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Grundsätze der Schmerzensgeldbemessung

Grundsätze der Schmerzensgeldbemessung


Siehe auch
Das Schmerzensgeld
und
Stichwörter zum Thema Personenschaden




Für die nichtmateriellen Schadensfolgen einer Verletzung kann der Geschädigte vom Schädiger einen der Billigkeit entsprechenden finanziellen Ausgleich verlangen (§ 253 BGB). Infolge mangelnder Einzelfallregelung seitens des Gesetzgebers und angesichts der Fülle sich voneinander unterscheidender Erscheinungsbilder hinsichtlich der Schadenszufügung, der Verletzungsbilder, der Behandlungsnotwendigkeiten und -dauer, des Heilungserfolges, der Beeinträchtigungen im Leben des Betroffenen sowie der sozialen und finanziellen Stellung des Schädigers sowie des Verletzten ist die für den einzelnen Fall maßgebliche Bestimmung des angemessenen Entschädigungsbetrages oft ein schwieriges Unterfangen, da die Bewertungsmaßstäbe natürlich von Beurteiler zu Beurteiler verschieden sind.


Bis zum heutigen Tag beziehen sich die meisten -Gerichtsentscheidungen auf das Schmerzensgeld-Grundsatzurteil des Großen Senats des BGH (Beschluss vom 06.07.1955 - GSZ 1/55).

Bei der Bemessung des Schmerzensgeldes war nach dem vor dem 01.08.2002 geltenden Schadensrecht von seiner Doppelfunktion auszugehen (BGHZ 18, 149; KG DAR 1987, 151). Es sollte dem Geschädigten einen angemessenen Ausgleich für diejenigen Schäden bieten, die nicht vermögensrechtlicher Art sind, und zugleich dem Gedanken Rechnung tragen, dass der Schädiger dem Geschädigten Genugtuung dafür schuldet, was er ihm angetan hat. Die wesentliche Grundlage für die Bemessung des Schmerzensgeldes bilden das Maß und die Dauer der Lebensbeeinträchtigung, die Größe, Heftigkeit und Dauer der Schmerzen und Leiden sowie die Dauer der Behandlung und der Arbeitsunfähigkeit, Übersehbarkeit des weiteren Krankheitsverlaufes, Fraglichkeit der endgültigen Heilung sowie ferner der Grad des Verschuldens und die Gesamtumstände des Falles.

Seit dem 01.08.2002 ist Voraussetzung für das Schmerzensgeld nicht mehr ein schuldhaftes Handeln des Schädigers, sondern der Verletzte hat auch dann einen Schmerzensgeldanspruch, wenn es sich auf Seiten des Schädigers lediglich um eine Haftung aus Gefährdung (z. B. nach dem Straßenverkehrsgesetz) handelt.




Die vielen für das Ergebnis bedeutsamen Abwägungskriterien haben stets den Wunsch aufrecht erhalten, Hilfsmittel zu finden, die es ermöglichen sollten eine gewisse Vergleichbarkeit der Verletzungsfälle und damit auch für die potentiellen Kläger einie relativ realistische Voraussehbarkeit des Prozessergebnisses zu erreichen. Letzteres war wegen des mit einer Klage verbundenen Kostenrisikos einerseits, aber auch der Gefahr, einen vorhandenen Anspruch unnötig zu „verschenken“, nicht ganz unwichtig.

Wurde ein beziffertes Schmerzensgeld vom Gericht als hoch befunden, wurden der wagemutige Kläger als Folge seines teilweisen Unterliegens mit einem Teil der Prozesskosten belastet. Klagte der vorsichtig kostenbewusst handelnde Anwalt zu wenig Schmerzensgeld ein, hatte er dem geschädigten Auftraggeber womöglich geschadet, wenn das Gericht ein wesentlich höheres Schmerzensgeld für angemessen erachtet hätte, aber wegen der Bindung an die Parteianträge nicht mehr als den eingeklagten Betrag zusprechen durfte.

Zwar hat man einen Weg gefunden, um diese Konfliktlage etwas zu entschärfen: Der Kläger beantragt von vornherein ein „angemessenes Schmerzensgeld, dessen Höhe vom Gericht festzusetzen ist“..Was aber, wenn die Ansichten des Gerichts weit hinter den Vorstellungen des Klägers zurück blieben und dieser gegen das Urteil Rechtsmittel einlegen wollte? Wie konnte er geltend machen, weniger bekommen zu haben als ihm zustand? Wieso war er durch das Urteil beschwert? - eine Voraussetzung der Zulässigkeit des Rechtsmittels.

