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OLG Karlsruhe Beschluss vom 08.10.2015 - 9 U 64/14 - Einfahren von zwei Kraftfahrzeugen von gegenüberliegenden Parkplätzen auf dieselbe Straße

OLG Karlsruhe v. 08.10.2015: Haftung beim Einfahren von zwei Kraftfahrzeugen von gegenüberliegenden Parkplätzen auf dieselbe Straße Leitsatz


Das OLG Karlsruhe (Beschluss vom 08.10.2015 - 9 U 64/14) hat entschieden:
  1. Wer aus einem Parkplatz auf eine Straße fährt, muss sich gem. § 10 Satz 1 StVO so verhalten, dass auch ein Verkehrsteilnehmer, der zur gleichen Zeit von einem gegenüberliegenden Parkplatz auf dieselbe Straße einfährt, nicht gefährdet wird.

  2. Fahren zwei Kraftfahrzeuge von gegenüberliegenden Parkplätzen auf eine Straße, gibt es keinen Vorrang des nach rechts einbiegenden Fahrzeugs gegenüber dem von der anderen Straßenseite nach links einbiegenden Fahrzeug. § 9 Abs. 4 StVO ist beim Einfahren von Grundstücken oder Parkplätzen auf eine Straße weder direkt noch entsprechend anwendbar.

Siehe auch Parken im Zivilrecht und Stichwörter zum Thema Halten und Parken


Gründe:

I.

Der Kläger macht Schadensersatzansprüche nach einem Verkehrsunfall geltend.

Am 12.04.2013 befand sich der Kläger mit seinem Leichtkraftrad-​Roller auf dem Parkplatz des Einkaufsmarktes "H." in Konstanz. Der Kläger verließ den Parkplatz an der Ausfahrt zur M.-​Straße, indem er mit dem Motorroller nach links einbog. Der Beklagte Ziff. 1 befand sich zu der Zeit mit seinem Pkw VW Passat auf dem Parkplatz des "S.", der ebenfalls an der M.-​Straße liegt, und zwar gegenüber dem Parkplatz des "H.". Der Beklagte Ziff. 1 wollte mit seinem Pkw an der Ausfahrt zur M.-​Straße nach rechts einbiegen, also in die selbe Fahrtrichtung wie der aus der gegenüber liegenden Ausfahrt herausfahrende Kläger. Beide Fahrzeuge fuhren aus den verschiedenen Ausfahrten ungefähr zur selben Zeit - mit lediglich geringen zeitlichen Unterschieden, über die im Detail Streit besteht - auf die Straße. Auf der für den Kläger gegenüber liegenden Fahrbahn kam es zur Kollision. Die beiden Fahrzeuge stießen in einem Kollisionswinkel zwischen 30 und 40 Grad zusammen. Der Kläger stürzte und zog sich erhebliche Verletzungen zu. Die Beklagte Ziff. 2 ist die für das Fahrzeug des Beklagten Ziff. 1 zuständige Haftpflichtversicherung.

Wegen weiterer Einzelheiten des Unfallablaufs besteht zwischen den Parteien Streit. Sie vertreten im Übrigen unterschiedliche Rechtsauffassungen zu der Frage, wer von den beiden Fahrzeugführern vor der Kollision welche Pflichten zu beachten hatte.

