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Verwaltungsgerichtshof München Beschluss vom 07.08.2018 - 11 CS 18.1270 - Verspätetes und unschlüssiges Fahreignungs-Gutachten

VGH München v. 07.08.2018: Verspätetes und unschlüssiges Fahreignungs-Gutachten


Der Verwaltungsgerichtshof München (Beschluss vom 07.08.2018 - 11 CS 18.1270) hat entschieden:

1. Nach Nr. 2 Buchst. a Satz 1 der Anlage 4a zur FeV muss ein erstelltes Gutachten nachvollziehbar und nachprüfbar sein. Dazu müssen nach Nr. 2 Buchst. a Satz 3 der Anlage 4a alle wesentlichen Befunde wiedergegeben und die zur Beurteilung führenden Schlussfolgerungen dargestellt werden.
2. Es ist im Rahmen eines Entziehungsverfahrens Sache der Fahrerlaubnisbehörde, die Tatsachen zu ermitteln, die Zweifel an der Fahreignung rechtfertigen. Der Betroffene ist grundsätzlich nur verpflichtet, an der Aufklärung von aus bekannten Tatsachen resultierenden Eignungszweifeln mitzuwirken (vgl. BayVGH, B.v. 25.4.2016 – 11 CS 16.227 – juris Rn. 17; B.v. 20.7.2016 – 11 CS 16.1157 – juris Rn. 16). Steht, aus welchen Gründen auch immer, nicht fest, ob der Betreffende geeignet oder ungeeignet ist, so kann die Fahrerlaubnis nicht entzogen werden (vgl. OVG RhPf, B.v. 21.7.2009 – 10 B 10508/09 – Blutalkohol 46, 436 = juris Rn. 10).

3. Zwar trifft es zu, dass nach § 11 Abs. 8 Satz 1 FeV auf die Ungeeignetheit des Betreffenden geschlossen werden kann, wenn das Gutachten nicht fristgerecht vorgelegt wird. Dabei handelt es sich aber nicht um eine Ausschlussfrist (vgl. Siegmund in Freymann/Wellner, jurisPK-Straßenverkehrsrecht, 1. Auflage 2016, § 11 FeV Rn. 130) nach deren Ablauf weiteres Vorbringen präkludiert ist und z.B. auch bei verspäteter Vorlage eines positiven Gutachtens die Fahrerlaubnis entzogen werden könnte, sondern weiterer Sachvortrag und andere Erkenntnisse sind bis zum Abschluss des Verwaltungsverfahrens zu berücksichtigen (vgl. BayVGH, U.v. 30.11.1998 – 11 B 96.2648 – NZV 99, 183; OVG NW, B.v. 10.7.2002 – 19 E 808/01 – VRS 105, 76; Dauer in Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 44. Auflage 2017, § 11 FeV Rn. 54).



Siehe auch
MPU - medizinisch-psychologisches Fahreignungsgutachten
und
Stichwörter zum Thema medizinisch-psychologische Untersuchung (MPU)


Gründe:


I.

Der Antragsgegner wendet sich gegen die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers gegen die Entziehung seiner Fahrerlaubnis der Klassen 1 und 3 (alt).

Der Antragsteller beging am 15. Oktober 2014 und am 28. Februar 2017 jeweils eine Verkehrsordnungswidrigkeit nach § 24a Abs. 1 StVG, indem er einmal mit einer Blutalkoholkonzentration von 0,62 Promille und einmal mit einer Atemalkoholkonzentration von 0,26 mg/l ein Kraftfahrzeug im öffentlichen Straßenverkehr führte.

Mit Schreiben vom 2. März 2017 forderte ihn das Landratsamt Günzburg (im Folgenden: Landratsamt) auf, bis 16. Mai 2017 ein medizinisch-​psychologisches Gutachten vorzulegen. Am 12. Juni 2017 teilte der Antragsteller mit, das eingeholte Gutachten sei mangelhaft. Am 11. Juli 2017 ließ er durch seinen Prozessbevollmächtigten beantragen, ein zweites Gutachten einholen zu dürfen. Das Landratsamt war damit einverstanden und verlängerte die Vorlagefrist zuletzt bis 11. Dezember 2017.

