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OLG München Urteil vom 12.01.2018 - 10 U 3100/17 - Keine Zurechnung der Betriebsgefahr beim Sicherungseigentum

OLG München v. 12.01.2018: Der Sicherungseigentümer, der nicht Halter des Fahrzeugs ist, muss sich die allgemeine Betriebsgefahr seines Fahrzeugs auch dann nicht zurechnen lassen


Das OLG München (Urteil vom 12.01.2018 - 10 U 3100/17) hat entschieden:

1. Eine Typizität, wie sie für einen Anscheinsbeweis Voraussetzung wäre, liegt regelmäßig nicht vor, wenn zwar feststeht, dass vor einem Auffahrunfall ein Spurwechsel des vorausfahrenden Fahrzeugs stattgefunden hat, der Sachverhalt aber im Übrigen nicht aufklärbar ist und sowohl die Möglichkeit besteht, dass der Führer des vorausfahrenden Fahrzeugs unter Verstoß gegen § 7 Abs. 5 StVO den Fahrstreifenwechsel durchgeführt hat, als auch die Möglichkeit, dass der Unfall auf eine verspätete Reaktion des auffahrenden Fahrers zurückzuführen ist.

2. Der Sicherungseigentümer, der nicht Halter des Fahrzeugs ist, muss sich die allgemeine Betriebsgefahr seines Fahrzeugs auch dann nicht zurechnen lassen. Dies gilt auch dann, wenn der Halter die ihm zustehenden Schadensersatzansprüche in gewillkürter Prozessstandschaft geltend macht.



Siehe auch

Fahrstreifenwechsel des Vorausfahrenden und Auffahrunfall

und

Betriebsgefahr - verschuldensunabhängige Gefährdungshaftung


Gründe:


A.

Von einer Darstellung der tatsächlichen Feststellungen wird abgesehen (§§ 540 II, 313 a I 1 ZPO i.V.m. § 26 Nr. 8 EGZPO sowie §§ 540 II, 313 b I 1 ZPO).

B.

I.

Die statthafte sowie form- und fristgerecht eingelegte und begründete, somit zulässige Berufung hat in der Sache überwiegend Erfolg. Zwar ist das Ersturteil nicht dahingehend zu beanstanden, dass sich das Landgericht keine Überzeugung von einem schuldhaften Verursachungsbeitrag des Beklagten zu 1) gebildet hat. Allerdings hat das Erstgericht übersehen, dass es hinsichtlich der von der Klägerin in gewillkürter Prozessstandschaft geltend gemachten Ansprüche an einer Norm fehlt, wonach sich die den Pkw nicht haltende (Sicherungs-​)Eigentümerin die allgemeine Betriebsgefahr ihres Pkws zurechnen lassen müsste.

1.) Soweit sich das Erstgericht keine Überzeugung von einem schuldhaften Verursachungsbeitrag des Beklagten zu 1) gebildet hat, ist dies - entgegen der Auffassung der Klägerin - nicht zu beanstanden.

a) Der Senat ist gem. § 529 I Nr. 1 ZPO an die vom Landgericht in nicht zu beanstandender Weise festgestellten Tatsachen gebunden. Anhaltspunkte für die Unrichtigkeit der Beweiswürdigung sind ein unrichtiges Beweismaß, Verstöße gegen Denk- und Naturgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze, Widersprüche zwischen einer protokollierten Aussage und den Urteilsgründen sowie Mängel der Darstellung des Meinungsbildungsprozesses wie Lückenhaftigkeit oder Widersprüche, vgl. z.B. BGH VersR 2005, 945. Konkreter Anhaltspunkt in diesem Sinn ist jeder objektivierbare rechtliche oder tatsächliche Einwand gegen die erstinstanzlichen Feststellungen (BGHZ 159, 254 [258]); bloß subjektive Zweifel, lediglich abstrakte Erwägungen oder Vermutungen der Unrichtigkeit ohne greifbare Anhaltspunkte genügen nicht (BGH, a. a. O). Ein solcher konkreter Anhaltspunkt für die Unrichtigkeit der erstinstanzlichen Beweiswürdigung ist von der Berufung nicht aufgezeigt worden. Es ist zwar möglich, dass sich der Unfall noch während des Fahrstreifenwechsels des Beklagten zu 1) ereignet hat. Ebenso möglich ist es aber auch, dass dieser Fahrstreifenwechsel zum Kollisionszeitpunkt bereits abgeschlossen war und der Kollisionswinkel auf einer leichten Lenkbewegung des klägerischen Fahrers nach rechts beruhte. Entgegen der Ansicht der Beklagten wäre eine solche Lenkbewegung auch nicht unbedingt lebensfremd, geht man nämlich, wie auch im Ersturteil erörtert, davon aus, dass der sich mit hoher Differenzgeschwindigkeit nähernde klägerische Fahrer zunächst nach links auswich, dann aber angesichts der sich dort befindlichen Betonseitenwand wieder nach rechts lenkte.

