Das Verkehrslexikon

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BGH Urteil vom 30.03.1965 - VI ZR 257/63 - Berücksichtigung des Mitverschuldens nach dem StVG

BGH v. 30.03.1965: Berücksichtigung des Mitverschuldens des die tatsächliche Gewalt über das Fahrzeug Ausübenden


Der BGH (Urteil vom 30.03.1965 - VI ZR 257/63) hat entschieden:
Die über BGB § 254 hinausgehende Bestimmung des StVG § 9, dass sich der Verletzte auch das Verschulden desjenigen zurechnen lassen muss, der die tatsächliche Gewalt über die beschädigte Sache ausübt, gilt nur im Bereich der Haftung nach dem Straßenverkehrsgesetz. Soweit der Schädiger (auch) nach den allgemeinen Vorschriften haftet, ist BGB § 254 unmittelbar und ohne die in StVG § 9 bestimmte Erweiterung anzuwenden.


Siehe auch Mitverschulden - Mitverursachung und Stichwörter zum Thema Schadensersatz und Unfallregulierung


Tatbestand:

Am 28. Oktober 1960 gegen 19.50 Uhr ereignete sich auf der Bundesstraße 4 südlich von Bienenbüttel ein Verkehrsunfall. Die Zweitbeklagte streifte mit dem Personenwagen (Karmann-​Ghia) des Erstbeklagten beim Überholen mehrerer Fahrzeuge einen ihr entgegenkommenden Volkswagen. Dieser geriet dadurch ins Schleudern, stieß auf der für ihn linken Fahrbahnhälfte mit einem herannahenden Sattelschlepper zusammen und wurde völlig zerstört; sein Fahrer Manfred W und ein Beifahrer wurden getötet. Die Zweitbeklagte ist wegen fahrlässiger Tötung zu Strafe verurteilt worden.

Die Klägerin hat von den Beklagten Schadensersatz wegen des zerstörten Volkswagens verlangt. Sie hat behauptet, der Maurer Heinz Hubert W (ein Onkel des getöteten Fahrers) habe ihr den Wagen zur Sicherheit wegen eines Darlehns von 3070,40 DM übereignet, das sie ihm zur Anschaffung des Fahrzeugs gewährt habe und das noch nicht zurückgezahlt sei. Die Zweitbeklagte habe den Unfall durch ihre leichtfertige Fahrweise allein verschuldet; für Halter und Fahrer des Volkswagens sei er ein unabwendbares Ereignis gewesen. Im übrigen, so hat die Klägerin ausgeführt, könne ihr weder ein etwaiges Mitverschulden des Fahrers noch die Betriebsgefahr des Volkswagens entgegengehalten werden, da sie nicht dessen Halterin gewesen sei. Der Sachschaden, errechnet aus einem Zeitwert von 3100 DM abzüglich 14,10 DM Schrotterlös, betrage 3085,90 DM und übersteige somit die noch offene Darlehnsschuld von 3070,40 DM. Den letzten Betrag nebst 4 % Zinsen hat die Klägerin von den Beklagten gefordert.

Die Beklagten haben den Anspruch nach Grund und Höhe bestritten und um Klageabweisung gebeten. Sie haben insbesondere geltend gemacht, die Klägerin müsse sich sehr wohl ein erhebliches Mitverschulden des VW-​Fahrers entgegenhalten lassen. Er habe unstreitig unter Alkoholwirkung (1,47 0 / 00 Blutalkoholgehalt) gestanden. Deshalb sei er mit einer überhöhten Geschwindigkeit von mehr als 100 km/st gefahren und trotz der hinreichend früh voraussehbaren Begegnung nicht nach rechts ausgewichen, obwohl dies bei der Breite der Fahrbahn durchaus möglich gewesen wäre.

Das Landgericht hat den Klageanspruch dem Grunde nach in vollem Umfang für gerechtfertigt erklärt. Das Oberlandesgericht hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen.

Mit der Revision erstreben die Beklagten die Abweisung der Klage, soweit der Anspruch der Klägerin zu mehr als zwei Dritteln dem Grunde nach für gerechtfertigt erklärt worden ist. Die Klägerin bittet um Zurückweisung des Rechtsmittels.


Entscheidungsgründe:

Wie in der Revisionsinstanz nicht mehr streitig ist, haften die Beklagten für die Zerstörung des Volkswagens nach den Bestimmungen des Straßenverkehrsgesetzes, die Zweitbeklagte darüber hinaus auch nach § 823 Abs. 1 BGB. Die Revision räumt ferner ein, daß die Klägerin nicht Halterin des ihr zur Sicherheit übereigneten Fahrzeugs gewesen ist. Sie rügt lediglich, daß gleichwohl das vom Berufungsgericht offen gelassene Verschulden des VW-​Fahrers festzustellen und der Klageanspruch entsprechend zu kürzen gewesen wäre.