Nach Einholung eines mündlichen Sachverständigengutachtens zum Unfallablauf hat das Landgericht die Beklagten - antragsgemäß - wie folgt verurteilt:
Es wird festgestellt, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, dem Kläger 70 % aller gegenwärtigen und zukünftigen materiellen Ansprüche sowie alle gegenwärtigen und zukünftigen immateriellen Ansprüche unter Berücksichtigung einer Mithaftung von 30 % aus dem Unfallereignis vom 12.04.2013 in der M.-​Straße, Konstanz zu ersetzen, mit Ausnahme der Ansprüche, die auf Dritte, insbesondere Sozialversicherungsträger übergegangen sind oder übergehen.
Gegen diese Entscheidung richtet sich die Berufung der Beklagten. Sie sind der Auffassung, den Kläger treffe die deutlich überwiegende Verantwortung für die Kollision. Wenn zwei Fahrzeugführer aus gegenüber liegenden Ausfahrten auf eine Straße einfahren, müsse der nach links einbiegende Fahrzeugführer in entsprechender Anwendung von § 9 Abs. 4 StVO dem nach rechts einbiegenden Fahrzeug den Vorrang lassen. Der Kläger habe eingeräumt, dass er bei seinem Abbiegevorgang das in der Ausfahrt des S.-​Parkplatzes stehende Fahrzeug des Beklagten Ziff. 1 gesehen habe; mithin hätte er dessen Ausfahrt abwarten und dem Beklagten Ziff. 1 den Vorrang gewähren müssen. Zu dem Zeitpunkt, als der Beklagte Ziff. 1 sich entschlossen habe, in die Fahrbahn der M.-​Straße einzufahren, habe sich der Kläger mit seinem Motorroller zwar bereits auf der Fahrbahn der Straße befunden; da der Kläger sich bei Beginn des Fahrmanövers des Beklagten Ziff. 1 jedoch noch jenseits der Mittellinie der Straße befunden habe, sei der Beklagte Ziff. 1 nicht verpflichtet gewesen, auf das Einfahrmanöver des Klägers zu reagieren. Solange der Kläger noch nicht die Mittellinie erreicht hatte, sei es ausreichend gewesen, wenn sich der Beklagte Ziff. 1 bei seinem Fahrmanöver allein auf den fließenden Durchgangsverkehr auf der M.-​Straße konzentriert habe. Selbst wenn man einen schuldhaften Verkehrsverstoß des Beklagten Ziff. 1 unterstelle, wiege dieser zumindest deutlich weniger schwer als der für den Unfall ursächliche Verkehrsverstoß des Klägers.

Die Beklagten beantragen:
Unter Abänderung des am 11.04.2014 verkündeten Urteils des Landgerichts Konstanz AZ: 3 O 294/13 D wird festgestellt, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, dem Kläger 30 % aller gegenwärtigen und zukünftigem materiellen Ansprüche sowie alle gegenwärtigen und zukünftigen immateriellen Ansprüche unter Berücksichtigung einer Mithaftung des Klägers von 70 % aus dem Unfallereignis vom 12.04.2013 in der M.-​Straße, Konstanz zu ersetzen, mit Ausnahme der Ansprüche, die auf Dritte, insbesondere Sozialversicherungsträger übergegangen sind oder über gehen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Der Kläger verteidigt das Urteil des Landgerichts.

Wegen des weiteren Vorbringens wird auf die gewechselten Schriftsätze verwiesen.


II.

Die zulässige Berufung der Beklagten dürfte voraussichtlich keine Aussicht auf Erfolg haben. Eine Entscheidung des Senats nach mündlicher Verhandlung erscheint auch im Hinblick auf die Gesichtspunkte gem. § 522 Abs. 2 Ziff. 2, 3, 4 ZPO nicht erforderlich. Nach vorläufiger Auffassung des Senats hat das Landgericht der Klage zu Recht in vollem Umfang stattgegeben. Die Beklagten haften für materielle und immaterielle Schäden des Klägers aus dem Verkehrsunfall vom 12.04.2013 mindestens zu der beantragten und zuerkannten Quote von 70 %.

1. Die Haftung der Beklagten beruht auf §§ 7 Abs. 1 StVG, 115 Abs. 1 S. 1 VVG, 421 BGB. Der Schaden des Klägers ist bei dem Betrieb des Fahrzeugs des Beklagten Ziff. 1 entstanden. Die Beklagte Ziff. 2 haftet aufgrund ihrer Stellung als Haftpflichtversicherer.

