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BGH Beschluss vom 19.08.2014 - VI ZR 308/13 - Parteivortrag und rechtliches Gehör

BGH v. 19.08.2014: Volle Haftung aus Gefährdung gegenüber Fußgänger bei ungeklärter Ampelschaltung


Der BGH (Beschluss vom 19.08.2014 - VI ZR 308/13) hat entschieden:

1.  Der Ersatzanspruch des Fußgängers, den keine Gefährdungshaftung trifft, darf gemäß § 9 StVG, § 254 BGB nur dann gekürzt werden,, wenn feststeht, dass er den Schaden durch sein Verhalten mitverursacht oder mitverschuldet hat. Erforderlich hierfür ist die Überzeugung des Gerichts nach dem Beweismaß des § 286 ZPO. Die Darlegungs- und Beweislast für ein Fehlverhalten des Fußgängers trifft dabei Fahrer und Halter des Kfz.

2.  Berücksichtigt das Berufungsgericht eine vom Kläger vorgetragene alternative Möglichkeit der Unfallverursachung nicht, die ein schuldhaftes Verhalten des Klägers ausschließen oder jedenfalls in günstigerem Licht erscheinen lassen könnte, liegt hierin ein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG vor.



Siehe auch

Fahrbahnüberquerung durch Fußgänger

und

Berücksichtigung der Betriebsgefahr bei Kfz-Unfällen mit Fußgängern


Gründe:

I.

Der Kläger nimmt den Beklagten auf Ersatz materiellen und immateriellen Schadens nach einem Verkehrsunfall in Anspruch. Der Kläger ist Zeitsoldat. Seine Dienststelle befindet sich in der M-​I.-​Kaserne in M. Am 20. Januar 2010 gegen 7.05 Uhr bei 0 Grad Celsius und nassen Straßen überquerte der Kläger - der eine Tarnuniform trug - zu Fuß den vor dem Kaserneneingang gelegenen und als solchen gekennzeichneten Fußgängerüberweg. Als er etwa die Mitte der Straße erreicht hatte, wurde er von dem vom Beklagten zu 1 geführten und bei der Beklagten zu 2 versicherten Kraftfahrzeug erfasst und schwer verletzt. Der Kläger behauptet, der Beklagte zu 1 habe sich der Unfallstelle mit überhöhter Geschwindigkeit genähert. Die Beklagten behaupten, der Kläger sei plötzlich und unvermittelt im Lichtkegel des Scheinwerfers des Fahrzeuges aufgetaucht. Die sofort eingeleitete Vollbremsung habe die Kollision nicht mehr verhindern können.

Das Landgericht hat der Klage auf der Grundlage einer Haftungsquote von 50 % entsprochen. Es hat die Beklagten als Gesamtschuldner verurteilt, an den Kläger 6.235,44 € (Schmerzensgeld in Höhe von 15.000 €, Haushaltsführungsschaden in Höhe von 1.340,16 €, Fahrtkosten in Höhe von 382,50 €, Schadenspauschale in Höhe von 12,78 € abzüglich geleisteter Zahlungen der Beklagten in Höhe von 10.500 €) zu zahlen. Darüber hinaus hat es festgestellt, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, dem Kläger 50 % seiner weiteren materiellen und immateriellen Schäden zu ersetzen. Die weiter gehende Klage hat es abgewiesen. Die hiergegen gerichtete Berufung des Klägers hat das Oberlandesgericht mit Beschluss vom 26. Juni 2013 einstimmig als unbegründet zurückgewiesen. Es hat dabei zugrunde gelegt, dass die Beklagten lediglich in Höhe von 40 % hafteten. Hiergegen wendet sich der Kläger mit der Nichtzulassungsbeschwerde.





II.

Die Nichtzulassungsbeschwerde hat Erfolg und führt gemäß § 544 Abs. 7 ZPO zur Aufhebung des angegriffenen Beschlusses und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Berufungsgericht. Das Berufungsgericht hat den Anspruch des Klägers auf Gewährung rechtlichen Gehörs in entscheidungserheblicher Weise verletzt.

1. Unter entscheidungserheblichem Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG ist das Berufungsgericht zu der Beurteilung gelangt, der Kläger habe sich durch ein Beharren auf seinem Vorrecht offensichtlich unvernünftig der Gefahr ausgesetzt, auf dem Fußgängerüberweg angefahren zu werden.

a) Das Berufungsgericht hat ausgeführt, dass sich die offensichtlich unvernünftige Selbstgefährdung des Klägers vorliegend darin gezeigt habe, dass er entweder auf den Verkehr überhaupt nicht geachtet habe, etwa weil er in Eile gewesen sei, oder den Beklagten zu 1 gesehen und gemeint habe, dass dieser noch rechtzeitig werde anhalten können. Im Hinweisbeschluss, auf den das Berufungsgericht in seinem Zurückweisungsbeschluss Bezug genommen hat, hat es weiter ausgeführt, der Kläger habe selbst nicht vorgetragen, dass er vor dem Überqueren des Fußgängerüberwegs angehalten habe, um den fließenden Verkehr zu beobachten. Auch habe er nicht dargelegt, aus welchen Gründen er das herannahende Fahrzeug des Beklagten zu 1 nicht habe erkennen können. Unerheblich sei, dass es möglich sein könne, dass der Beklagte zu 1 schneller als mit der zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h gefahren sei. Seine diesbezügliche Behauptung habe der Kläger nicht bewiesen.

