Das Verkehrslexikon

A     B     C     D     E     F     G     H     I     K     L     M     N     O     P     Q     R     S     T     U     V     W     Z    

OLG Hamm Urteil vom 07.10.1993 - 6 U 198/92 - Der Geschädigte muss zur Minderung des Verdienstausfallschadens nicht jede nicht gleichwertige Stelle annehmen

OLG Hamm v. 07.10.1993: Der Geschädigte muss zur Minderung des Verdienstausfallschadens nicht jede nicht gleichwertige Stelle annehmen


Ein Unfallverletzter, der nach unfallbedingtem Berufswechsel seinen neuen Arbeitsplatz verliert, ist nicht verpflichtet, eine neue Stelle mit weniger Verantwortung und Verdienst anzunehmen, vgl. OLG Hamm (Urteil vom 07.10.1993 - 6 U 198/92):
Der Geschädigte, der unfallbedingt seinen bisherigen Beruf aufgeben muss und deshalb eine andere Tätigkeit ausübt, ist, wenn er seinen neuen Arbeitsplatz verliert, nicht aus dem Gesichtspunkt der Schadensminderungspflicht verpflichtet, zur Vermeidung sonst eintretender Einkommenseinbußen eine nicht gleichwertige Stellung mit weniger Verantwortung, keinen Tantiemenzahlungen und keinen Verbesserungsmöglichkeiten zu akzeptieren.


Siehe auch Erwerbsschaden - Einkommensnachteile - Verdienstausfall und Prognosebildung bezüglich des hypothetischen Zukunftseinkommens


Zum Sachverhalt:

Der Kl. nahm die Bekl. wegen eines Verkehrsunfalls vom 4.12.1969 auf Schadensersatz in Anspruch. Bei dem Unfall hatte der Kl. als Insasse eines bei der Bekl. haftpflichtversicherten Pkw erhebliche Verletzungen erlitten. Zum Zeitpunkt des Unfalls war der damals 26jährige Kl. als Bäckermeister in der Konditorei der Fa. K. in P. tätig. Er hatte sowohl die Gesellen- als auch die Meisterprüfung mit der Note "befriedigend" bestanden. Da der Kl. aufgrund des Unfalls nicht mehr in der Lage war, seinen erlernten Beruf auszuüben, sollte er zum Bürokaufmann umgeschult werden; die Umschulungsmaßnahme wurde jedoch nicht abgeschlossen. Daraufhin nahm der Kl. im September 1971 bei der Fa. K. in P. in der Cafeteria eine Stellung als Kassierer an. Im Jahr 1975 wurde er nach Schließung der Konditorei als Erstverkäufer eingestellt. Ab 1978 war der Kl. sodann als Substitut der Fa. K. tätig. Im Jahr 1982 übernahm er als Leiter die Filiale der Fa. K. in S.

Zum 31.12.1991 schied der Kl. bei der Fa. K. aus. Die Geschäftsleitung hatte ihm mitgeteilt, dass sein Arbeitsplatz eingespart werden würde. Die Annahme der ihm angebotenen Ersatzstelle als Substitut im Hauptgeschäft in P. lehnte der Kl. ab, da er zwar dort das gleiche Gehalt wie zuvor erhalten sollte, aber die Stellung nicht mit der gleichen Verantwortung und Entwicklungsmöglichkeit wie die vorherige Position gekoppelt gewesen wäre. Darüber hinaus hätte er als Substitut auch keine Tantiemen und Sonderleistungen erhalten.

Gegen die von der Fa. K. ausgesprochene Kündigung erhob der Kl. vor dem ArbG eine Kündigungsschutzklage. In diesem Rechtsstreit einigten sich die Parteien darauf, dass das Arbeitsverhältnis durch ordentliche, arbeitgeberseitige, betriebsbedingte Kündigung mit Ablauf des 31.12.1991 endete und dem Kl. eine Abfindung in Höhe von 100 000 DM brutto bezahlt würde. Die tatsächlichen Einkünfte des Kl. bei der Fa. K. betrugen einschließlich Tantiemen und Sonderzahlungen im Jahr 1989 68 770,92 DM, im Jahr 1990 70 340,90 DM und im Jahr 1991 76 201,00 DM. Vom 1. 1. bis 15.2.1992 war der Kl. arbeitslos und bezog 3334,50 DM Arbeitslosengeld. Seither ist er in dem Hähnchengrillbetrieb seiner Frau beschäftigt, den diese seit Dezember 1991 betreibt. Dort verdient der Kl. monatlich 4078 DM brutto. Bis einschließlich März 1989 zahlte die Bekl. an den Kl. eine monatliche Verdienstausfallrente in Höhe von 540,19 DM. Sodann stellte sie weitere Zahlungen mit der Begründung ein, dass der Kl. unfallbedingt seit 1976 keinerlei Einkommenseinbuße mehr gehabt habe, weil er bei der Fa. K. mehr verdient habe, als er im Rahmen einer Tätigkeit in seinem erlernten Beruf als Bäcker hätte verdienen können. Sie bezifferte die ihrer Ansicht nach zu Unrecht geleisteten Zahlungen mit insgesamt 52 802,96 DM und forderte den Kl. zur Rückzahlung auf.

