Das Verkehrslexikon

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Verwaltungsgericht Düsseldorf Beschluss vom 20.09.2016 - 6 L 3017/16 - Punktebehandlung einer Tat, die erst nachträglich bekannt wird

VG Düsseldorf v. 20.09.2016: Zur Punktebehandlung einer Tat, die erst nach einer punktereduzierenden Ma9ßnahme bekannt wird


Das Verwaltungsgericht Düsseldorf (Beschluss vom 20.09.2016 - 6 L 3017/16) hat entschieden:
Erfährt die Behörde nach einer nachgeholten Verwarnung, die zu eine Verringerung der Punkte auf 7 oder weniger geführt hat (§ 4 Abs. 6 Satz 3 StVG), von einer vor der Verwarnung begangenen Tat, sind die davon ausgelösten Punkte der verringerten Punktzahl hinzuzurechnen (§ 4 Abs. 6 Satz 4 StVG).

Da die Punkte aus Behördensicht zum Maßnahmezeitpunkt zu berechnen sind, bleiben die Punkte der erst nach der Verwarnung bekannt gewordenen Tat bei der Summierung bis zur Verwarnung außer Betracht. So wird deren Doppelzählung vermieden.

§ 4 Abs. 6 Satz 3 und 4 StVG stellt eine Ausnahme von dem Grundsatz dar, dass auf den Punktestand zum Zeitpunkt der letzten Tat abzustellen ist, die zur Ergreifung der Maßnahme führt (§ 4 Abs. 5 Satz 5 StVG).

§ 4 Abs. 6 Satz 3 und 4 StVG stellt eine Ausnahme von dem Grundsatz dar, dass Tilgungen, die nach dem Erreichen einer Maßnahmeschwelle (hier: 8 Punkte) eintreten, unberücksichtigt bleiben (§ 4 Abs. 5 Satz 7 StVG).

Die Verringerungsvorschrift des § 4 Abs. 6 Satz 3 StVG greift ein, wenn die Behörde weiß, dass der Fahrerlaubnisinhaber 8 Punkte angesammelt hat, aber noch nicht verwarnt worden ist, und sie ihn in Kenntnis der 8 Punkte nachträglich verwarnt.


Siehe auch Das Fahreignungs-Bewertungssystem - neues Punktsystem und Die Löschung von Punkten im Fahrerlaubnisverfahren


Gründe:

I.

Beim Antragsteller fielen nach der Verwaltungsakte die aus der nachfolgenden tabellarischen Auflistung ersichtlichen punkterelevanten Ereignisse vor. Hinsichtlich der einzelnen Zuwiderhandlungen und anderen Ereignisse wird auf die Verwaltungsakte verwiesen. Soweit es sich um punkteauslösende Taten handelt, sind ausschließlich die Mitteilungen des Kraftfahrtbundesamtes zugrunde gelegt.

Nach dem Straßenverkehrsgesetz in der bis zum 30. April 2014 gültigen Fassung ergab sich der folgende - vom Gericht errechnete - Punktestand:

Lfd. Nr. Datum Ereignis Rechtskraft/
Bestandskraft
Tilgung Punkte
einzeln
Punkte
insges.
1 18.10.2011 Höchstgeschwindigkeit 14.01.2012 22.01.2016 3 3
2 17.06.2013 Mobiltelefon 02.08.2013 22.01.2016 1 4
3 09.10.2013 Höchstgeschwindigkeit 03.12.2013 22.01.2016 1 5
4 28.10.2013 Höchstgeschwindigkeit 22.01.2014 22.01.2016 1 5
5 27.02.2014 Zustellung Verwarnung
nach StVG a.F.
vom 26.02.2014
       


Nach dem Straßenverkehrsgesetz in der ab dem 1. Mai 2014 gültigen Fassung ergibt sich der folgende - vom Gericht errechnete - Punktestand:

