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OLG München Urteil vom 27.01.2006 - 10 U 4904/05 - Trotz Verschweigens von teilweisen Vorschäden bleibt Leistungsanspruch für die übrigen Schäden erhalten

OLG München v. 27.01.2006: Trotz Verschweigens von teilweisen Vorschäden bleibt Leistungsanspruch für die übrigen Schäden erhalten


Das OLG München (Urteil vom 27.01.2006 - 10 U 4904/05) hat entschieden:
  1. Im Rahmen der Überzeugungsbildung nach § 286 ZPO kommt es nicht darauf an, ob eine Tatsache mit absoluter Sicherheit feststeht oder ausgeschlossen werden kann (Anschluss an RGZ 15, 338 [339] und BGHZ 53, 245 [256]).

  2. Eine nach dem schriftsätzlichen Vorbringen unsubstantiierte Klage darf nicht abgewiesen werden, wenn sie aufgrund von Zeugenaussagen oder eines Gutachtens substantiiert wird (Anschluss an BGH, GRUR 2004, 50 [52]).

  3. In Fällen eines (zunächst) verschwiegenen, mit dem geltend gemachten Schaden ganz oder teilweise deckungsgleichen Vorschadens besteht ein Ersatzanspruch insoweit, als der geltend gemachte Zweitschaden technisch und rechnerisch eindeutig von dem Vorschaden abgrenzbar ist (gegen OLG Köln, NZV 1999, 378).

  4. Die Kosten eines Privatgutachtens sind grundsätzlich auch dann zu ersetzen, wenn es sich später als unrichtig erweist, sofern die Unrichtigkeit nicht auf falschen Angaben des Auftraggebers oder einem betrügerischen Zusammenwirken mit dem Gutachter beruht.

  5. Die dem Geschädigten zustehende sog. Unkostenpauschale beträgt 25,00 € (Anschluss an OLG Gelle, NJW-RR 2004, 1673).

Siehe auch Alt- bzw. Vorschäden am Fahrzeug und Altschäden - Vorschäden


Zum Sachverhalt: Der Kl. macht gegen die Bekl. einen Anspruch auf Ersatz seines materiellen Schadens aus einem Verkehrsunfall vom 28. 2. 2003 zwischen dem klägerischen Mercedes und einem vom ZweitBekl. gesteuerten Lkw im Zusammenhang mit einem Wendemanöver des letzteren geltend.

Das LG hat nach Beweisaufnahme die Klage abgewiesen. Es bejahte zwar eine alleinige Haftung der Bekl. dem Grunde nach, versagte aber unter Berufung auf eine Entscheidung des OLG Köln (NZV 1996, 241) einen Ersatzanspruch, weil ein verschwiegener Vorschaden und der streitgegenständliche Schaden sich nicht trennen ließen.

Die Berufung des Kl. war teilweise erfolgreich.


Aus den Entscheidungsgründen:

"... I. Das LG hat einen Anspruch des Kl. auf Ersatz seines Unfallschadens zu Unrecht in vollem Umfang verneint.

1. Das Erstgericht hat zunächst schon in tatsächlicher Hinsicht zu Unrecht angenommen, dass eine Trennbarkeit des nach seinen Feststellungen verschwiegenen Vorschadens und des vorliegend zu beurteilenden, dem verfahrensgegenständlichen Unfall zuordenbaren Zweitschadens nach dem Gutachten des gerichtlich bestellten Sachverständigen Dr. A nur „möglicherweise” gegeben sei. ...

2. Das angefochtene Urteil ist auch rechtlich fehlerhaft.

a) Der nach seiner Behauptung durch einen Verkehrsunfall Geschädigte hat im Streitfall den Unfall und den ihm daraus erwachsenen Schaden zu beweisen. Ob ihm dies ganz oder wenigstens teilweise gelungen ist, hat das Gericht nach Maßgabe der §§ 286, 287 ZPO festzustellen:

(1) Grundlage der richterlichen Entscheidungsfindung sind gem. § 286 I ZPO
der gesamte zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemachte Akteninhalt,

das Prozessverhalten der Beteiligten

sowie das Ergebnis einer etwaigen Beweisaufnahme,
wobei es nicht darauf ankommt, wer was vorgetragen hat und wer die Beweislast hat (Senat, Beschl. v. 22. 3. 2005 - 10 U 5088/04 und v. 20. 7. 2005 - 10 W 1388/05; Hohlweck, JuS 2001, 584 [585 unter II 2]; Sattelmacher/Sirp/Schuschke, Bericht, Gutachten und Urteil, 33. Aufl. 2003, Rz. 383; Zöller/Greger, ZPO, 25. Aufl. 2005, § 286 Rz. 2).

