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Bundesverfassungsgericht Beschluss vom 22.10.2004 - 1 BvR 894/04 - Zur Rechtzeitigkeit einer Klage bei Nachholung der zunächst fehlenden Unterschrift

BVerfG v. 22.10.1004: Zur Rechtzeitigkeit einer Klage bei Nachholung der zunächst fehlenden Unterschrift


Das Bundesverfassungsgericht (Beschluss vom 22.10.2004 - 1 BvR 894/04) hat entschieden:
  1. Ein Prozessbeteiligter kann erwarten, dass offenkundige Versehen seinerseits, wie das Fehlen einer zur Fristwahrung erforderlichen Unterschrift, in angemessener Zeit bemerkt und innerhalb eines ordnungsgemäßen Geschäftsgangs die notwendigen Maßnahmen getroffen werden, um eine drohende Fristversäumung zu vermeiden.

  2. Die Klagefrist des § 12 Abs. 3 VVG ist gewahrt, wenn der Gerichtskostenvorschuss für eine nicht anwaltlich unterschriebene, aber vor Fristablauf bei Gericht eingegangene Klage noch rechtzeitig eingeht, auch wenn die fehlende Unterschrift erst nach Fristablauf nachgeholt wird.

Siehe auch Deckungsklage und Klagefrist im Versicherungsvertragsrecht und Stichwörter zum Thema Kfz-Versicherung


Zum Sachverhalt: Die rechtzeitig eingegangene Klage war nicht anwaltlich unterschrieben; der dazugehörige Kostenvorschuss wurde jedoch noch am Tage des Fristablaufs gutgeschrieben, die Unterschrift allerdings erst später nachgeholt. Landgericht und OLG gaben der Deckungsklage statt. Auf die Revision der Versicherung wies der BGH wies die Klage ab. Das BVerfG hob das Urteil des BGH auf.


Aus den Entscheidungsgründen:

"... Der Bundesgerichtshof hat § 12 Abs. 3 Satz 1 VVG, den er als Normierung einer materiellrechtlichen Ausschlussfrist versteht, in erster Linie nach den prozessrechtlichen Grundsätzen beurteilt, die in der Rechtsprechung für das Unterschriftserfordernis für bestimmende Schriftsätze im Anwaltsprozess entwickelt worden sind. Danach ist für solche Schriftsätze zwar grundsätzlich die handschriftliche Unterschriftsleistung des Berechtigten erforderlich. Doch sind schon im Bereich des Prozessrechts von der Rechtsprechung unter Hinweis auf den Sinn und Zweck des Schriftlichkeitserfordernisses in erheblichem Umfang Ausnahmen zugelassen worden (vgl. Gemeinsamer Senat der Obersten Gerichtshöfe des Bundes, BGHZ 144, 160 <161 ff.>). Auch der Bundesgerichtshof ist im angegriffenen Urteil von der Möglichkeit solcher Ausnahmen ausgegangen. Er hat es jedoch trotz des von ihm angenommenen materiellrechtlichen Charakters des § 12 Abs. 3 Satz 1 VVG bei seiner vornehmlich prozessrechtlichen Betrachtungsweise bewenden lassen. Dabei hat er zwar unter Bezugnahme auf Rechtsprechung und Literatur auf den Zweck und die Besonderheiten des § 12 Abs. 3 VVG hingewiesen, sich mit diesen aber nicht näher befasst. Das führt zu einer verfassungsrechtlich nicht mehr gerechtfertigten Verkürzung des Rechtsschutzes.

(1) Zweck des § 12 Abs. 3 Satz 1 VVG ist nach allgemeiner Meinung, möglichst schnell eine zuverlässige Feststellung der für den Versicherungsfall maßgeblichen Tatsachen zu sichern und auf diese Weise die Klärung zu ermöglichen, ob die Deckungsablehnung des Versicherers rechtens ist. Die Norm, deren Zeitgemäßheit zunehmend bezweifelt wird (vgl. Abschlussbericht der Kommission zur Reform des Versicherungsvertragsrechts vom 19. April 2004, S. 47 f.), eröffnet den Versicherern damit die im übrigen Zivilrecht äußerst seltene Möglichkeit, ohne Prüfung des materiellen Anspruchs selbst leistungsfrei zu werden. Mit Rücksicht darauf wird § 12 Abs. 3 Satz 1 VVG in der Praxis der Gerichte eher großzügig gehandhabt mit dem Ziel, möglichst zu einer Entscheidung über die eigentlichen materiellen Rechtsfragen zu gelangen. Dafür sei erforderlich, reiche aber auch aus, dass der Versicherungsnehmer "unmissverständlich" Klage erhoben habe (vgl. BGH, VersR 1978, S. 313 <314>; BGHZ 103, 20 <28>; BGH, NJW-RR 1992, S. 470 <471>; NJW 1993, S. 2614 <2615>; OLG Celle, VersR 1981, S. 446 <447>; OLG Saarbrücken, VersR 1997, S. 434 <435>).

