Das Verkehrslexikon

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BGH Urteil vom 26.08.1999 - 4 StR 329/99 - Der Grundsatz "in dubio pro reo" findet bei der Entscheidung über die Voraussetzungen der verminderten Schuldfähigkeit nur eingeschränkte Anwendung

BGH v. 26.08.1999: Der Grundsatz "in dubio pro reo" findet bei der Entscheidung über die Voraussetzungen der verminderten Schuldfähigkeit nur dann eingeschränkte Anwendung


Der BGH (Urteil vom 26.08.1999 - 4 StR 329/99) hat zur Verpflichtung des Gerichts, auch bei unsicheren Trinkangaben eine maximale Alkoholisierung zu berechnen und zur Anwendung des Zweifelsgrundsatzes entschieden:
Der Grundsatz "in dubio pro reo" findet bei der Entscheidung über die Voraussetzungen der verminderten Schuldfähigkeit nur dann Anwendung, wenn nach abgeschlossener Beweiswürdigung nicht behebbare tatsächliche Zweifel bestehen, die sich auf die Art und den Grad des psychischen Ausnahmezustandes beziehen. Nicht anwendbar ist der Zweifelsgrundsatz auf die rechtliche Wertung der zur Schuldfähigkeit getroffenen Feststellungen, insbesondere nicht auf die vom Tatrichter zu beantwortende Rechtsfrage, ob die Verminderung der Steuerungsfähigkeit "erheblich" im Sinne des § 21 StGB ist.


Siehe auch Beeinträchtigung der Schuldfähigkeit und Vollrausch im Verkehrsrecht und Stichwörter zum Thema Alkohol


Zum Sachverhalt: Zum Alkoholkonsum des Angeklagten vor den Taten hat das Landgericht festgestellt, dass er "nach seiner Erinnerung" auf einem Feuerwehrfest ab 18.30 Uhr "mindestens" 5 Gläser (0,3 l) Bier sowie bei mehreren Gaststättenbesuchen im Verlauf der Nacht 5 Gläser einer Mischung aus Bacardi und Apfelsaft getrunken habe. Ob der Angeklagte in der Gaststätte "B.", die er "gegen" 2.15 Uhr erneut aufgesucht hat, darüber hinaus "einen oder zwei Sherry" getrunken hat, habe nicht geklärt werden können.

Bei der rechtlichen Würdigung hieß es in den Urteilsgründen hingegen:
"Es konnte nicht festgestellt werden, welche Alkoholmengen der Angeklagte tatsächlich im Laufe des Vorabends und der Nacht konsumiert hatte. Hinsichtlich des im Zeltlager der Feuerwehrjugend konsumierten Bieres liegt die Vermutung nahe, dass die einzelnen Gläser nicht bzw. unterschiedlich voll gezapft bzw. gegossen waren. Auch das Mischungsverhältnis der Bacardi/Apfelsaft-Getränke ist gänzlich unbekannt. Zudem hat der Angeklagte bei seiner polizeilichen Vernehmung abweichende Angaben zu seinem Alkoholkonsum gemacht. Aus diesem Grunde wäre auch die Einschaltung eines Sachverständigen nicht geeignet gewesen, den Grad der Alkoholisierung des Angeklagten sicher festzustellen, da dem Angeklagten die erforderlichen Anknüpfungstatsachen gefehlt hätten."
Das Landgericht war der Auffassung, danach könnte "zwar" nicht mit der für eine Verurteilung erforderlichen Sicherheit festgestellt werden, dass der Angeklagte fahruntüchtig im Sinne des § 316 StGB gewesen sei. "Aufgrund der Angaben zu seinem Alkoholkonsum" lasse "sich jedoch zugunsten des Angeklagten nicht ausschließen, dass während des gesamten Tatgeschehens seine Steuerungsfähigkeit erheblich vermindert im Sinne des § 21 StGB" gewesen sei.


Aus den Entscheidungsgründen:

"... Diese Erwägungen begegnen durchgreifenden rechtlichen Bedenken:

1. Die Ausführungen des Landgerichts lassen besorgen, dass der Beurteilung der Schuldfähigkeit eine Verkennung des Grundsatzes "in dubio pro reo" zugrunde liegt. Dieser Grundsatz findet bei der Entscheidung über die Voraussetzungen der verminderten Schuldfähigkeit nämlich nur dann Anwendung, wenn - nach abgeschlossener Beweiswürdigung (vgl. Kleinknecht/Meyer-Goßner StPO 44. Aufl. § 261 Rdn. 26) - nicht behebbare tatsächliche Zweifel bestehen, die sich auf die Art und den Grad des psychischen Ausnahmezustandes beziehen. Nicht anwendbar ist der Zweifelsgrundsatz auf die rechtliche Wertung der zur Schuldfähigkeit getroffenen Feststellungen (vgl. BGHR StGB § 21 in dubio pro reo 1 m.N.), insbesondere nicht auf die vom Tatrichter zu beantwortende Rechtsfrage (BGHSt 43, 66, 77; BGHR § 21 Erheblichkeit 2; vgl. auch Maatz StV 1998, 279, 280), ob die Verminderung der Steuerungsfähigkeit "erheblich" im Sinne des § 21 StGB ist.

