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OLG München Urteil vom 12.08.2016 - 10 U 1753/16 - Privates Kfz-Gutachten gegen Sachverständigenbeweis

OLG München v. 12.08.2016: Privates Kfz-Gutachten gegen prozessualen Sachverständigenbeweis


Das OLG München (Urteil vom 12.08.2016 - 10 U 1753/16) hat entschieden:
Ein vorgerichtliches Privatgutachten eines Kfz-Sachverständigen stellt keinen Sachverständigenbeweis dar, sondern ist bloß Teil des Parteivortrags, woran auch eine - über ein schriftliches Gutachten hinausgehende - Vernehmung des Sachverständigen als sachverständiger Zeuge nichts ändert. Besreitet die Gegenpartei diesen Sachvortrag hinreichend substantiiert, muss das Gericht voin Amts wegen ein entsprechendes Sachverständigengutachten - auch über die Höhe des Wiederbeschaffungswertes - erholen.


Siehe auch Sachverständigengutachten nach einem Unfallschaden - Kfz-Sachverständiger und Stichwörter zum Thema Sachverständigen-Gutachten


Gründe:

A.

Von einer Darstellung der tatsächlichen Feststellungen wird abgesehen (§§ 540 II, 313 a I 1 ZPO i.V.m. § 26 Nr. 8 EGZPO).


B.

Die statthafte, sowie form- und fristgerecht eingelegte und begründete, somit zulässige Berufung hat in der Sache jedenfalls vorläufig Erfolg.

I.

Das Verfahren im ersten Rechtszug leidet an wesentlichen Mängeln, § 538 II 1 Nr. 1 ZPO.

1.) Wie von der Beklagten zu Recht gerügt, hätte das Erstgericht ein Sachverständigengutachten zu der Problematik des Wiederbeschaffungsaufwandes erholen müssen. Denn das klägerische Privatgutachten (D. ) stellt keinen Sachverständigenbeweis dar, sondern ist bloß Teil des klägerischen Parteivortrags (vgl. Zöller, ZPO, 31. Aufl., § 402, Rdnr. 2 m.w.N.), woran auch eine - über ein schriftliches Gutachten hinausgehende - Vernehmung des Sachverständigen als sachverständiger Zeuge, wie hier geschehen, nichts ändert. Nachdem die Beklagte diesen Sachvortrag - unter Verweis auf die Problematiken der Vorschäden und der Anstoßenergie - hinreichend substantiiert bestritten hatte, hätte das Erstgericht ein entsprechendes Sachverständigengutachten erholen müssen. Dabei hätte die Frage der Höhe des Wiederbeschaffungswertes untersucht werden müssen, und zwar dahingehend, ob tatsächlich alle festgestellten Schäden durch die streitgegenständliche Kollision entstanden sind, wobei auch das Maß der Anstoßenergie zu berücksichtigen gewesen wäre. Dabei hätte das Erstgericht ein solches Sachverständigengutachten bereits gem. § 144 I 1 ZPO von Amts wegen erholen müssen; beantragt war es im Übrigen aber auch mehrfach von beiden Parteien, von dem beweisbelasteten Kläger (vgl. S. 3 der Klageschrift = Bl. 3 d.A. sowie S. 2, 3 und 5 der Replik = Bl. 22, 23 und 25 d.A.) sowie gegenbeweislich von der Beklagten (vgl. S. 4 der Klageerwiderung = Bl. 14 d.A.).Die Erholung eines gerichtlichen Sachverständigengutachtens konnte hier weder durch eine besondere eigene Sachkunde des Erstgerichts (ergibt sich aus der Akte nicht) noch durch die erfolgten Zeugenvernehmungen ersetzt werden.

2.) Wie ebenfalls von der Beklagten zu Recht beanstandet, hätte das Erstgericht weiterhin die im Rahmen des beantragten Schmerzensgeldes streitigen Tatsachen mittels sowohl biomechanischer als auch medizinischer Sachverständigengutachten klären müssen, und zwar abermals bereits gem. § 144 I 1 ZPO von Amts wegen, aber auch auf Antrag des wiederum beweisbelasteten Klägers (vgl. S. 5 der Klageschrift = Bl. 5 d.A. sowie S. 6 der Replik = Bl. 26 d.A.) bzw. gegenbeweislich auf Antrag der Beklagten (vgl. S. 4 der Klageerwiderung = Bl. 14 d.A.).