Um beides zu haben, stellte man zwar weiterhin einen unbezifferten Antrag, benannte dem Gericht gegenüber jedoch einen Betrag, den man sich als Mindestschmerzensgeld vorstellte, um bei entsprechend hohem Abweichen des Urteils einen Beleg für die Beschwer zu haben. Dass man damit ein gewisses Kostenrisiko nicht los wurde, liegt auf der Hand.

Kein Wunder also, dass man auch auf andere Weise versucht hat, für Schmerzensgeldprozesse ein bestimmtes Maß an Vorhersehbarkeit zu schaffen: Es begann die Blütezeit der Schmerzensgeldtabellen!

Kritiker einer weitgehenden Verwendung von Schmerzensgeldtabellen bezweifeln,

   dass die bisherige Praxis, sich an vermeintlich vergleichbaren Entscheidungen anderer Gerichte zu orientieren, zu überzeugenderen Ergebnissen führen würde.

Denn solche Entscheidungen leiden in ihrer Funktion als Bezugspunkt einer Schmerzensgeldberechnung in anderen Verfahren bereits daran, dass sie nicht Ausdruck eines in sich geschlossenen Systems sind. Dies folgt schon daraus, dass nicht sämtliche Schmerzensgeldentscheidungen veröffentlicht und somit für andere Gerichte einsehbar sind. Auch soweit in Schmerzensgeldtabellen entsprechende Zusammenfassungen der aufgenommenen Entscheidungen enthalten sind, leiden diese Zusammenfassungen daran, dass eine selektive Zusammenfassung an die Stelle einer vollständigen Abbildung des in einem anderen Verfahren zu Grunde liegenden Prozessstoffes tritt. Ob unmittelbar einsehbar oder in einer Schmerzensgeldtabelle aufgeführt, leidet die Orientierung an Entscheidungen anderer Gerichte aber auch daran, dass es nahezu immer an einer brauchbaren Vergleichbarkeit zwischen den Entscheidungen anderer Gerichte und einem zur Entscheidung anstehenden Verfahren fehlt. Denn auch nur ein einzelnes, relevantes Bemessungskriterium, das sich anders darstellt, kann die Angemessenheit eines von einem anderen Gericht zuerkannten Schmerzensgeldes gänzlich in Frage stellen, etwa das Alter des Geschädigten oder das komplexe Zusammenwirken bestimmter, auch in einem anderen Verfahren festgestellter Verletzungen mit einer weiteren, in einem anderen Verfahren nicht festgestellten Verletzung, die die Leiden eines Geschädigten gänzlich anders darstellen kann.
LG Frankfurt am Main (Urteil vom 17.07.2019 - 2-24 O 246/16)

Und auch für dieses Leiden gibt es eine Medizin: die taggenaue Schmerzensgeldbemessung (oder sogar - berechnung?).




Beschrieben wird diese Methode in Schwintowski/Schah Sedi, Schah Sedi, 2013, Handbuch Schmerzensgeld. Den wesentlichen Inhalt referiert Herbert Lang, „Taggenaue“ Berechnung des Schmerzensgeldes und Verwendung von Tabellen beim Haushaltsführungsschaden, jurisPR-VerkR 5/2019 Anm. 1 zu OLG Frankfurt am Main (Urteil vom 18.10.2018 - 22 U 97/16)

   Nicht ausreichend sei es, den konkreten Fall – wie gegenwärtig praktiziert – mit anderen gerichtlichen Entscheidungen zu vergleichen, die insoweit nur eine gewisse Orientierung geben können (OLG München, Urt. v. 24.11.2017 - 10 U 952/17 - ZfSch 2018, 203). Indem die Höhe des Schmerzensgeldes zudem von Vorstellungen des Anwaltes des Geschädigten und der örtlichen Lage des Gerichtes abhängig ist, sei die transparente Vorhersage, welchen Betrag ein Gericht zusprechen würde, speziell außergerichtlich aktuell nahezu unmöglich. Die Tatsache, dass in der Praxis oftmals auch die zeitliche Dauer der Beeinträchtigung des Geschädigten unterschätzt werde, habe immer wieder unzutreffend niedrige Schmerzensgelder zur Folge. Deswegen gebe es dazu heute schon in vielen europäischen Ländern Tabellen zu der Höhe des Schmerzensgeldes für typische Verletzungen, die von Berufsverbänden bzw. Richtern erarbeitet werden (Höke, NZV 2014, 1; Riedmeyer, ZfSch 2014, 304). In Richtung einer solchen Standardisierung sollte auch in Deutschland gearbeitet werden (Scheffen, NZV 1994, 417).