b) Gegen diese Beurteilung wendet sich die Nichtzulassungsbeschwerde mit Erfolg. Sie beanstandet zu Recht, dass das Berufungsgericht eine vom Kläger vorgetragene alternative Möglichkeit der Unfallverursachung, die ein schuldhaftes Verhalten des Klägers ausschließen oder jedenfalls in günstigerem Licht erscheinen lassen könnte, unter Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG nicht berücksichtigt hat. Der Kläger hatte mit Schriftsatz vom 10. Juni 2011, S. 3 vorgetragen, der Beklagte zu 1 habe seiner Lebensgefährtin unmittelbar nach dem Unfall erklärt, mit einer Geschwindigkeit von 60 bis 65 km/h gefahren zu sein. Die vom Kläger zum Beweis dieser Behauptung benannte Zeugin S. ist zu dieser Frage nicht vernommen worden. Die Nichtzulassungsbeschwerde rügt darüber hinaus zu Recht, dass das Berufungsgericht die Angaben des Sachverständigen in seinem Gutachten vom 4. Februar 2010, S. 10 sowie in der mündlichen Verhandlung vom 4. Februar 2010 (Protokoll S. 12 unten) nicht berücksichtigt hat, wonach die Geschwindigkeit des Fahrzeugs der Beklagten noch nach der Kollision rund 45 km/h betragen habe bzw. wonach von einer Kollisionsgeschwindigkeit von 45 bis 50 km/h auszugehen sei, obwohl der Beklagte zu 1 vor der Kollision eine Vollbremsung eingeleitet hatte. Diese ihm günstigen Angaben hat sich der Kläger jedenfalls konkludent zu eigen gemacht (vgl. Senatsurteil vom 8. Januar 1991 - VI ZR 102/90, VersR 1991, 467, 468; Senatsbeschluss vom 30. November 2010 - VI ZR 25/09, VersR 2011, 1158 Rn. 9).

Das Berufungsgericht hat darüber hinaus - wie die Nichtzulassungsbeschwerde zu Recht geltend macht - den Vortrag des Klägers in der Klageschrift und im Schriftsatz vom 10. Juni 2011 nicht berücksichtigt, wonach der Beklagte die örtlichen Verhältnisse bestens kenne, weil er in der Nähe wohne und deshalb gewusst habe, dass sich dort ein Fußgängerüberweg befinde, der zu der Kaserne führe und von Soldaten in der Zeit zwischen 7.00 Uhr und 7.15 Uhr benutzt werde.

2. Die Gehörsverletzung ist auch entscheidungserheblich. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Berufungsgericht bei der gebotenen Berücksichtigung des Vorbringens des Klägers zu einer anderen Beurteilung gelangt wäre.



3. Bei der neuen Verhandlung wird das Berufungsgericht Gelegenheit haben, sich auch mit den weiteren Einwendungen des Klägers auseinanderzusetzen. Es wird dabei insbesondere zu beachten haben, dass der Ersatzanspruch des Klägers, den als Fußgänger im Gegensatz zu den Beklagten keine Gefährdungshaftung trifft, gemäß § 9 StVG, § 254 BGB nur dann gekürzt werden darf, wenn feststeht, dass er den Schaden durch sein Verhalten mitverursacht oder mitverschuldet hat. Auf die "bloße Unterstellung der wahrscheinlichsten Parameter" (vgl. Zurückweisungsbeschluss S. 3 unter 2. a) kann ein Mitverschulden des Klägers nicht gestützt werden. Erforderlich ist vielmehr eine Überzeugung des Gerichts nach dem Beweismaß des § 286 ZPO. Die Darlegungs- und Beweislast für ein Fehlverhalten des Klägers trifft dabei die Beklagten.

Das Berufungsgericht wird auch zu berücksichtigen haben, dass es sich bei dem Schmerzensgeldanspruch und dem Anspruch auf Ersatz materiellen Schadensersatzes um prozessual selbständige Streitgegenstände handelt (Senat, Beschluss vom 25. April 1989 - VI ZB 13/89, VersR 1989, 818; Urteil vom 22. Mai 1984 - VI ZR 228/82, VersR 1984, 782, 783; BGH, Urteil vom 18. März 1959 - IV ZR 182/58, BGHZ 30, 7, 18; Zöller, ZPO, 30. Auflage, Einleitung Rn. 73). Sie unterliegen jeweils für sich genommen dem Verbot der reformatio in peius (vgl. BGH, Urteil vom 12. September 2002 - IX ZR 66/01, VersR 2003, 509).



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