2. Eine Abwägung der beiderseitigen Verursachungsbeiträge gem. § 17 Abs. 1, Abs. 2 StVG führt zu einer Mithaftung des Klägers von maximal 30 %. Mithin hat das Landgericht zu Recht eine Haftung der Beklagten für sämtliche Schäden in Höhe von 70 % festgestellt.

a) Bei der Abwägung der beiderseitigen Verursachungsbeiträge kommt es insbesondere darauf an, ob und inwieweit Verkehrsverstöße des Klägers einerseits und des Beklagten Ziff. 1 andererseits den Unfall verursacht bzw. mitverursacht haben. Dabei können zu Lasten der Fahrzeugführer nur diejenigen Tatsachen berücksichtigt werden, die nachgewiesen sind. Soweit - beispielsweise beim zeitlichen Ablauf des Unfallgeschehens - Unklarheiten verblieben sind, muss bei der Prüfung von Pflichtverletzungen des Klägers einerseits und des Beklagten Ziff. 1 andererseits jeweils ein anderer Sachverhalt unterstellt werden. Das heißt: Bei der Prüfung von Pflichtverletzungen des Beklagten Ziff. 1 ist die für den Beklagten Ziff. 1 günstigste Sachverhaltsvariante zu unterstellen; bei der Prüfung von Pflichtverletzungen des Klägers ist hingegen die für diesen günstigste Sachverhaltsvariante anzunehmen.

b) Dem Beklagten Ziff. 1 fällt ein Verstoß gegen § 10 Satz 1 StVO zur Last. Er hat die Kollision dadurch verursacht, dass er sich nicht so verhalten hat, dass eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen war.

aa) Wer aus einem "Grundstück" - vorliegend aus einem Parkplatz - ausfährt, muss sich so verhalten, dass kein anderer Verkehrsteilnehmer gefährdet wird. Der Begriff "anderer Verkehrsteilnehmer" meint sämtliche Personen, die in der aktuellen Verkehrssituation möglicherweise von dem Fahrmanöver des ausfahrenden Fahrzeugs direkt oder indirekt betroffen sein können. Das betrifft nicht nur den Durchgangsverkehr auf der Straße, sondern auch solche Verkehrsteilnehmer, die in unmittelbarer Nähe der Ausfahrt ein anderweitiges Fahrmanöver durchführen. Wenn zwei Parkplatz-​Ausfahrten an einer Straße gegenüber liegen, ist evident, dass die Fahrzeuge, die von den beiden Parkplätzen auf die Straße einfahren, auch den einfahrenden Verkehr von der gegenüber liegenden Ausfahrt im Blick haben müssen. Der Kläger, der von der gegenüber liegenden Seite auf die Straße einfuhr, war mithin ein "anderer Verkehrsteilnehmer" im Sinne von § 10 Satz 1 StVO.

bb) Ältere Rechtsprechung, die den Begriff "anderer Verkehrsteilnehmer" bei Einfahrvorgängen nur auf "fließenden Verkehr" angewendet hat, ist überholt. Die ältere Rechtsprechung (vgl. insbesondere OLG Celle, Versicherungsrecht 1964, 249) beruht auf einer früheren - abweichenden - Regelung in § 17 StVO a.F.. Die alte Fassung in § 17 Abs. 1 StVO a.F. bezog sich nur auf eine Gefährdung des "Straßenverkehrs", wobei die alte Regelung identische Pflichten für das Ausfahren aus einer Grundstücksausfahrt und für das Einfahren in ein Grundstück vorsah. Darauf beruhte das Verständnis, dass (nur) eine Rücksicht auf den "fließenden Verkehr" gemeint sei (vgl. insbesondere BGH, Urteil vom 10.11.1952 - VI ZR 45/52 -, LM Nr. 1 zu § 17 StVO). Die heute geltende Regelung in § 10 StVO (die nur für die Ausfahrt aus einem Grundstück und nicht für die Einfahrt maßgeblich ist) hat die Pflicht zur Rücksichtnahme bei der Grundstücksausfahrt hingegen auf "andere Verkehrsteilnehmer" erweitert. Wer aus einem Grundstück auf eine Straße einfährt, muss mithin nicht nur auf den fließenden Durchgangsverkehr achten, sondern auf sämtliche Verkehrsvorgänge, die in unmittelbarer Nähe der Ausfahrt für sein eigenes Fahrmanöver relevant sein können. (Vgl. zur Vielzahl der in Betracht kommenden Konstellationen bei der Ausfahrt aus einem Grundstück die Fallsammlung von Grüneberg, Haftungsquoten bei Verkehrsunfällen, 13 Aufl. 2013, Rdnr. 66 ff.). Es ist daher im Rahmen von § 10 Satz 1 StVO weder erforderlich, den zu § 17 Abs. 1 StVO a.F. entwickelten Begriff des "fließenden Verkehrs" neu und erweiternd auszulegen (vgl. dazu beispielsweise OLG Karlsruhe - 10. Zivilsenat - Urteil vom 26.05.1989, VRS 77, 45), noch ist für einen Fall der vorliegenden Art eine Heranziehung von § 1 Abs. 2 StVO geboten (vgl. dazu Burmann in Burmann/Heß/Jahnke/Zanker, Straßenverkehrsrecht, Kommentar, 22. Aufl. 2012, § 10 StVO Rdnr. 2).