(2) Hinsichtlich der Schadenshöhe kommt dem Geschädigten grundsätzlich die Erleichterung des § 287 ZPO zu Gute. § 287 ZPO entbindet aber nicht vollständig von der grundsätzlichen Beweislastverteilung und erlaubt es nicht, zugunsten des Beweispflichtigen einen bestimmten Schadensverlauf zu bejahen, wenn nach den festgestellten Einzeltatsachen „alles offen” bleibt oder sich gar eine überwiegende Wahrscheinlichkeit für das Gegenteil ergibt (BGH, VersR 1970, 924 [927]; Senat, Beschl. v. 25. 11. 2005 - 10 U 2378/05). In Fällen eines verschwiegenen Vorschadens sind bei der Beweiswürdigung natürlich strengere Maßstäbe anzulegen (so zurecht OLG Hamm, OLGR 1993, 257 = r+s 1994, 59 = SP 1994, 154).

b) Daraus folgt für die Fälle eines (zunächst) verschwiegenen, mit dem geltend gemachten Schaden ganz oder teilweise deckungsgleichen Vorschadens, dass ein Ersatzanspruch nur insoweit besteht, als der geltend gemachte Zweitschaden technisch und rechnerisch eindeutig von dem Vorschaden abgrenzbar ist (so der Senat in st. Rspr., zuletzt Urt. v. 22. 4. 2005 - 10 U 5880/04; ebenso OLG Hamm, aaO [i. Erg.]; LG Augsburg, NJW-RR 2004, 22; LG Wuppertal, SP 2005, 197). aa) Dem steht die vom Erstrichter und auch in zahlreichen anderen Entscheidungen zitierte Entscheidung OLG Köln, NZV 1996, 241 nicht entgegen.

Der Senat folgt, wie sich aus vorstehend I 2 a) ergibt, der Ausgangsüberlegung dieser Entscheidung, wenn es dort heißt:

Voraussetzung für einen materiellen Schadensersatzanspruch des Kl. wäre, dass dieser darlegen und beweisen kann, dass der Bekl. zu 1) durch sein Auffahren auf das kl. Fahrzeug die geltend gemachten Schäden ganz oder teilweise ursächlich herbeigeführt hat.

Wenn dann aber im folgenden ausgeführt wird, dass sich
mangels jeglicher Darlegungen des Kl. zu dem Vorschaden ... ein etwaiger von den Bekl. zu ersetzender Teilschaden indes nicht ermitteln [lässt),
wird der grundlegende tatsächliche Unterschied zum hiesigen Fall deutlich.

bb) Das OLG Köln hat allerdings, wie der Senat nicht verkennt, in einer späteren Entscheidung seine Rechtsprechung dahin verallgemeinert, dass einem Kl., der jeden Vorschaden bestreitet, der Ersatz auch hinsichtlich kompatibler Schäden zu versagen ist, weil sich auf Grund des nicht kompatiblen Schadens nicht „ausschließen” lasse, dass auch die kompatiblen Schäden durch ein früheres Ereignis verursacht worden seien (NZV 1999, 378 = VersR 1999, 865; ebenso OLG Frankfurt a. M., NJOZ 2004, 3610 [3612]; LG Dresden, SP 2001, 335; LG Hanau, SP 2004, 368; AG Mühlheim, SVR 2004, 466; AG Neuss, SP 2005, 197).