Lfd. Nr. Datum Ereignis Rechtskraft/
Bestandskraft
Punkte
einzeln
Punkte
insges.
6 01.05.2014 Umrechnung nach
§ 65 StVG n.F.
in das neue Punktesystem
    4
7 17.03.2014 Mobiltelefon 17.06.2014 1 5
8 02.09.2015 Höchstgeschwindigkeit 29.03.2016
Kenntnis AG
erst am
14.07.2016
2
wirkt hier nicht erhöhend
(s. lfd. 12/13)
5
9 16.09.2015 Mobiltelefon 17.12.2015 1 6
10 26.12.2015 Höchstgeschwindigkeit 28.04.2016 2 8
11 22.01.2016 Tilgung lfd. Nr. 1-4
erneute Umrechnung
in das neue Punktesystem
nach § 65 Abs. 3 Nr. 6 StVG
→ 01.05.2014: 0 Punkte,
dann Addition lfd. Nr. 7-10
    4
12 03.06.2016 Zustellung Verwarnung
vom 01.06.2016 →
Verringerung, grds. auf 7 Punkte,
hier aber zunächst auf 4 Punkte (lfd. Nr. 11),
die sich wegen der
Kenntnisnahme von lfd. Nr. 8
aber um 2 Punkte erhöhen
    6
13 14.07.2016 Kenntnisnahme von
lfd. Nr. 8
     


Der Antragsgegner hörte den Antragsteller am 12. August 2016 zu der beabsichtigten Entziehung der Fahrerlaubnis an. Der Antragsgegner entzog dem Antragsteller mit Ordnungsverfügung vom 30. August 2016 - zugestellt am 1. September 2016 - die Fahrerlaubnis und forderte zur Abgabe des Führerscheins innerhalb von drei Tagen auf. Die Aufforderung verband er mit einer Zwangsgeldandrohung in Höhe von 250,- Euro. Zugleich setzte er Verwaltungskosten in Höhe von 173,19 Euro einschließlich Zustellauslagen fest.

Der Antragsteller hat am 2. September 2016 Klage erhoben (6 K 10105/16), über die bislang nicht entschieden ist, und um gerichtlichen Eilrechtsschutz nachgesucht. Er beruft sich darauf, dass er nicht ordnungsgemäß verwarnt worden sei und meint, die Heranziehung von Taten, die der Behörde erst nach Ermahnung und Verwarnung bekannt geworden sind, unterlaufe das gesetzliche Warnsystem.

Der Antragsteller beantragt,
die aufschiebende Wirkung seiner Klage anzuordnen.
Der Antragsgegner beantragt,
den Antrag abzulehnen.



II.

Der zulässige Antrag hat Erfolg.

Das Gericht folgt dem auf § 80 Abs. 5 VwGO gestützten Antrag des Antragstellers, die aufschiebende Wirkung seiner fristgemäß erhobenen Klage (6 K 7479/14) anzuordnen. Die Entziehungsverfügung ist nach der im vorläufigen Rechtsschutzverfahren allein möglichen überschlägigen Prüfung voraussichtlich rechtswidrig. Deswegen überwiegt das Aufschubinteresse des Antragstellers das gesetzlich in § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO i.V.m. § 4 Abs. 9 StVG für den Regelfall vorgesehene überwiegende Vollzugsinteresse.

Nach den Vorschriften des seit dem 1. Mai 2014 geltenden StVG hat der Antragsteller zum Zeitpunkt des Erlasses der angefochtenen Entziehungsverfügung lediglich 6 Punkte und damit die für einen Verlust der Fahreignung erforderlichen 8 Punkte, vgl. § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG, noch nicht erreicht.

Das ergibt sich aus der vorstehenden tabellarischen Auflistung, die im Einzelnen wie folgt zu erläutern ist. Lfd. Nr. 7: Die Tat ist zwar noch unter Geltung des StVG a.F. begangen worden, aber erst unter Geltung des StVG n.F. rechtskräftig geahndet und in das Fahreignungsregister eingetragen worden. Sie ist gem. § 65 Abs. 3 Nr. 3 StVG nach dem StVG n.F. zu behandeln.