cc) Entgegen der Auffassung der Beklagten spielt § 9 Abs. 4 StVO (Pflichten beim "Abbiegen "nach links") keine Rolle. Denn § 9 StVO ist nur für Verkehrsvorgänge anwendbar, die auf Straßen stattfinden, und nicht auf das Einfahren auf eine Straße von einem Grundstück, bzw. von einem Parkplatz. Die Pflichten beim "Einfahren" ergeben sich vollständig aus § 10 StVO, so dass auch eine entsprechende Anwendung von § 9 Abs. 4 StVO nicht geboten ist. Der Beklagte Ziff. 1 kann sich daher nicht darauf berufen, dass er beim "Einfahren" nach rechts den Vorrang genieße vor einem Fahrzeugführer, der von der gegenüber liegenden Seite der Straße nach - aus seiner Richtung - links einfährt.

dd) Der Beklagte Ziff. 1 hat gegen § 10 Satz 1 StVO verstoßen, weil er durch einen Fahrfehler eine Gefährdung des Klägers verursacht hat. Der Beklagte Ziff. 1 hätte diejenigen Verkehrsvorgänge in unmittelbarer Nähe der Ausfahrt vom S.-​Parkplatz beobachten und berücksichtigen müssen, die mit dem von ihm beabsichtigten Fahrmanöver in Konflikt geraten konnten. Dazu gehörte insbesondere die Beobachtung von Fahrzeugen, welche die gegenüber liegende Ausfahrt vom "H." verließen. Unstreitig hat der Beklagte Ziff. 1 auf Fahrzeuge, welche von gegenüber auf die Straße einfuhren, nicht geachtet. Hätte er das Einfahren des Motorrollers des Klägers auf die Straße beobachtet, dann hätte er sein eigenes Manöver unterlassen und die Kollision dadurch vermeiden können.

Entscheidend für die Pflichtverletzung des Beklagten Ziff. 1 ist der Umstand, dass sich der Motorroller des Klägers zeitlich vor dem Manöver des Beklagten Ziff. 1 bereits auf der Straße befand. Der Sachverständige L. konnte aufgrund der Örtlichkeiten, aufgrund der Kollisionsstelle und aufgrund der Beschädigungen an den beiden Fahrzeugen Rückrechnungen zum Unfallablauf anstellen. Nach den - von den Parteien nicht angegriffenen - Berechnungen des Sachverständigen hat der Beklagte Ziff. 1 vom Beginn der Einfahrt in die Straße bis zur Kollisionsstelle bei sehr langsamem Anfahren maximal 2,8 Sekunden gebraucht, während der Kläger, der eine längere Fahrtstrecke bis zur Kollisionsstelle zurücklegen musste, bei einem sehr schnellen Fahrmanöver mindestens 3,6 Sekunden bis zur Kollision benötigte. Das bedeutet: Der Kläger befand sich mit seinem Motorroller mindestens 0,8 Sekunden auf der Straße, als der Beklagte Ziff. 1 seinen Einfahrvorgang begann. Für den Beklagten Ziff. 1 war von vornherein erkennbar, dass der Kläger die M.-​Straße in der selben Richtung benutzen wollte, wie er selbst. Der bereits begonnene Einfahrvorgang des Klägers hätte den Beklagten Ziff. 1 daher veranlassen müssen, mit der Ausfahrt aus dem S.-​Parkplatz zu warten, um eine Kollision zu vermeiden.

