wenn eine Erkrankung oder ein Mangel nach der Anlage 4 oder 5 zu den §§ 11, 13 und 14 FeV vorliegt, wodurch die Eignung oder die bedingte Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen ausgeschlossen wird. Nach § 11 Abs. 2 Satz 1 FeV kann die Fahrerlaubnisbehörde zur Klärung der Eignung eines Betroffenen zum Führen eines Kraftfahrzeuges ein Gutachten, z.B. eines Arztes des Gesundheitsamtes (§ 11 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 FeV) anordnen, wenn Tatsachen bekannt werden, die Bedenken gegen die körperliche oder geistige Eignung begründen.

Eine Begutachtungsanordnung nach § 11 Abs. 2 FeV dient der Klärung von Eignungszweifeln, so dass für die auf § 11 Abs. 2 FeV gestützte Anordnung, ein ärztliches Gutachten vorzulegen, erforderlich aber auch ausreichend ist, dass aufgrund konkreter tatsächlicher Anhaltspunkte berechtigte Zweifel an der Kraftfahreignung des Betroffenen bestehen. Die tatsächlichen Feststellungen müssen den Eignungsmangel als naheliegend erscheinen lassen. "Bedenken" in diesem Sinne verlangen tatsächliche Hinweise auf Umstände, die für die Verkehrssicherheit in so hohem Maße bedeutsam sind, dass die bisher für die Eignungsbeurteilung zugrunde liegenden Tatsachen fachlich überprüft werden müssen.
Vgl. OVG Niedersachsen, Beschluss vom 11. April 2005 - 12 ME 540/04 -, ZfS 05, S. 575;VGH Baden-​Württemberg, Urteil vom 28. Oktober 2004 - 10 S 475/04 -, VRS 108, S. 127 ff.;Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 43. Aufl., 2015, § 11 FeV, Rdnr. 23.
Andererseits reicht ein bloß entfernter Verdacht eines körperlichen oder geistigen Mangels für die Tatbestandsmäßigkeit des § 11 Abs. 2 FeV nicht aus (keine Anordnung einer Untersuchungsmaßnahme "ins Blaue" hinein).
Vgl. BVerwG, Urteil vom 5. Juli 2001 - 3 C 13/01 -, NJW 2002, 78 f. und juris.
Hiervon ausgehend erweist sich die Gutachtensanforderung in Form der Einverständniserklärung vom 8. Januar 2016 als materiell rechtmäßig. Es bestanden zum damaligen Zeitpunkt tatsächlich, hinreichend Anhaltspunkte, die bei vernünftiger Einschätzung die ernsthafte Besorgnis begründeten, dass bei dem Antragsteller ein körperlicher Mangel i. S. der Anlage 4 zu den §§ 11, 13 und 14 FeV vorliegt, der Bedenken an seiner Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen zu begründen vermochte.

Vorliegend sind ausreichende Anhaltspunkte dafür gegeben, dass bei dem Antragsteller körperliche Mängel im Sinne der Anlage 4 zu den §§ 11, 13 und 14 FeV) vorliegen. Zum einen haben Polizeibeamte nach einem durch den am 00.00.1938 geborenen Antragsteller verursachten Verkehrsunfall festgestellt, dass "die gesamte Unterhaltung mit Herrn I. träge gewesen sei und auf eine langsame Informationsverarbeitung und ein langsames Gedächtnis hindeute".

Zum anderen hat der Mitarbeiter der Antragsgegnerin bei der Vorsprache des Antragstellers am 8. Januar 2016 "eine gewisse Kurzatmigkeit" und Schwerhörigkeit festgestellt. Der Antragsteller selbst hat schließlich angegeben, wegen einer Herzerkrankung in ständiger ärztlicher Behandlung zu sein. Wenn auch der Vortrag des Antragstellers im Anhörungsverfahren und im gerichtlichen Verfahren, seine Konzentrationsfähigkeit sei nach dem Unfallgeschehen gemindert gewesen, die Hörschwierigkeiten seien auf eine akute Ohrenentzündung und die Kurzatmigkeit auf ein Treppensteigen zurückzuführen, plausibel erscheinen, sind sie dennoch allein nicht geeignet, die bestehenden Bedenken an der geistigen und körperlichen Eignung auszuräumen. Daher ist jedenfalls zweifelhaft, ob bei dem Antragsteller noch eine uneingeschränkte Fahrtauglichkeit gegeben ist. Diese Überprüfung ist allein durch das angeordnete Gutachten möglich, zumal der Antragsteller seinen Vortrag nicht selbst durch ärztliche Bescheinigungen belegt hat.

