Das Verkehrslexikon

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Bundesverfassungsgericht Beschluss vom 29.05.1963 - 2 BvR 161/63 - Das Verbot und die Bestrafung der durch Flucht begangenen Selbstbegünstigung nach einem vorausgegangenen Verkehrsunfall verstoßen nicht gegen das Grundgesetz

BVerfG v. 29.05.1963: Das Verbot und die Bestrafung der durch Flucht begangenen Selbstbegünstigung nach einem vorausgegangenen Verkehrsunfall verstoßen nicht gegen das Grundgesetz


Das Bundesverfassungsgericht (Beschluss vom 29.05.1963 - 2 BvR 161/63) hat entschieden:
Das Verbot und die Bestrafung der durch Flucht begangenen Selbstbegünstigung nach einem vorausgegangenen Verkehrsunfall verstoßen nicht gegen das Grundgesetz. Denn aus dem Rechtsstaatsprinzip lässt sich ein Satz des Verfassungsrechts nicht herleiten, nach dem die Selbstbegünstigung als Ausfluss der persönlichen Freiheit straflos oder darüber hinaus immer erlaubt sein müsse.


Siehe auch Unerlaubtes Entfernen vom Unfallort und Stichwörter zum Thema unerlaubtes Entfernen vom Unfallort


Zum Sachverhalt: Der Beschwerdeführer wurde durch Urteil des Amtsgerichts Mainz vom 14. Mai 1962 u.a. wegen Verkehrsunfallflucht gemäß § 142 StGB zu einer Gefängnisstrafe von drei Wochen verurteilt. Berufung und Revision blieben ohne Erfolg.

Mit der form- und fristgerecht eingelegten Verfassungsbeschwerde wendet sich der Beschwerdeführer gegen diese Verurteilung. Er hält die Strafbestimmung des § 142 StGB für verfassungswidrig, weil sie gegen die Art. 1 und 20 GG verstoße. Der Beschwerdeführer erblickt in dieser Vorschrift ein Verbot der sonst straflosen Selbstbegünstigung und ein Gebot zur Selbstanzeige. Eine solche Rechtsvorschrift verstoße gegen die in Art. 20 GG geschützte verfassungsmäßige rechtsstaatliche Ordnung. Das unter Androhung einer Kriminalstrafe erzwungene Gebot, sich wegen einer strafbaren Handlung selbst den Strafverfolgungsbehörden zu überliefern, verletze außerdem die menschliche Würde im Sinne des Art. 1 Abs. 1 GG; der Mensch werde dadurch zu einem bloß befehlsempfangenden Objekt herabgewürdigt.

Die Verfassungsbeschwerde blieb erfolglos.


Aus den Entscheidungsgründen:

"... 1. § 142 StGB war ursprünglich als Sonderdelikt für Führer von Kraftfahrzeugen in § 22 des Kraftfahrzeuggesetzes vom 3. Mai 1909 enthalten. Durch die Verordnung zur Änderung der Strafvorschriften über fahrlässige Tötung, Körperverletzung und Flucht bei Verkehrsunfällen vom 2. April 1940 (RGBl. I S. 606) wurde § 22 KFG dem Strafgesetzbuch als § 139a eingefügt. Dabei wurde der Strafrahmen beträchtlich erweitert, der Tatbestand selbst aber nur wenig geändert. Namentlich wurde die Strafdrohung auf alle Verkehrsteilnehmer ausgedehnt. Durch das Dritte Strafrechtsänderungsgesetz vom 4. August 1953 (BGBl. I S. 735) erhielt die Vorschrift ohne sachliche Änderung ihren heutigen Standort.

2. Der Wortlaut der Vorschrift gebietet sämtlichen Personen, deren Verhalten tatsächlich oder auch nur möglicherweise zur Verursachung eines Verkehrsunfalls beigetragen hat, an der Unfallstelle zu verbleiben, damit bestimmte Feststellungen über den Unfallhergang getroffen werden können. Die Wartepflicht hängt weder von einem zivilrechtlichen noch strafrechtlich vorwerfbaren Verschulden ab; auch gebietet das Gesetz nicht, dass die erforderlichen Feststellungen durch Organe oder Hilfsorgane der Strafverfolgungsbehörden getroffen werden müssen. Schrifttum und die Rechtsprechung zu § 142 StGB nehmen daher mit Recht an, dass nicht das öffentliche Interesse an der Strafverfolgung von Verkehrssündern zu dieser Vorschrift geführt habe, sondern das private Feststellungs- und Beweissicherungsinteresse der am Unfall Beteiligten wegen der zwischen ihnen entstandenen Rechtsbeziehungen (Schönke/Schröder, StGB, 10. Aufl., § 142 Anm. I; Dünnebier, GA 57, 33; BGHSt 8, 263; 9, 267; 12, 253). Dieser Rechtslage entspricht die allgemeine Annahme, dass die Vorschrift keine Unfallanzeigepflicht enthält (vgl. BGHSt 7, 112).

Der moderne Massenverkehr auf den öffentlichen Wegen ist, wie die Unfallstatistik zeigt, mit schweren Gefahren für Leben, Gesundheit und Eigentum der Verkehrsteilnehmer verbunden. Aufgabe der Rechtsordnung ist es, die Entschädigung der Unfallopfer nach Möglichkeit sicherzustellen. Der Fortfall des strafrechtlich bewehrten Verbots der Unfallflucht würde die zivilrechtlichen Entschädigungsansprüche der Unfallopfer in zahlreichen Fällen entwerten oder sogar ihre Verfolgung unmöglich machen. Der Sinn des § 142 StGB ist es, ein solches Verhalten zu missbilligen und zu verhindern, dass jemand sich einer möglichen schuldrechtlichen Verpflichtung gegenüber den durch den Unfall geschädigten Personen entzieht. Das Rechtsstaatsprinzip ist durch eine solche Bestimmung nicht verletzt.

3. Das Verbot der Unfallflucht und die Strafdrohung für die Zuwiderhandlung wirken sich für denjenigen, der den Unfall unter Verletzung verkehrsrechtlicher Vorschriften schuldhaft verursacht hat, zugleich als begrenztes Verbot der Selbstbegünstigung aus. Er darf sich vom Unfallort auch dann nicht entfernen, wenn er sich durch sein Verweilen der Gefahr einer strafrechtlichen Verfolgung wegen des Unfalls aussetzt. Das Verbot und die Bestrafung der durch Flucht begangenen Selbstbegünstigung nach einem vorausgegangenen Verkehrsunfall verstoßen jedoch nicht gegen das Grundgesetz. Denn aus dem Rechtsstaatsprinzip lässt sich ein Satz des Verfassungsrechts nicht herleiten, nach dem die Selbstbegünstigung als Ausfluss der persönlichen Freiheit straflos oder darüber hinaus immer erlaubt sein müsse. Die Haftgründe der Flucht- und Verdunkelungsgefahr zeigen vielmehr, dass die Rechtsordnung die Selbstbegünstigung nicht immer billigt. Sie ist sogar strafbar, wenn der Täter durch die Begünstigungshandlung andere strafrechtlich geschützte Rechtsgüter verletzt.

4. Das Verbot der Unfallflucht verstößt auch nicht gegen die Unantastbarkeit der Menschenwürde. Der Staatsbürger wird nicht entwürdigt, wenn die Rechtsordnung von ihm verlangt, dass er für die Folgen seines menschlichen Versagens einsteht und die Aufklärung der Unfallursachen wenigstens nicht durch die Flucht erschwert oder gar vereitelt.

Hiernach ist die Verfassungsbeschwerde unbegründet. ..."







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