ee) Das Fahrzeug des Klägers hatte zu dem Zeitpunkt, als der Beklagte Ziff. 1 mit seinem Fahrmanöver begann, möglicherweise noch nicht die Mittellinie der (ca. 6 - 8 Meter breiten) Straße erreicht. Der Beklagte Ziff. 1 kann sich nicht darauf berufen, er habe auf von der gegenüber liegenden Seite einfahrende Fahrzeuge so lange nicht achten müssen, bis diese die Mittellinie erreicht hatten. Denn eine Gefährdung eines anderen Verkehrsteilnehmers war - bei einem Einfahrvorgang des Beklagten Ziff. 1 - bereits ab dem Zeitpunkt gegeben, in welchem der Kläger mit seinem Motorroller auf die Straße eingefahren war. Ab diesem Zeitpunkt war für den Beklagten Ziff. 1 wegen der sich voraussichtlich schneidenden Fahrlinien der beiden Fahrzeuge die Möglichkeit einer Kollision gegeben. Bei einem Blick auf die gegenüber liegende Straßenseite - mit der deutlich erkennbaren Ausfahrt des H.- Parkplatzes - hätte der Beklagte Ziff. 1 das Risiko, welches er mit seinem Fahrmanöver schuf, unschwierig erkennen können.

ff) Die Regel "rechts vor links" spielt entgegen der Andeutung im Urteil des Landgerichts vorliegend keine Rolle, auch nicht im Sinne einer möglichen Erwartungshaltung der Verkehrsteilnehmer. Die Konstellation von gegenüber liegenden Parkplatz-​Ausfahrten ist mit dem Sachverhalt, welcher Grundlage der vom Landgericht zitierten Entscheidung des OLG Celle (Versicherungsrecht 1964, 249) war, nicht vergleichbar.

c) Dem schuldhaften Verkehrsverstoßes Beklagten Ziff. 1 steht - allenfalls - ein geringes Verschulden des Klägers gegenüber.

aa) Für die Prüfung von Pflichtverletzungen des Klägers ist von der für ihn günstigsten Sachverhaltsvariante auszugehen. Nach dem Gutachten des Sachverständigen L. hat der Beklagte Ziff. 1 möglicherweise - bei zügigem Anfahren - nur 1,8 Sekunden bis zur Kollisionsstelle gebraucht, während der Kläger - bei eher geringer Geschwindigkeit - 5,8 Sekunden benötigt hat. Von dieser Variante ausgehend, ist der Kläger bereits 3 Sekunden mit dem Motorroller auf die Straße eingefahren, bevor sich das Fahrzeug des Beklagten Ziff. 1 von der anderen Straßenseite in Bewegung gesetzt hat.

bb) In der für den Kläger günstigsten Variante war der Kläger mit dem Motorroller nur noch ca. 3 - 4 Meter von der Kollisionsstelle entfernt, als er eine Reaktionsaufforderung durch das Fahrmanöver des Beklagten Ziff. 1 (0,5 - 1 Meter zurückgelegt) erhielt. Eine rechtzeitige Reaktion war dem Kläger zur Vermeidung der Kollision zu diesem Zeitpunkt nach dem Gutachten des Sachverständigen nicht mehr möglich.