Auf Basis der Überlegungen sei die Bemessung des Schmerzensgeldes nach den Kriterien einer „taggenauen Berechnung“ (Schwintowski/Schah Sedi/Schah Sedi, Handbuch Schmerzensgeld 2013, S. 13 ff.) vorzugswürdig. Sie berücksichtigten angemessen die verschiedenen Behandlungsstadien und Stufen der Schadensfolgen der Verletzten. Ihr schematisches Vorgehen habe den Vorteil einer einheitlichen außergerichtlichen Regulierung des Schmerzensgeldes, schaffe also die Basis für eine einvernehmliche Schätzung des adäquaten Betrages. Dieses Modell könnte auf Dauer bei sehr schweren Beeinträchtigungen zu einer deutlichen Erhöhung der Schmerzensgelder führen, dem stünde aber die Reduktion bei leichteren Verletzungen gegenüber.

(1) Das Modell der „taggenauen Berechnung“ gehe als Prämisse von einem von Einkommen und Status unabhängigen gleichen Schmerz von jedermann aus. Grundlage der Berechnung sei deswegen das vom Statistischen Bundesamt ermittelte Brutto-Durchschnittseinkommen, das vorliegend im maßgeblichen Zeitraum 2.670,16 Euro pro Monat betrug. Hiervon werden Prozentsätze genommen, die sich an den unterschiedlichen Behandlungsstadien orientieren. Während des Aufenthaltes in der Normalstation des Krankenhauses seien das täglich 10%, für eine spätere Arbeitsunfähigkeit noch 7%. Diese Prozentsätze seien aber, so das Oberlandesgericht, nicht zwingend, sondern könnten auch deutlich nach unten korrigiert werden. Vorliegend ergäben sich auf Basis des Modells für elf Tage stationäre Behandlung des Klägers 2.937,11 Euro, für sich anschließende vier Monate Krankschreibung weitere 186,91 Euro pro Tag.

(2) Da die Arbeitsunfähigkeit per se nichts über die tatsächliche Beeinträchtigung des Verletzten aussagt, nähmen die Autoren im zweiten Schritt eine Individualisierung vor, indem sie an den in § 2 der Versorgungsmedizin-VO 2008 geregelten Grad der Schädigungsfolgen (GdS) anknüpfen. Dessen Höhe gebe die körperlichen, seelischen und sozialen Auswirkungen einer Funktionsbeeinträchtigung wieder, also die konkrete Lebensbeeinträchtigung im Einzelfall. Demnach habe vorliegend bei dem Kläger für die Zeit vom 13.03. bis 27.04.2014 (46 Tage) eine 50%ige Beeinträchtigung vorgelegen, woraus sich 4.298,93 Euro errechnen. Für die Zeit vom 28.04. bis 31.07.2014 (95 Tage) habe eine reduzierte Minderung von 25% bestanden, was den weiteren Betrag von 4.438,40 Euro ausmacht.

(3) Auf der dritten Stufe sehe das Modell eventuelle individuelle Zu- und Abschläge aufgrund besonderer Umstände des konkreten Falles vor. Solche könnten hier z.B. in einer weiteren, längerfristigen Beeinträchtigung und der realistischen Gefahr einer Arthrose gesehen werden. Dem könne, so das Oberlandesgericht, aber entgegengehalten werden, dass dieser Abschnitt schon durch die Abstufung nach Behandlungsschritten im ersten Schritt des Vorgehens abgedeckt wurde.

Nachdem durch das erwähnte Urteil des OLG Frankfurt am Main die taggenaue Berechnung (!) des immateriellen Anspruchs Eingang in die Rechtsprechung gefunden hatte, gab es weiteren Zuspruch

   (siehe LG Frankfurt am Main (Urteil vom 17.07.2019 - 2-24 O 246/16))

aber auch Ablehnung

   (siehe OLG Düsseldorf (Urteil vom 28.03.2019 - 1 U 66/18)



Außerhalb des Verkehrsrechts hat das OLG Brandenburg (Urteil vom 16.04.2019 - 3 U 8/18) geurteilt:

   Die „taggenaue“ Bewertungsmethode zur Bemessung des Schmerzensgeldes wird von der höchstrichterlichen Rechtsprechung nicht verlangt (vgl. BGHZ 18, 149) und kann insofern auch nach Auffassung des Senats keine tragfähige Grundlage bilden, berücksichtigt sie doch insbesondere den Straf- und Sühnecharakter des Schmerzensgeldes nicht und erwächst sie doch dem Irrglauben, jegliche Art und Intensität körperlicher Einschränkungen sowie Schmerzen objektiviert bemessen zu können; es erscheint jedoch fehlsam anzunehmen, aus entsprechenden Vorgaben erwüchse eine größere Einzelfallgerechtigkeit.

Es ist somit ein Thema vorhanden, dass ausreichend Stoff für künftigen Streit liefert.

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