b) Aufgrund der vom Erstgericht festgestellten Tatsachen kann dem Beklagten zu 1) kein schuldhafter Verursachungsbeitrag nachgewiesen werden, nicht im Wege des Vollbeweises, aber - entgegen der Auffassung der Klägerin - auch nicht im Wege des Anscheinsbeweises. Denn die Anwendung des Anscheinsbeweises setzt voraus, dass das gesamte feststehende Unfallgeschehen nach der Lebenserfahrung typisch dafür ist, dass derjenige Verkehrsteilnehmer, zu dessen Lasten der Anscheinsbeweis Anwendung finden soll, schuldhaft gehandelt hat (vgl. BGH, Urteil vom 13.12.2011, Az.: VI ZR 177/10, NJW 2012, 608). Auch wenn es sich hier um keinen klassischen Auffahrunfall handelt, so weist der Unfallhergang doch so viele Parallelen auf, dass die vom BGH im o.g. Urteil ausgeführten Grundsätze entsprechend gelten. Demnach liegt eine Typizität, wie sie für einen Anscheinsbeweis Voraussetzung wäre, regelmäßig nicht vor, wenn zwar feststeht, dass vor dem Auffahrunfall ein Spurwechsel des vorausfahrenden Fahrzeugs stattgefunden hat, der Sachverhalt aber im Übrigen nicht aufklärbar ist und sowohl die Möglichkeit besteht, dass der Führer des vorausfahrenden Fahrzeugs unter Verstoß gegen § 7 V StVO den Fahrstreifenwechsel durchgeführt hat (klägerische Version), als auch die Möglichkeit, dass der Unfall auf eine verspätete Reaktion des auffahrenden Fahrers (Version der Beklagten) zurückzuführen ist.

2.) Das Ersturteil ist allerdings insoweit zu beanstanden, als das Landgericht hinsichtlich sämtlicher in der Hauptsache geltend gemachter Schadenspositionen von einer Haftungsverteilung im Verhältnis 50 zu 50 ausgegangen ist. Zutreffend ist diese Haftungsverteilung zwar bzgl. der eigenen Ansprüche der Klägerin, d.h. der Sachverständigenkosten i.H.v. 700,50 € und der Unkostenpauschale i.H.v. 25,00 €. Denn insoweit greift § 17 I, II StVG ein. Diesbezüglich liegt im Tenor des angefochtenen Urteils lediglich ein Schreib- bzw. Rechenfehler insoweit vor, als es statt „EUR 362,50“ heißen muss: 362,75 €. Nicht zu beanstanden, sondern der ständigen Rechtsprechung des Senats und einer Vielzahl weiterer Gerichte entsprechend (vgl. z.B. die Übersicht von Notthoff in Ludovisy/Eggert/Burhoff, Praxis des Straßenverkehrsrechts, 6. Aufl., § 2, Rdnr. 869), ist das Ersturteil im Übrigen auch insoweit, als die Unfallnebenkosten-​Pauschale nicht mit 30,00 €, sondern nur mit 25,00 € bemessen worden ist.

Unzutreffend ist die Haftungsverteilung hingegen bzgl. der von der Klägerin in gewillkürter Prozessstandschaft geltend gemachten Ansprüche, nämlich bzgl. der Reparaturkosten (7.233,56 €) und der Wertminderung (800,00 €). Bzgl. dieser - der Höhe nach unstreitiger - Positionen haften die Beklagten zu 100 %, weil es insoweit an einer Norm fehlt, wonach sich die den Pkw nicht haltende (Sicherungs-​)Eigentümerin (die B. Bank GmbH) die allgemeine Betriebsgefahr ihres Pkws zurechnen lassen müsste (vgl. auch BGH, Urteil vom 07.03.2017, Az.: VI ZR 125/16, VersR 2017, 830).

Die Beklagten waren daher zur samtverbindlichen Zahlung von insg. 8.396,31 € zu verurteilen (davon 8.033,56 € an die B. Bank GmbH und 362,75 € an die Klägerin), jeweils nebst Zinsen hieraus wie tenoriert.

3.) Ferner waren die Beklagten antragsgemäß zur samtverbindlichen Zahlung vorprozessualer Anwaltskosten i.H.v. 679,10 € an die Klägerin zu verurteilen, nebst Zinsen hieraus seit Rechtshängigkeit, d.h. bzgl. des Beklagten zu 1) (Klagezustellung an ihn bereits am 28.01.2017, an die Beklagte zu 2) hingegen erst am 30.01.2017) für die Zeit vom 29.01.2017 bis zum 30.01.2017 und bzgl. beider Beklagter samtverbindlich seit 31.01.2017.

4.) Die Kostenentscheidung (bzgl. der Kosten des Verfahrens erster Instanz) beruht auf §§ 92 II Nr. 1, 100 IV ZPO. Die in der Hauptsache auf eine samtverbindliche Verurteilung der Beklagten i.H.v. 8.764,06 € gerichtete Klage erwies sich als zu ca. 96 % (i.H.v. 8.396,31 €) erfolgreich. Da die klägerische Zuvielforderung damit verhältnismäßig geringfügig war und - mangels Gebührensprungs - auch keine höheren Kosten veranlasste, erschien es angemessen, den Beklagten gem. §§ 92 II Nr. 1, 100 IV ZPO samtverbindlich die gesamten Kosten aufzuerlegen.

II.

Im Übrigen war die Berufung zurückzuweisen.

III.

Die Kostenentscheidung (bzgl. der Kosten des Berufungsverfahrens) folgt aus §§ 92 I 1, 100 IV ZPO. Die auf eine in der Hauptsache um 4.384,84 € höhere Verurteilung der Beklagten gerichtete Berufung der Klägerin erwies sich mit einer in der Hauptsache um 4.017,09 € höheren Verurteilung als zu ca. 92 % erfolgreich. IV.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO i.V.m. § 26 Nr. 8 EGZPO.

V.

Die Revision war nicht zuzulassen. Gründe, die die Zulassung der Revision gem. § 543 II 1 ZPO rechtfertigen würden, sind nicht gegeben. Mit Rücksicht darauf, dass die Entscheidung einen Einzelfall betrifft, ohne von der höchst- oder obergerichtlichen Rechtsprechung abzuweichen, kommt der Rechtssache weder grundsätzliche Bedeutung zu noch erfordern die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts.

VI.

Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 63 II 1, 47 I 1, 40, 48 I 1 GKG, 3 ff ZPO.

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