Lfd. Nr. 8: Die Tat ist am 2. September 2015 begangen und am 29. März 2016 rechtskräftig geahndet worden. Nach dem sog. Tattatprinzip (vgl. § 4 Abs. 2 Satz 3 StVG) haben sich die von ihr ausgelösten 2 Punkte damit am 2. September 2015 im Rechtssinne ergeben. Der Antragsgegner erfuhr von dieser Tat jedoch erst am 14. Juli 2016. Das hat hier zur Folge, dass die Punkte nach § 4 Abs. 6 Satz 4 StVG zu dem verringerten Punktestand, der mit der Nachholung der Verwarnung § 4 Abs. 6 Satz 3 StVG einherging, hinzuzurechnen waren. Die Punkte für diese Tat dürfen jedoch den Punktestand nicht doppelt erhöhen, nämlich einmal am Tattag und einmal zum Zeitpunkt der Verringerung des Punktestandes wegen der nachgeholten Verwarnung. § 4 Abs. 6 Satz 4 StVG stellt somit eine Spezialvorschrift dar, die eine Ausnahme vom Tattatprinzip bildet.

Die Außerachtlassung der Tat vom 2. September 2015 entspricht dem Grundsatz, dass die Punkte aus der Sicht der Behörde zum Zeitpunkt des Ergreifens der Maßnahme zu berechnen sind.

Vgl. BayVGH, Beschluss vom 23. Mai 2016 - 11 CS 16.585 u.a., juris Rn. 16 unter Verweis auf BT-​Drs. 18/2775, S. 10.

Lfd. Nr. 11: Die Taten, die nach dem StVG a.F. zu behandeln waren, verjähren nach § 65 Abs. 3 Nr. 2 Satz 1 StVG nach altem Recht. Aus Satz 2 dieser Vorschrift folgt, dass die nach dem StVG n.F. zu behandelnden Taten die Tilgung der "Alttaten" nicht hinausschieben soll. Die früheren Vorschriften zur Überliegefrist (§ 28 Abs. 6 Satz 2, Abs. 7 StVG a.F.) haben damit ihre Bedeutung verloren.

Danach sind alle "Altpunkte" mit dem Ablauf des 22. Januar 2016 verjährt. Die Übergangsvorschrift des § 65 Abs. 3 Nr. 6 StVG gebietet bei Verjährungseintritt der Altpunkte eine erneute Umrechnung in Neupunkte, und zwar zum Umstellungsstichtag des 1. Mai 2014. Damit hatte der Antragsteller mit Wirkung vom 22. Januar 2016 am 1. Mai 2014 0 Punkte. Zu diesen waren die seitdem neu entstanden Punkte hinzuzurechnen, freilich erneut mit Ausnahme der 2 Punkte für die Tat vom 2. September 2015 (s. oben).

Lfd. Nr. 12: Für die stufenweise zu ergreifenden Maßnahmen des § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 bis 3 StVG ist nach § 4 Abs. 5 Satz 5 StVG auf den Punktestand abzustellen, der sich zum Zeitpunkt der Begehung der letzten zur Ergreifung der Maßnahme führenden Tat ergeben hat. Mit der letzten Tat vom 26. Dezember 2015 hatte der Antragsteller - aus Behördensicht - rechnerisch 8 Punkte erreicht so dass ihm eigentlich die Fahrerlaubnis zu entziehen gewesen wäre. Allerdings bestimmt § 4 Abs. 6 Satz 1 StVG u.a., dass die Fahrerlaubnis erst entzogen werden darf, sofern der Fahrerlaubnisinhaber zuvor verwarnt worden ist. Satz 2 legt fest, dass eine unterbliebene Verwarnung nachzuholen ist. Die bis dahin unterbliebene Verwarnung sprach der Antragsgegner am 1. Juni 2016 aus. Mit der Nachholung der Verwarnung ist nach § 4 Abs. 6 Satz 3 Nr. 2 StVG zugleich verbunden, dass sich die erreichte Punktezahl verringert. Die Punkte verringern sich auf 7, wenn der Punktestand zu diesem Zeitpunkt nicht durch Tilgungen oder Punktabzüge niedriger ist. Letzteres ist hier der Fall, weil der Punktestand des Antragstellers durch die Tilgungen der Altpunkte mit Ablauf des 22. Januar 2016 (vgl. lfd. Nr. 11) aus Behördensicht auf 4 Punkte gesunken war.