Diese Rüge greift durch, soweit der Erstbeklagte in Anspruch genommen wird. Das Berufungsgericht hat offensichtlich gemeint, mit der Haltereigenschaft der Klägerin auch die Möglichkeit einer Schadensteilung abschließend verneint zu haben. Das trifft indessen nur für den Ausgleich nach § 17 Abs. 1 StVG zu. Diese Vorschrift setzt freilich voraus, daß auch der Geschädigte nach den Bestimmungen des Straßenverkehrsgesetzes haftet. Eine Erstreckung auf den Sicherungseigentümer, der nicht zugleich der Halter des unfallgeschädigten Kraftfahrzeugs ist, hat das Berufungsgericht deshalb mit Recht abgelehnt. Es hätte jedoch weiter § 9 StVG geprüft werden müssen. Diese Vorschrift verlangt nicht, daß der Verletzte, falls die beschädigte Sache ein Kraftfahrzeug ist, dessen Halter sein müsse. Nach ihr muß sich der Verletzte auch das Verschulden desjenigen entgegenhalten lassen, der die tatsächliche Gewalt über die Sache ausübt. Vorliegend war dies der Fahrer des übereigneten Volkswagens. Das Berufungsgericht hätte deshalb feststellen müssen, ob und inwieweit dessen Verschulden bei der Entstehung des Schadens mitgewirkt hat, um diesen gegebenenfalls angemessen zu teilen.

Der Mangel betrifft jedoch nur das Verhältnis zwischen der Klägerin und dem Erstbeklagten. Denn bei diesem regeln sich Haftung wie Schadensausgleich allein nach den Bestimmungen des Straßenverkehrsgesetzes. Da für ihn nur § 9 StVG gilt, kann er die Erweiterung für sich in Anspruch nehmen, die in der "Maßgabe" der Vorschrift gegenüber § 254 BGB enthalten ist. Das trifft jedoch nicht für die Zweitbeklagte zu, die auch nach § 823 Abs. 1 BGB verantwortlich und insoweit auf den Schadensausgleich nach § 254 BGB beschränkt ist. Der Revision kann nicht darin gefolgt werden, daß der Schädiger beim Hinzutreten einer deliktischen Haftung Anspruch auf die für ihn günstigere Ausgleichsregel des § 9 StVG behalte.

Es trifft zwar zu, daß sich § 18 StVG und § 823 BGB nicht hinsichtlich des in beiden Vorschriften vorausgesetzten Verschuldens, sondern nur im Erfordernis seines Nachweises unterscheiden Während das Verschulden des Schädigers nach allgemeinem Deliktsrecht vom Geschädigten zu beweisen ist, muß sich der Führer eines Kraftfahrzeugs nach § 19 StVG entlasten, wenn er der Haftung nach den Bestimmungen des Straßenverkehrsgesetzes entgehen will. Diese Haftung ist indessen gegenüber den allgemeinen Bestimmungen in mehrfacher Hinsicht eingeschränkt. Darin liegt ein gewollter Ausgleich dafür, daß sie schon bei vermutetem Verschulden eintritt. Zu den Beschränkungen gehören nicht nur die in § 12 StVG festgelegten Höchstbeträge und der Ausschluß des Nichtvermögensschadens, sondern auch die Anrechnung fremden Verschuldens, soweit sie sich der Geschädigte nach § 9 StVG ohne Entlastungsmöglichkeit gefallen lassen muß. Alle diese Vorteile des Schädigers entfallen, sobald sein Verschulden nachgewiesen ist und er deshalb nicht nur nach §§ 7, 18 StVG, sondern auch nach § 823 BGB haftet. Daß er dann ohne die Beschränkung auf Höchstbeträge und materiellen Schaden eintreten muß, steht außer Frage. Ebenso engt sich aber auch sein Recht, Schadensteilung zu begehren, auf den in § 254 BGB vorgesehenen Umfang ein. Es wäre nicht gerechtfertigt, insoweit zwischen den Vorschriften über die Haftungsbegrenzung und über den Schadensausgleich zu unterscheiden. Insbesondere kann ein Grund nicht mit der Revision darin gesehen werden, daß es nur Beweisfragen sind, die zu der verschiedenartigen Haftung führen. Denn dieser Gesichtspunkt trifft auf die Gesamtheit der erörterten Unterschiede zu. Er ist nicht geeignet, die gesetzliche Abgrenzung der beiden Haftungsbereiche – nach dem Straßenverkehrsgesetz und nach dem Recht der unerlaubten Handlung – in dem einzelnen Punkt des Schadensausgleichs verfließen zu lassen.