cc) Ein Verstoß des Klägers gegen § 10 Satz 1 StVO käme mithin nur dann in Betracht, wenn bereits der Umstand, dass das Fahrzeug des Beklagten Ziff. 1 in der Ausfahrt des S.-​Parkplatzes stand, den Kläger von einer Fortsetzung seines Einbiege-​Manövers hätte abhalten müssen. Dies erscheint zumindest zweifelhaft.

aaa) Einen Vorrang des nach rechts aus einer Ausfahrt einbiegenden Fahrzeugs vor dem von der gegenüber liegenden Seite nach links einbiegenden Motorroller gibt es nicht (siehe oben).

bbb) Der Kläger hat ausgeführt, er habe das Fahrzeug des Beklagten Ziff. 1 beobachtet, mit einem Einfahren aber nicht gerechnet, weil der Kläger sich erkennbar mit einem Passanten unterhalten habe. Das Landgericht hat keine Feststellungen dazu getroffen, ob diese Darstellung des Klägers als widerlegt angesehen werden kann. Sofern die Darstellung des Klägers zutrifft, gab es für ihn keinen Anlass, mit einem möglichen Einfahr-​Vorgang des Beklagten Ziff. 1 zu rechnen. Die Verletzung einer Sorgfaltspflicht gem. § 10 Satz 1 StVO käme nicht in Betracht.

ccc) Es kann sich lediglich die Frage stellen, ob dem Kläger ein Verstoß gegen § 10 Satz 1 StVO dann vorzuwerfen wäre, wenn es - entgegen seiner Darstellung - keinen Anhaltspunkt dafür gab, dass der mit seinem Fahrzeug an der Ausfahrt stehende Beklagte Ziff. 1 vorläufig nicht auf die Straße einfahren wollte. Es kann dahinstehen, ob der Kläger - da er selbst aus einer Ausfahrt kam - besonders vorsichtig sein musste und generell mit einem Ausfahrvorgang des Beklagten Ziff. 1 hätte rechnen müssen. Denn auch dann, wenn man eine solche Pflichtverletzung annehmen würde, wäre die Entscheidung des Landgerichts nicht zu beanstanden (siehe zur Abwägung der Verursachungsbeiträge unten d).

dd) Für die Beurteilung einer eventuellen Pflichtverletzung des Klägers spielt es im Übrigen keine Rolle, dass der Kläger das Fahrzeug des Beklagten Ziff. 1 vor der Kollision beobachtet hat. Er hat damit nur das getan, was umgekehrt der Beklagte Ziff. 1, der den Motorroller des Klägers vorher nicht gesehen hat, pflichtwidrig unterlassen hat (siehe oben).

d) Eine Abwägung der beiderseitigen Verursachungsbeiträge führt auch dann zu einer Haftungsquote von mindestens 70 %, wenn man - zugunsten der Beklagten - eine Pflichtverletzung des Klägers annehmen würde. Wenn man davon ausgehen würde, dass allein das wartende Fahrzeug des Beklagten Ziff. 1 den Kläger zu besonderer Vorsicht hätte veranlassen müssen (siehe oben c), cc), ccc)), dann würde ein solcher Verkehrsverstoß jedenfalls deutlich weniger schwer wiegen als die Pflichtverletzung des Beklagten Ziff. 1. Denn das Fahrzeug des Beklagten Ziff. 1 hatte sich zum Zeitpunkt einer möglichen Reaktion des Klägers noch nicht in Bewegung gesetzt, war mithin aus der Sicht des Klägers deutlich weniger gefährlich als - umgekehrt für den Beklagten Ziff. 1 - der Motorroller des Klägers, der bereits in die Straße eingefahren war. Vor allem war der Kläger mit seinem Motorroller - das ist zu seinen Gunsten zu unterstellen (siehe oben) - bereits 3 Sekunden im Einfahrvorgang, als sich das Fahrzeug des Beklagten Ziff. 1 in Bewegung gesetzt hat. Das heißt: Der Kläger konnte damit rechnen, dass der Beklagte Ziff. 1 ihn gesehen hatte und ihm daher - weil er zuerst in die Straße eingefahren war - den Vorrang überlassen würde.



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