Die Begutachtung durch einen Arzt des Gesundheitsamts (§ 11 Abs. 2 Satz 3 FeV) vornehmen zu lassen, ist nicht zu beanstanden. Da bei der gegebenen Sachlage eine Ermessensreduzierung auf Null anzunehmen ist, konnte die Antragsgegnerin auch ausführen, dass die Anordnung einer ärztlichen Untersuchung erforderlich ist.

Die Gutachtenaufforderung genügt auch den formellen Anforderungen des § 11 Abs. 6 FeV, da sie sowohl die Rechtsgrundlagen nennt als auch die konkreten Fragestellungen enthält. Ebenso wird der Antragsteller auf die Folgen der Nichtvorlage des Gutachtens hingewiesen.

Da der Antragsteller das geforderte Gutachten nicht vorgelegt hat, hat die Antragsgegnerin nach § 11 Abs. 8 FeV zu Recht die fehlende Kraftfahreignung des Antragstellers unterstellt und dies zum Anlass der Entziehung der Fahrerlaubnis genommen. Es ist nichts dafür ersichtlich, dass die Weigerung der Vorlage mit beachtlichen Gründen erfolgte.
Vgl. dazu OVG NRW, Beschluss vom 22. November 2001 - 19 B 814/01 - Neue Zeitschrift für Verkehrsrecht 2002, S. 427 (428/431); Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 43. Aufl., 2015, § 11 FeV, Rdnr. 51 ff.
Die Interessenabwägung fällt auch im Übrigen zulasten des Antragstellers aus. Denn in aller Regel trägt allein die voraussichtliche Rechtmäßigkeit einer auf den Verlust der Kraftfahreignung gestützten Ordnungsverfügung die Aufrechterhaltung des Sofortvollzugs. Zwar kann die Fahrerlaubnisentziehung die persönliche Lebensführung und damit die Wahrnehmung grundrechtlicher Freiheiten des Erlaubnisinhabers gravierend beeinflussen. Derartige Folgen, die bis zur Vernichtung der wirtschaftlichen Existenzgrundlage reichen können, muss der Betroffene jedoch angesichts des von fahrungeeigneten Verkehrsteilnehmern ausgehenden besonderen Risikos für die Sicherheit des öffentlichen Straßenverkehrs und des aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 Grundgesetz (GG) ableitbaren Auftrags zum Schutz vor erheblichen Gefahren für Leib und Leben hinnehmen.
Vgl. Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Kammerbeschluss vom 20. Juni 2002 - 1 BvR 2062/96 -, Rn. 50 ff., juris; BVerfG, Beschluss vom 25. September 2000 - 2 BvQ 30/00 -, Rn. 4, juris; OVG NRW, Beschluss vom 11. September 2012 - 16 B 944/12 -, Rn. 11, juris; OVG NRW, Beschluss vom 29. Oktober 2012 - 16 B 1106/12 -, Rn. 7, juris.
Rechtliche Bedenken gegen die in der Ordnungsverfügung vom 18. April 2016 getroffenen sonstigen Entscheidungen bestehen ebenfalls nicht.

Die Verpflichtung zur Abgabe des Führerscheins folgt aus § 3 Abs. 2 Satz 3 StVG i.V.m. § 47 Abs. 1 Satz 1 FeV. Die mit der Fahrerlaubnisentziehung verbundene Zwangsgeldandrohung ist gemäß §§ 55 Abs. 1, 57 Abs. 1 Nr. 2, 60, 63 des Verwaltungsvollstreckungsgesetzes für das Land Nordrhein-​Westfalen (VwVG NRW) rechtmäßig.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.

Die Festsetzung des Streitwertes beruht auf § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 2 Gerichtskostengesetz (GKG). Das Interesse an der Fahrerlaubnis der betroffenen Klassen wird in Klageverfahren nach der Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-​Westfalen,
vgl. OVG NRW, Beschluss vom 29. Oktober 2012 - 16 B 1106/12 -, Rn. 9, juris,
der das Gericht folgt, mit dem Auffangwert des GKG angesetzt. Im Verfahren betreffend die Gewährung vorläufigen gerichtlichen Rechtsschutzes ermäßigt sich dieser Betrag um die Hälfte.



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