Zwar ist grundsätzlich festzustellen, dass in den Fällen leichtester Verletzungen, bei denen schon vom Vortrag des Verletzten her feststeht, dass die Schmerzen schnell abgeklungen, die Verletzungen kurz nach dem Unfall ausgeheilt und die Beeinträchtigungen unzweifelhaft nicht objektivierbar sind, die Erholung von biomechanischen und medizinischen Gutachten keine Sachaufklärung erwarten lässt und deshalb nur dann veranlasst sein könnte, wenn der Schädiger mit Hilfe dieser Begutachtung nachweisen will, dass der Kläger nicht verletzt wurde, keine Beschwerden erlitten haben soll, während diese Beweismittel zum Nachweis der behaupteten Beschwerden seitens des Geschädigten regelmäßig untauglich sind. Allerdings erweist sich das vorliegende Verfahren als komplexer, werden doch über bloße Schmerzen hinausgehende Beschwerden wie Schwindel und ein zweiter Tinnitus vorgetragen, wird ein ärztliches Attest vorgelegt, welches erst vom 30.06.2015 und mithin aus einer Zeit von etwa zwei Monaten nach dem Unfall datiert und wird seitens des Beklagten explizit behauptet, angesichts einer - streitigen - sehr niedrigen Anstoßenergie könnten die vom Kläger behaupteten Beschwerden nicht auf den streitgegenständlichen Unfall zurückgeführt werden.

3.) Jede dieser unterbliebenen Sachaufklärungen stellt bereits für sich allein einen erheblichen Verfahrensfehler i.S.d. § 538 II 1 Nr. 1 ZPO dar (vgl. z.B. Thomas/Putzo, ZPO, 37. Aufl. 2016, § 538, Rdnr. 11).

Hinzu kommt jedoch als weiterer wesentlicher Mangel, dass es sich bei dem Ersturteil zumindest insoweit um eine - gegen Art. 103 I GG verstoßende - Überraschungsentscheidung (vgl. auch Zöller, a.a.O., § 538, Rdnr. 21) handelt, als das Erstgericht ausweislich S. 2 des Protokolls der Sitzung vom 02.11.2015 (= Bl. 35 d.A.) sowie S. 3 des Protokolls der Sitzung vom 07.12.2015 (= Bl. 44 d.A.) wiederholt explizit auf die Notwendigkeit der Erholung mehrerer Sachverständigengutachten bzgl. des beantragten Schmerzensgeldes hingewiesen hat, um dann ohne Erholung entsprechender Gutachten das angefochtene Urteil zu verkünden.

II.

Der Senat hat eine eigene Sachentscheidung nach § 538 I ZPO erwogen, sich aber aus folgenden Gründen dagegen entschieden:

1.) Eine Beweisaufnahme im oben dargestellten Umfang wäre umfangreich i.S.d. § 538 II 1 Nr. 1 ZPO und würde den Senat zu einer mit der Funktion eines Rechtsmittelgerichts unvereinbaren erstmaligen Beweisaufnahme an Stelle der ersten Instanz zwingen. Der durch die Zurückverweisung entstehende grundsätzliche Nachteil, dass eine gewisse Verzögerung und Verteuerung des Prozesses eintritt, muss hingenommen werden, wenn es darum geht, dass ein ordnungsgemäßes Verfahren in erster Instanz nachzuholen ist und dass den Parteien die vom Gesetz zur Verfügung gestellten zwei Tatsachenrechtszüge voll erhalten bleiben (Senat NJW 1972, 2048 [2049]; OLG Naumburg NJW-​RR 2012, 1535 [1536]). Eine schnellere Erledigung des Rechtsstreits durch den Senat ist im Übrigen angesichts seiner Geschäftsbelastung vorliegend nicht zu erwarten.