Mit der Klage begehrte der Kl. von April 1989 bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres die Zahlung einer fortlaufenden Rente, deren Höhe er in das Ermessen des Gerichts stellte. Ferner verlangte er die Zahlung von 4858,68 DM. Des weiteren begehrte der Kl. Feststellung der künftigen Ersatzpflicht der Bekl. in bezug auf weitere materielle Schäden. Er vertrat die Auffassung, ihm sei auch seit April 1989 weiterhin ein Verdienstausfallschaden entstanden. Maßgebend sei insofern, wie seine berufliche Entwicklung ohne den Unfall hypothetisch verlaufen wäre. In diesem Zusammenhang behauptete der Kl., er hätte sich ohne den Unfall einen eigenen Betrieb aufbauen können, wäre aber zumindest in leitender Position in einem größeren Betrieb angestellt gewesen.

Das LG hat der Klage in Höhe von 4858,68 DM nebst Zinsen stattgegeben und festgestellt, dass die Bekl. verpflichtet ist, dem Kl. sämtliche weiteren zukünftigen materiellen Schäden nach dem Unfall zu ersetzen. Im übrigen hat es die Klage abgewiesen.

Das OLG sprach dem Kl. darüber hinaus eine monatliche Rente in Höhe von 500 DM ab 1.1.1992 zu.


Aus den Entscheidungsgründen:

"... Der Ersatzanspruch ist nicht dahin gehend eingeschränkt, dass er nicht Ansprüche des Kl. umfasst, die durch die Ablehnung der Umsetzung bei der Fa. K. entstehen. Maßgebend ist in diesem Zusammenhang, ob der Kl. im Rahmen der ihm obliegenden Schadensminderungspflicht nach § 254 BGB verpflichtet war, die ihm von der Fa. K. ersatzweise angebotene Stellung zu akzeptieren, um die unstreitig erfolgte arbeitgeberseitige Kündigung zu verhindern. Ein Verstoß des Kl. gegen die Schadensminderungspflicht liegt aber nicht vor. In dem Zweitgeschäft in S. hatte der Kl. die Position des Hausleiters mit entsprechender Verantwortung und Selbständigkeit in den Entscheidungen inne. Wie der Kl. im Rahmen seiner persönlichen Anhörung nach § 141 ZPO glaubhaft bekundet hat, oblag ihm u. a. die Auswahl der Waren für das Geschäft in S.; teilweise war er berechtigt, selbst bei Herstellern Waren einzukaufen. Demgegenüber wurde ihm nunmehr eine Stelle als Substitut im Haupthaus in P. angeboten. Unstreitig hätte der Kl. in der ihm angebotenen Position im Haupthaus keine Tantiemen erhalten, wie das im Rahmen seiner Tätigkeit in S. der Fall war. Darüber hinaus wäre die angebotene Stellung im Haupthaus an sich mit einem geringeren Monatsgehalt verbunden gewesen, wobei die Fa. K. jedoch bereit gewesen wäre, dem Kl. das bisher gezahlte Gehalt weiterzuzahlen. Aufgrund dessen musste der Kl. jedoch damit rechnen, künftige Gehaltserhöhungen nicht zu erhalten. Aus diesen gesamten Gegebenheiten folgt, dass es sich bei der dem Kl. angebotenen Ersatzstellung nicht um eine gleichwertige Position, wie er sie zuvor in S. bekleidet hatte, handelte. Insgesamt spricht alles dafür, dass der Kl., wie er es bei seiner persönlichen Anhörung geschildert hat, auf das Abstellgleis geschoben und degradiert werden sollte. Aus welchen Gründen auch immer sollte er also offenbar in eine sozial und auf Dauer auch finanziell nicht gleichwertige Stellung versetzt werden. Im Rahmen der Schadensminderungspflicht war der Kl. aber auch dann, wenn er zunächst das gleiche Gehalt weiter erhalten hätte, nicht verpflichtet, eine nicht gleichwertige Stellung mit weniger Verantwortung, keinen Tantiemenzahlungen und keinen Verbesserungsmöglichkeiten zu akzeptieren (vgl. BGH VersR 1991, 596 für den Fall der Umschulung). Dementsprechend haftet die Bekl. auch für Einkommenseinbußen, die daraus resultieren, dass dem Kl. durch die Fa. K. gekündigt wurde.

Der Kl. hat einen Anspruch auf Ersatz des Verdienstausfallschadens gem. §§ 842, 843 Abs. 1 BGB i. V. m. § 3 PflVG für die Zeit ab 1.1.1992 in Höhe von monatlich 500 DM; für die Zeit von April 1989 bis Ende 1991 steht dem Kl. ein entsprechender Anspruch nicht zu. Der zu ersetzende Verdienstausfall besteht in dem Betrag, den der tatsächliche Verdienst (Ist-Verlauf) hinter dem zurückbleibt, den der Verletzte ohne den Unfall voraussichtlich erzielt hätte (Soll-Verlauf). Im Rahmen des Ist-Verlaufs ist zugrunde zu legen, dass der Kl. seit Dezember 1969 unstreitig um 70 % unfallbedingt in seiner Erwerbsfähigkeit gemindert ist ... Im Rahmen des zu ermittelnden Soll-Verlaufs ist maßgebend, welche berufliche Entwicklung der Kl. ohne den Unfall genommen hätte. ..."