Da der Antragsteller kein Gutachten vorlegte, hörte ihn das Landratsamt am 8. März 2018 zur Entziehung der Fahrerlaubnis an. Daraufhin legte der Antragsteller am 21. März 2018 das Gutachten der AVUS GmbH vom 11. Dezember 2017 und ein Attest seines Hausarztes vom 23. Oktober 2017 vor und erklärte, er sei mit dem Gutachten nicht einverstanden. Die Gutachtensstelle sei aber auf die genannten Mängel nicht eingegangen. Er sei bereit gewesen, eine Haaranalyse durchzuführen. Die Begutachtungsstelle habe aber, entgegen der zuerst erteilten Auskunft, die vom Verkehrsmediziner Dr. S... entnommene Haarprobe nicht analysiert, da es sich bei Dr. S... um den behandelnden Arzt handele. Die Probe sei weiter vorhanden und könne analysiert werden.

Mit Bescheid vom 10. April 2018 entzog das Landratsamt dem Antragsteller die Fahrerlaubnis aller Klassen, forderte ihn unter Androhung eines Zwangsgelds auf, den Führerschein innerhalb von fünf Tagen nach Zustellung des Bescheids abzugeben und ordnete die sofortige Vollziehung an. Das Gutachten der AVUS GmbH sei nachvollziehbar zu dem Ergebnis gekommen, dass der Antragsteller voraussichtlich das Führen von Kraftfahrzeugen und einen die Fahrsicherheit beeinträchtigenden Alkoholkonsum nicht hinreichend sicher trennen könne.

Über den Widerspruch des Antragstellers gegen den Bescheid vom 10. April 2018 hat die Regierung von Schwaben nach Aktenlage noch nicht entschieden. Dem Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs hat das Verwaltungsgericht Augsburg stattgegeben. Das Gutachten der AVUS GmbH sei bezüglich der psychologischen Komponenten nicht nachvollziehbar. Gegenstand der Untersuchung sei das Trennvermögen. Das Gutachten führe demgegenüber aus, die medizinisch-​psychologische Untersuchung falle wegen auffälliger Leberwerte negativ aus. Dies deute darauf hin, dass das Gutachten nur auf die medizinische Komponente abstelle und sich nicht an der gestellten Frage hinsichtlich des Trennungsvermögens orientiere. Das Gutachten sei auch widersprüchlich, weil einerseits ausgeführt werde, die Kooperation des Antragstellers sei ausreichend und die Kommunikation frei von inneren Widersprüchen gewesen, andererseits werde behauptet, er sei im Gesprächsverhalten nicht hinreichend offen gewesen.

Dagegen wendet sich der Antragsgegner mit seiner Beschwerde, der der Antragsteller entgegentritt. Der Antragsgegner macht geltend, die Fahrerlaubnis könne dem Antragsteller schon deshalb entzogen werden, da er das Gutachten nicht fristgerecht vorgelegt habe. Auf den Inhalt des Gutachtens komme es nicht an. Es sei aber auch verwertbar, denn die Angaben des Antragstellers zu seinem Alkoholkonsumverhalten in der Vergangenheit stünden mit den Leberwerten nicht in Einklang. Eine Haaranalyse habe der Antragsteller nicht vorgelegt. Selbst wenn man die Erfolgsaussichten des Widerspruchs als offen ansehen würde, gebiete eine Folgenabschätzung, den Antragsteller vorläufig nicht am Straßenverkehr teilnehmen zu lassen.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten beider Instanzen und die vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.


II.

Die zulässige Beschwerde, bei deren Prüfung der Verwaltungsgerichtshof gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO das form- und fristgerechte Beschwerdevorbringen berücksichtigt, ist nicht begründet, denn der Widerspruch gegen den Bescheid vom 10. April 2018 wird voraussichtlich erfolgreich sein.

1. Nach § 3 Abs. 1 Satz 1 des Straßenverkehrsgesetzes vom 5. März 2003 (StVG, BGBl I S. 310), zuletzt geändert durch Gesetz vom 17. August 2017 (BGBl I S. 3202), und § 46 Abs. 1 Satz 1 der Verordnung über die Zulassung von Personen zum Straßenverkehr vom 18. Dezember 2010 (Fahrerlaubnis-​Verordnung – FeV, BGBl I S. 1980), zuletzt geändert durch Verordnung vom 3. Mai 2018 (BGBl I S. 566), hat die Fahrerlaubnisbehörde die Fahrerlaubnis zu entziehen, wenn sich der Inhaber als ungeeignet oder nicht befähigt zum Führen von Kraftfahrzeugen erweist. Werden Tatsachen bekannt, die Bedenken begründen, dass der Inhaber einer Fahrerlaubnis zum Führen eines Kraftfahrzeugs ungeeignet oder bedingt geeignet ist, finden die §§ 11 bis 14 FeV entsprechend Anwendung (§ 46 Abs. 3 FeV).