(2) Das angegriffene Urteil geht auf diese Rechtsprechung nicht ein und setzt sich deshalb auch nicht mit der Auffassung auseinander, nach der es in den Fällen des § 12 Abs. 3 Satz 1 VVG nicht um die Rechtskraft schaffende Wirkung des Ablaufs einer prozessualen Frist geht, sondern um die Frage, ob ein Versicherungsnehmer die zur Erhaltung eines materiellrechtlichen Anspruchs nach materiellem Recht erforderliche Handlung rechtzeitig vorgenommen hat. Danach stehen - anders als dies im angegriffenen Urteil angenommen worden ist - nicht grundlegende Institutionen des Prozessrechts zur Diskussion, deren Erhaltung im unmittelbaren Interesse der Allgemeinheit erforderlich ist, sondern nur das Interesse des Versicherers und der Versichertengemeinschaft daran, den Versicherungsnehmer bei Strafe des Anspruchsverlusts zu zwingen, seine Forderung mit gerichtlicher Hilfe durchzusetzen (vgl. OLG Celle, a.a.O.).

Vor diesem Hintergrund wäre es unter dem Gesichtspunkt eines effektiven Rechtsschutzes notwendig gewesen, auch die hier in Rede stehende Klageerhebung als "unmissverständlich" anzusehen, weil der ihr anhaftende formelle Mangel nach entsprechendem gerichtlichem Hinweis umgehend - wenn auch nicht mehr innerhalb der Frist des § 12 Abs. 3 Satz 1 VVG, sondern nur geringfügig später - behoben worden ist. Geht es bei der Einhaltung dieser Frist nicht um die Wahrung des dem Allgemeinwohl dienenden Anwaltszwangs, kann es auch nicht darauf ankommen, ob die Klage von einem zugelassenen Anwalt unterschrieben wurde. Entscheidend ist vielmehr allein, dass unmissverständlich Klage erhoben worden ist. Dafür gab es aber, worauf mit Recht auch der IX. Senat des Bundesfinanzhofs in seiner Stellungnahme hingewiesen hat, mit der Einzahlung des Gerichtskostenvorschusses vor Ablauf der Frist unter Benennung der Prozessparteien, der Rechtssache und des gerichtlichen Aktenzeichens hinreichend sichere Indizien. Dabei spricht, worauf der Bund der Versicherten abgehoben hat, auch die Höhe des Vorschusses von 42.015 DM gegen die Annahme, bei der Klageschrift könne es sich nur um einen Entwurf gehandelt haben. Die in der angegriffenen Entscheidung vorgenommene Bewertung, der Buchungsanzeige der Justizkasse sei nicht zu entnehmen, dass es sich bei dem zuzustellenden Schriftsatz gerade um die am 15. Dezember 1999 beim Landgericht eingegangene, nicht unterschriebene Klageschrift handeln sollte, ist unter diesen Umständen unverständlich. Nicht feststellbar ist tatsächlich nur, ob die Einzahlung von einem postulationsfähigen Rechtsanwalt veranlasst war.

bb) Zu berücksichtigen ist schließlich auch, dass bei Versäumung einer fristgebundenen Prozesshandlung wegen fehlender Unterschriftsleistung grundsätzlich die Möglichkeit der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand besteht. Nach der Stellungnahme des Bundessozialgerichts wird von dieser Möglichkeit im sozialgerichtlichen Verfahren sogar bei der Versäumung materiellrechtlicher Fristen Gebrauch gemacht. Wenn der Bundesgerichtshof im angegriffenen Urteil im Hinblick auf den von ihm angenommenen materiellrechtlichen Charakter der Frist des § 12 Abs. 3 Satz 1 VVG eine Wiedereinsetzung gleichwohl nicht in Betracht ziehen wollte, hätte es jedenfalls einer näheren Prüfung der Frage bedurft, ob es den Beklagten im Ausgangsverfahren verwehrt war, sich auf den Ablauf dieser Frist zu berufen.

Der Bundesgerichtshof hat sich mit dieser Frage nur kurz befasst und dabei die konkreten Umstände des Prozessgeschehens nicht in der gebotenen Weise gewürdigt. Insbesondere ist unerörtert geblieben, ob das Landgericht, bei dem die Klage am 15. Dezember 1999 eingegangen war, bis zum Zeitpunkt des Fristablaufs am 23. Dezember 1999 nicht unter dem fürsorgerischen Gesichtspunkt der Ermöglichung eines effektiven Rechtsschutzes verpflichtet gewesen wäre, den Prozessbevollmächtigten des Beschwerdeführers auf das Fehlen seiner Unterschrift hinzuweisen, damit diese noch rechtzeitig hätte nachgeholt werden können. Es ist jedenfalls nicht von der Hand zu weisen, wenn es in der Stellungnahme des Bundessozialgerichts dazu heißt, die Versäumung der in Rede stehenden Frist hätte angesichts der zur Verfügung stehenden Zeit von acht Tagen zwischen Klageeinreichung und Fristablauf durch einen frühzeitigen Hinweis auf die fehlende Unterschrift vermutlich vermieden werden können. Der Hinweis hätte vor Klärung der Zuständigkeit zugleich mit der Anforderung des Kostenvorschusses erfolgen können. Beruhte das Unterlassen des Hinweises auf einem Fehler des Gerichts, hätte Anlass bestanden, die Anforderungen an die Anwendung des § 242 BGB mit besonderer Fairness zu handhaben (vgl. BVerfG, NJW 2004, S. 2887). Ein Prozessbeteiligter kann erwarten - auch darauf weist das Bundessozialgericht in seiner Stellungnahme zutreffend hin -, dass offenkundige Versehen seinerseits, wie das Fehlen einer zur Fristwahrung erforderlichen Unterschrift, in angemessener Zeit bemerkt und als Folge der prozessualen Fürsorgepflicht innerhalb eines ordnungsgemäßen Geschäftsgangs die notwendigen Maßnahmen getroffen werden, um eine drohende Fristversäumung zu vermeiden."