Zu dem von der Revision gewünschten Ergebnis ist auch nicht im Wege analoger Rechtsanwendung zu gelangen. Es ist keine Gesetzeslücke, daß § 254 BGB im Gegensatz zu § 9 StVG dem Geschädigten das Verschulden desjenigen nicht zurechnet, der die tatsächliche Gewalt über die (beschädigte) Sache ausübt. Vielmehr ist die über § 254 BGB hinausgehende Einbeziehung dieses fremden Verschuldens im Straßenverkehrsgesetz als zusätzlich gewollt, und zwar auch sie zum teilweisen Ausgleich der verschärften Haftung (vgl. Amtl. Begründung zu § 3 des Gesetzentwurfs über den Verkehr mit Kraftfahrzeugen, Vorhandlungen des Reichstages 1909 Bd. 248 S. 5597, 5599). Deshalb verbietet es sich, die bewußt nur in einige spezielle Haftpflichtgesetze aufgenommene Vorschrift durch rechtsähnliche Anwendung auf den allgemeinen Bereich zu übertragen, in dem sich der Schadensausgleich nach § 254 BGB vollzieht. Mögen hier auch gewisse Billigkeitsgründe für eine gleichlautende Regelung sprechen, so müßte diese doch dem Gesetzgeber überlassen bleiben. Im übrigen übersieht die Revision bei ihrer Darstellung der Unbilligkeit, daß der Schädiger gegen den mitschuldigen Sachinhaber den Ausgleichsanspruch nach. § 426 Abs. 1 BGB hat. Er kann dieses Fremdverschulden nur nicht im Rahmen von § 254 BGB dem Geschädigten entgegenhalten. Zu einem solchen Ergebnis verhilft auch nicht die Figur eines Repräsentanten der Klägerin, als den die Revision vorliegend den Fahrer des Volkswagens ansehen möchte. Der Begriff der Repräsentanz muß auf das Versicherungsrecht beschränkt bleiben, dessen Besonderheiten ihn erfordern. Hier kommen nur die allgemeinen Vorschriften über die Haftung für Hilfspersonen in Betracht. § 278 BGB scheidet mangels vertraglicher Beziehungen der Parteien aus. Ebenso wenig hat die Klägerin den Fahrer des Volkswagens zu einer Verrichtung bestellt. Daran scheitert, wie die Revision nicht verkennt, auch die rechtlich denkbare Anwendung von § 831 BGB im Rahmen von § 254 Abs. 1 BGB. Die Möglichkeiten eines nach § 823 BGB haftenden Schädigers, dem Sicherungseigentümer des zerstörten Kraftfahrzeugs das Mitverschulden seines Fahrers entgegenzuhalten, sind damit erschöpft.

Ein Zurückbehaltungsrecht haben beide Beklagten nicht. Sie können den geschuldeten Ersatz des Schadens nicht nach § 255 BGB davon abhängig machen, daß ihnen die Klägerin ihre Forderung gegen den Kaskoversicherer des Volkswagens abtritt. Denn dieser Anspruch entspringt, wie das Berufungsgericht zutreffend dargelegt hat, nicht dem Eigentum an der Sache, sondern einem besonderen Vertrag, nämlich der Versicherung des Eigentümerinteresses. Auf solche durch den Verlust der Sache lediglich ausgelösten Vertragsansprüche erstreckt sich § 255 BGB nicht. Daß der Kaskoversicherer bereits geleistet habe und der Klägerin daher insoweit mit Blick auf § 67 VVG die Sachbefugnis fehle, haben die Beklagten nicht behauptet. Wie sich die Rechtslage bei einer künftigen Leistung des Versicherers gestalten könnte, bedarf hier keiner Beurteilung.

Nach alledem bleibt nur, daß sich der Erstbeklagte auf ein mitursächliches Verschulden des VW-​Fahrers nach § 9 StVG berufen könnte. Im Verhältnis zwischen ihm und der Klägerin ist es denkbar, daß das Oberlandesgericht nach Prüfung zu der Schadensquote gelangen könnte, die von der Revision angestrebt wird. Denn der Tatrichter wird, wenn er aus dem genannten Grunde zu einer Schadensteilung kommen sollte, auch die Betriebsgefahr des Volkswagens einzuwerfen haben, die bei einem Ausgleich nach § 9 StVG, § 254 BGB ebenso wie nach § 17 StVG zu den schadensverursachenden Faktoren gehört. Auf die Revision des Erstbeklagten war daher das Berufungsurteil im beantragten Umfang aufzuheben und die Sache insoweit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Oberlandesgericht zurückzuverweisen. Die Revision der Zweitbeklagten mußte dagegen als unbegründet zurückgewiesen werden.

Die Kosten der Revisionsinstanz waren nach § 97 ZPO der Zweitbeklagten aufzuerlegen, soweit sie auf ihr erfolgloses Rechtsmittel entfallen. Im übrigen war die Kostenentscheidung dem Berufungsgericht zu übertragen.