2. Für die Beantwortung der Frage, ob die Voraussetzungen des § 21 StGB gegeben sind, kommt es sowohl auf die Höhe der Blutalkoholkonzentration des Angeklagten als auch auf die Bewertung psychodiagnostischer Kriterien an (vgl. BGHSt 43, 66):

a) Ergibt die Überprüfung, dass der Angeklagte eine Blutalkoholkonzentration von - unter Umständen erheblich - weniger als 2 Promille hatte, so spricht dies gegen das Vorliegen einer krankhaften seelischen Störung durch akute Alkoholintoxikation. Der Tatrichter ist daher grundsätzlich auch dann - unter Umständen aufgrund von Schätzungen unter Berücksichtigung des Zweifelssatzes - verpflichtet, die maximale Blutalkoholkonzentration des Angeklagten zu berechnen, wenn dessen Einlassung sowie gegebenenfalls die Bekundungen von Zeugen eine sichere Berechnungsgrundlage nicht ergeben (vgl. BGHR StGB § 21 Blutalkoholkonzentration 29). Hiervon kann nur für den Fall eine Ausnahme gemacht werden, dass sich die Angaben zum Alkoholkonsum sowohl zeitlich als auch mengenmäßig jedem Versuch einer Eingrenzung der in Betracht kommenden Mindestblutalkoholkonzentration entziehen (BGHR aaO). Das ist hier jedoch nicht der Fall:

Das Landgericht hat von dem Angeklagten selbst Angaben zu seinem Alkoholkonsum erhalten, wobei die Trinkmengenangaben jedoch ersichtlich in der Hauptverhandlung und bei seiner polizeilichen Vernehmung voneinander abwichen; darüber hinaus kann durch Bekundungen der Zeugen zum Trinkverhalten des Angeklagten möglicherweise auf dessen alkoholische Beeinflussung geschlossen werden. Da den Urteilsgründen jedoch weder die genauen Tatzeiten noch die sonstigen für die Berechnung der Blutalkoholkonzentration erforderlichen Grundlagen (vgl. BGHR StGB § 21 Blutalkoholkonzentration 21; Salger DRiZ 1989, 174, 176) zu entnehmen sind, ist dem Senat eine Berechnung, ob der Angeklagte zum Zeitpunkt der Begehung der beiden Vergewaltigungen einen Blutalkoholwert von mindestens 2,0 Promille erreicht hatte, nicht möglich. Das Landgericht wird hierzu genauere Feststellungen zu treffen haben.

b) Selbst wenn sich bei der vorzunehmenden Berechnung ein Blutalkoholwert von 2,0 Promille oder mehr ergeben würde, hat dies noch nicht automatisch zur Folge, dass bei dem Angeklagten eine krankhafte seelische Störung durch einen akuten Alkoholrausch und damit eine erheblich verminderte Schuldfähigkeit im Sinne des § 21 StGB zu bejahen ist. Erforderlich ist vielmehr, wenn, wie hier, Feststellungen zur Täterpersönlichkeit, zum Tatgeschehen und zum Verhalten des Täters vor, während und nach der Tat getroffen werden können, eine Gesamtwürdigung aller für und gegen das Vorliegen einer solchen krankhaften seelischen Störung sprechenden Beweisanzeichen (vgl. BGHSt 43, 66). Gegenüber aussagekräftigen psychodiagnostischen Beweisanzeichen darf dabei einem Blutalkoholwert geringere Beweisbedeutung beigemessen werden, wenn dieser lediglich aufgrund von Trinkmengenangaben bei einer längeren Trinkzeit ermittelt worden ist (BGHR StGB § 21 Blutalkoholkonzentration 36). Lässt sich die Blutalkoholkonzentration nicht errechnen, weil sich Trinkmenge und -zeit nicht eingrenzen lassen, kann sich die Beurteilung der Schuldfähigkeit nur nach psychodiagnostischen Kriterien richten (BGH NStZ-RR 1997, 226, 227). ..."