Der Senat vermag aber dieser Argumentation schon deshalb nicht zu folgen, weil es im Rahmen der §§ 286, 287 ZPO grundsätzlich nicht darauf ankommt, ob etwas „ausgeschlossen” werden kann:
Nach § 286 I ZPO hat das Gericht nach freier Überzeugung zu entscheiden, ob eine tatsächliche Behauptung für wahr oder nicht wahr zu erachten ist. Diese Überzeugung des Richters erfordert keine - ohnehin nicht erreichbare (grdl. RGZ 15, 338 [339]; ferner Senat, Urt. v. 1. 7. 2005 - 10 U 2544/05) - absolute oder unumstößliche Gewißheit und auch keine „an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit”, sondern nur einen für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit, der Zweifeln Schweigen gebietet (grdl. BGHZ 53, 245 [256] = NJW 1970, 946 [948], st. Rspr., zuletzt NJW 2003, 1116 [1117]; Senat aaO).

Im Rahmen der Beweiswürdigung gem. § 287 ZPO werden geringere Anforderungen an die Überzeugungsbildung gestellt. Hier genügt, je nach Lage des Einzelfalls, eine höhere oder deutlich höhere oder überwiegende Wahrscheinlichkeit für die Überzeugungsbildung (ausführlich dazu BGH, VersR 1970, 924 [926 f.]; BGHZ 126, 217 ff. = NJW 1994, 3295 [3297]; NJW 2003, 1116 [1117]; Senat, Beschl. v. 25. 11. 2005 - 10 U 2378/05).
cc) Nicht gefolgt werden kann auch der Ansicht, bei einem zunächst verschwiegenen und auch später geleugneten oder nicht substantiiert dargelegten Vorschaden sei die Möglichkeit einer Schadensschätzung nach § 287 ZPO mangels hinreichend substantiiertem Klagevortrag grundsätzlich zu verneinen (vgl. etwa OLG Hamburg, SP 1992, 232; MDR 2001, 1111= OLGR 2001, 261 = r+s 2001, 455; KG, SP 2000, 311; LG Frankfurt, SP 1992, 232; LG Braunschweig, SP 1999, 272; LG Saarbrücken, SP 2003, 423; LG Wiesbaden, VersR 2003, 1297; LG Berlin, NJOZ 2004, 2001; LG Bremen, NZV 2005, 529):
Zunächst ist zu beachten, dass § 287 ZPO dem Geschädigten nicht nur die Beweisführung erleichtert, sondern auch seine Darlegungslast reduziert (BGHZ 74, 221 [226]; BGH, NJW-RR 1988, 410; DAR 1992, 262; Thomas/Putzo/Reichold, ZPO, 27. Aufl. 2005, § 287 Rz. 9). Eine Substantiierung, also die Konkretisierung und Detaillierung des Vortrags der klagebegründenden Tatsachen, kann von ihm im Rahmen des § 287 ZPO nicht in gleicher Weise gefordert werden wie hinsichtlich anderer tatsächlicher Fragen (BGH aaO). Die Klage darf daher nicht wegen lückenhaften Vortrags zur Schadensentstehung und Schadenshöhe abgewiesen werden, solange greifbare Anhaltspunkte für eine Schadensschätzung vorhanden sind (BGH, NJW-RR 1988, 410; Thomas/Putzo/Reichold aaO). Solche Anhaltspunkte für eine Schadensschätzung sind aber, wie dargelegt, im vorliegenden Fall zweifelsfrei gegeben.

Weiter ist zu beachten, dass eine nach dem schriftsätzlichen Vorbringen unsubstantiierte Klage nicht abgewiesen werden darf, wenn sie aufgrund von Zeugenaussagen oder eines Gutachtens substantiiert wird (BGH, GRUR 2004, 50 [52] = BGHReport 2004, 173; zustimmend Gehrlein, Intensivkurs zur ZPO, S. 3 unter II 2c [URL: www.jura.uni-mannheim.de/pdf/Intensivkurs_zpo.pdfl).
dd) Jeder gesetzlichen Grundlage entbehrend ist die - neuerdings auch für andere straßenverkehrsrechtliche Fallgestaltungen vertretene - These, dass es für eine unberechtigte Zuvielforderung eine sog. Erheblichkeitsgrenze gebe, deren Überschreiten dazu führe, dass ein Schadensersatzanspruch grundsätzlich vollständig zu versagen sei (so z. B. LG München 1, Urt. v. 20. 7. 2005 - 19 0 7215/03). Bezeichnenderweise wird zur Stützung einer solchen „Rechtsansicht” nur auf die „ständige Rechtsprechung der Kammer” zurückgegriffen. ..."