2.) Beide Parteivertreter haben jeweils hilfsweise die Aufhebung des Ersturteils und Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Erstgericht beantragt. Darüber hinaus wurde die Frage der Zurückverweisung auch in der mündlichen Verhandlung mit den Parteivertretern ausführlich erörtert. Beide Parteivertreter sind einer Zurückverweisung nicht entgegengetreten.

III.

Hinsichtlich des weiteren Verfahrens im ersten Rechtszug weist der Senat auf Folgendes hin:

1.) Nachdem die Beklagtenvertreterin in der Berufungsverhandlung erklärt hat, eine gütliche Einigung sei auf Seiten der Beklagten derzeit deswegen noch nicht vorstellbar, weil zunächst auf jeden Fall das beantragte Sachverständigengutachten hinsichtlich des Fahrzeugschadens erholt werden möge, erscheint es sachgerecht, im nächsten Schritt erst einmal nur dieses Gutachten zu erholen und anschließend erneut die Frage einer gütlichen Einigung zu erörtern.

2.) Sollte sodann eine gütliche Einigung weiterhin nicht zu Stande kommen, wären bezüglich der Problematik des Schmerzensgeldes folgende Beweiserhebungen erforderlich:

a) Der sachverständige Zeuge Dr. W. (vgl. Anlage K8) ist, wie vom Kläger in der Berufungsverhandlung beantragt, im Hinblick auf das Attest vom 30.06.2015 zu vernehmen. Zur Feststellung der vom Kläger ab dem 30.04.2015 behaupteten Beschwerden bedarf es weiterhin der Einvernahme der beantragten sachverständigen Zeugen B., Dr. R. sowie abermals Dr. W.

In diesem Zusammenhang ist auf Folgendes hinzuweisen: Die Feststellungen der behandelnden Ärzte sind zwar eine wichtige Erkenntnisquelle, genügen aber alleine nicht zur Klärung der regelmäßig entscheidenden Frage des Kausalzusammenhangs. Bei den Diagnosen der behandelnden Ärzte handelt es sich nämlich meist um eine sog. Verdachtsdiagnosen. Aus diesem Grund ist einem Beweisantrag auf Einvernahme der Ärzte als sachverständige Zeugen in der Regel nicht nachzukommen. Ausnahmen bestehen jedoch dann, wenn wie hier sich in den Attesten keine konkreten Befunde finden oder es um die Feststellung der im Einzelnen durchgeführten Untersuchungen oder der Äußerungen des Patienten geht.

b) Danach ist in einem biomechanischen Gutachten zu klären, inwieweit der Körper des Klägers bei dem streitgegenständlichen Verkehrsunfall belastet wurde und die von ihm beklagten Beschwerden ausgelöst werden konnten.

c) Schließlich ist durch medizinisches Sachverständigengutachten (derzeit orthopädisch und HNO-​ärztlich) zu überprüfen, inwieweit der Kläger beim Unfall verletzt wurde und dadurch relevante körperliche Beschwerden erlitten hat.

IV.

Die Kostenentscheidung war dem Erstgericht vorzubehalten, da der endgültige Erfolg der Berufung erst nach der abschließenden Entscheidung beurteilt werden kann (OLG Köln NJW-​RR 1987, 1032; Senat in st. Rspr., etwa VersR 2011, 549 ff.; NJW 2011, 3729).

V.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 708 Nr. 10 S. 1 ZPO. Auch im Falle einer Aufhebung und Zurückverweisung ist im Hinblick auf die §§ 775 Nr. 1, 776 ZPO ein Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit geboten (BGH JZ 1977, 232; Senat in st. Rspr., etwa VersR 2011, 549 ff. und NJW 2011, 3729; Zöller, ZPO, 31. Aufl. § 538, Rdnr. 59, § 708, Rdnr. 12), allerdings ohne Abwendungsbefugnis (Senat a.a.O. ).

VI.

Die Revision war nicht zuzulassen. Gründe, die die Zulassung der Revision gemäß § 543 II 1 ZPO rechtfertigen würden, sind nicht gegeben. Mit Rücksicht darauf, dass die Entscheidung einen Einzelfall betrifft, ohne von der höchst- oder obergerichtlichen Rechtsprechung abzuweichen, kommt der Rechtssache weder grundsätzliche Bedeutung zu noch erfordern die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts.