Das Verkehrslexikon
Kammergericht Berlin Urteil vom 06.10.2005 - 12 U 104/04 - Zur Verletzung des Vorfahrtrechts durch zu weites Vorfahren des Wartepflichtigen
KG Berlin v. 06.10.2005: Zur Verletzung des Vorfahrtrechts durch zu weites Vorfahren des Wartepflichtigen
Das Kammergericht Berlin (Urteil vom 06.10.2005 - 12 U 104/04) hat Schadensteilung angenommen, wenn der Wartepflichtige zwar zu weit in die Vorfahrtstraße hineingefahren war, der Vorfahrtberechtigte dann jedoch beim Linksabbiegen in die Nebenstraße die Kurve schneidet:
Bei einer Kollision auf einer Kreuzung zwischen zwei Pkw, von denen der Wartepflichtige die Vorfahrt des anderen durch zu weites Vorrücken verletzt, der Vorfahrtberechtigte jedoch beim Abbiegen in die untergeordnete Straße gegen das Rechtsfahrverbot verstoßen und die Kurve geschnitten hat, kommt eine Schadensteilung 50:50 in Betracht.
Siehe auch Das Vorfahrtrecht und Stichwörter zum Thema Vorfahrt
Aus den Entscheidungsgründen:
"... Die nach § 17 Abs. 1 und 2 StVG vorzunehmende Abwägung der Verschuldensanteile führt ... dazu, dass der Kl. jedenfalls 50% seines Schadens selbst zu tragen hat. Der Kl. hat nicht zur Überzeugung des Gerichts beweisen können, dass die Fahrzeuge bei dem streitgegenständlichen Verkehrsunfall vom 11. 5. 2002 an der Kreuzung H.Weg/B.Straße in D. zusammenstießen, als er sich mit seinem Fahrzeug noch vollständig in der B.Straße befand, ohne den Einmündungsbereich der Kreuzung bereits erreicht zu haben.
...
Ereignet sich ein Unfall ... im unmittelbaren zeitlichen und räumlichen Zusammenhang mit einem Abbiegevorgang - wovon vorliegend nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme zweifelsfrei auszugehen ist - streitet der Beweis des ersten Anscheins für das alleinige Verschulden des Wartepflichtigen (KG, Urteil vom 21. 10. 2002 - 22 U 359/01 - KGR 2003. 253), hier des KI. Bei der Kollision im Bereich einer vorfahrtgeregelten Kreuzung oder Einmündung spricht der Beweis des ersten Anscheins für eine schuldhafte Sorgfaltspflichtverletzung des Wartepflichtigen. (Senat. Urteil vom 21. 6.2001 - 12 1147/00 -; NZV 2002. 80).
Dass der Bekl. zu 2) auf der aus seiner Sicht Gegenfahrbahn des N.H.Weges gefahren ist, ändert an seinem grundsätzlichen Vorfahrtsrecht nichts. Das Vorfahrtsrecht erstreckt sich auf die gesamte Vorfahrtstraße und geht dem Bevorrechtigten auch dann nicht verloren, wenn er die für ihn linke Fahrbahn befährt (OLG. Jena, DAR 2000, 570; Hentschel, Straßenverkehrsrecht. 37. Aufl., § 8 StVO, Rdn. 28).
Auch wenn der Bekl. zu 2) nicht ordnungsgemäß. sondern in einer zu engen Kurve links abgebogen wäre, die Kurve mithin geschnitten hätte. schränkte dies seine Vorfahrt gegenüber dem aus der nachgeordneten Straße Abbiegenden nicht ein (vgl. Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 37. Aufl., § 8 StVO, Rdn. 30; OLG Frankfurt. NZV 1990, 472).
Ob der Kl. allerdings auf Grund der von ihm zu beachtenden besonderen Sorgfalt nicht einmal an die Schnittstelle der bevorrechtigten Straße hätte heranfahren dürfen, weil er mit einem derartigen Kurvenschneiden eines links abbiegenden Fahrzeugs hätte rechnen müssen (so OLG Frankfurt, Beschluss vom 5. 5. 1988, 2 Ws 126/88 OWi), kann vorliegend dahinstehen, da sich die Bekl. eine Mithaftung von 50% anrechnen lassen, es also nicht auf die Frage ankommt, ob der Kl. für sämtliche Schäden alleine haftet.
In welcher Höhe sich die auch gegenüber einem Vorfahrtverstoß des KI. grundsätzlich zu beachtende Betriebsgefahr des Fahrzeugs des Bekl. zu 2) erhöht, wenn dieser beim Abbiegen in der Kurve nicht weit genug rechts gefahren ist (vgl. hierzu OLG Jena a.a.O.; OLG Frankfurt Urteil vom 27. 4. 1990, a.a.O.; Senat, DAR 1978, 20), bedarf ebenfalls keiner Entscheidung, da die Bekl. die Berufung auf 50% des ausgeurteilten Betrages beschränkt und damit eine Mithaftung von 50% anerkannt haben.
Kommen hier also Vorfahrtsverstoß des Kl. und Verstoß gegen das Rechtsfahrgebot und das Gebot, beim Abbiegen in die untergeordnete Straße deren linke Fahrbahnhälfte nicht zu schneiden durch den Bekl. zusammen, so haftet der die Vorfahrt missachtende Kl. jedenfalls zu 50%. ..."