Da der Antragsgegner von der Tat vom 2. September 2015 erst am 14. Juli 2016, also nach der nachgeholten Verwarnung, erfuhr, erhöhte sich der Punktestand nach § 4 Abs. 6 Satz 4 StVG um 2 Punkte. Satz 4 wirkt insofern als Spezialregelung zur allgemeinen Reduzierungsvorschrift des Satzes 3. Ob die Erhöhung sogleich mit der Verwarnung oder erst der behördlichen Kenntnisnahme am 14. Juli 2016 erfolgte, kann die Kammer offen lassen, weil es für die Entscheidung unerheblich ist.

Vorliegend ist damit einer der (seltenen) Fälle gegeben, in denen die Verringerungsvorschrift des § 4 Abs. 6 Satz 3 StVG n.F. anwendbar ist. Eine Punktereduzierung nach § 4 Abs. 6 Satz 3 StVG tritt nämlich zumindest dann ein, wenn der Fahrerlaubnisbehörde am Tag der ergriffenen Maßnahme weitere Verkehrsverstöße bekannt sind, die zu einer Einstufung in eine höhere Stufe nach § 4 Abs. 5 Satz 1 StVG führen.
Vgl. BayVGH, Beschluss vom 23. Mai 2016 - 11 CS 16.585 u.a., juris Rn. 15 a.E., und Urt. vom 11. August 2015 - 11 BV 15.909, VRS 129, 27.
Diese Voraussetzungen sind erfüllt. Als der Antragsgegner die Verwarnung am 1. Juni 2016 erließ, wusste er, dass der Antragsteller am 26. Dezember 2015 bereits 8 Punkte erreicht hatte, also eigentlich die dritte Stufe des Maßnahmekatalogs zu betreten wäre.

Grundsätzlich ist zwar auf den Punktestand zum Zeitpunkt der Begehung der letzten Tat abzustellen, die zur Ergreifung der Maßnahme führt, § 4 Abs. 5 Satz 5 StVG (hier: 26. Dezember 2015), mit der von Satz 7 bestätigend ausgesprochenen Folge, dass spätere Verringerungen des Punktestandes auf Grund von Tilgungen unberücksichtigt bleiben (hier: Tilgungen vom 22. Januar 2016). Hiervon macht § 4 Abs. 6 Satz 3 und 4 StVG in Gestalt der Verringerungsregelung aber eine Ausnahme.

Da die Fahrerlaubnis nicht wegen Erreichens von 8 Punkten zu entziehen war, ist die aufschiebende Wirkung der Klage auch hinsichtlich der nach § 47 Abs. 1 S. 1 und 2 FeV erfolgten Aufforderung, den Führerschein abzuliefern, sowie des Zwangsgeldes anzuordnen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.

Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 1 und 2 Gerichtskostengesetz (GKG). Das Interesse an der Fahrerlaubnis wird im Hauptsacheverfahren mit dem Betrag des Auffangwertes des § 52 Abs. 2 GKG angesetzt, weil der Antragsteller nicht in qualifizierter Weise - etwa als Berufskraftfahrer - auf seine Fahrerlaubnis angewiesen ist. In Verfahren betreffend die Gewährung vorläufigen gerichtlichen Rechtsschutzes ermäßigt sich der danach zu berücksichtigende Betrag von 5.000,00 Euro um die Hälfte. Mit Blick auf § 80 Abs. 6 VwGO geht die Kammer davon aus, dass der Antragsteller die Kostenfestsetzung im Eilrechtsschutz nicht angegriffen hat.