Nach Nr. 8.1 der Anlage 4 zur FeV liegt bei Alkoholmissbrauch im fahrerlaubnisrechtlichen Sinne, d.h. wenn das Führen von Fahrzeugen und ein die Fahrsicherheit beeinträchtigender Alkoholkonsum nicht hinreichend sicher getrennt werden kann, keine Fahreignung vor. Nach § 13 Satz 1 Nr. 2 Buchst. b FeV ist ein medizinisch-​psychologisches Gutachten beizubringen, wenn wiederholt Zuwiderhandlungen im Straßenverkehr unter Alkoholeinfluss begangen wurden. Ein solcher Fall liegt hier vor. Der Antragsgegner hat daher zu Recht am 2. März 2017 eine Begutachtungsanordnung erlassen.

2. Nach Nr. 2 Buchst. a Satz 1 der Anlage 4a zur FeV muss ein erstelltes Gutachten nachvollziehbar und nachprüfbar sein. Dazu müssen nach Nr. 2 Buchst. a Satz 3 der Anlage 4a alle wesentlichen Befunde wiedergegeben und die zur Beurteilung führenden Schlussfolgerungen dargestellt werden.

Das vom Antragsteller vorgelegte Gutachten vom 11. Dezember 2017 erfüllt diese Voraussetzungen nicht. Das Verwaltungsgericht hat zutreffend festgestellt, dass das Gutachten nicht schlüssig und nachvollziehbar ist. Zum einen wird in dem Gutachten ausgeführt, die Kooperation sei ausreichend und situationsangemessen und die Kommunikation sei widerspruchsfrei gewesen. Zum anderen wird aber bemängelt, dass das Gesprächsverhalten nicht hinreichend offen gewesen sei, um die notwendigen Hintergrundinformationen zu erhalten und die Angaben den Befunden widersprechen würden. Diese beiden Feststellungen stehen nicht in Einklang und es wird nicht näher erläutert, welche Angaben der Antragsteller verweigert hat, welche Angaben unglaubhaft erscheinen und welche konkreten Angaben des Antragstellers den Befunden widersprechen sollen. Das Gutachten führt demgegenüber ausdrücklich aus, alleine der mittelgradig erhöhte GGT-​Wert ermögliche keine zweifelsfreie Interpretation aus medizinischer Sicht. Gleichwohl geht es dann davon aus, eine positive Prognose sei wegen dieser Werte nicht möglich, da die vom Antragsteller erläuterten Trinkmengen damit nicht vereinbar seien. Damit hat das Gutachten die Werte doch zu Lasten des Antragstellers medizinisch interpretiert, denn sollten die Werte eine andere Ursache haben (z.B. Lebererkrankung, Antibiotikatherapie oder Kontakt mit bestimmten Stoffen), was mit dem Gutachten nicht ausgeschlossen wird, dann könnten sie mit den Angaben des Antragstellers durchaus in Einklang stehen. Dies ist keine schlüssige Argumentation und kann die Fahrungeeignetheit des Antragstellers nicht belegen.

Darüber hinaus hat das Verwaltungsgericht auch zutreffend festgestellt, das Gutachten sei hinsichtlich der zu beurteilenden psychologischen Komponente nicht nachvollziehbar und schlüssig und orientiere sich nicht an der gestellten Frage. Dagegen werden mit der Beschwerde keine Argumente vorgebracht. Zu untersuchen war hier allein das Trennungsvermögen. Dazu wäre zu beurteilen gewesen, ob trotz eines ggf. weiterhin bestehenden problematischen Alkoholkonsums der Konsum sicher vom Führen eines Fahrzeugs getrennt werden kann. Damit befasst sich das Gutachten aber nicht und bewertet die vom Antragsteller gemachten Ausführungen zu seiner Verhaltensänderung nicht, sondern bemängelt alleine einen erhöhten GGT-​Wert, dessen Ursache medizinisch nicht geklärt werden konnte.

Im Übrigen ist es im Rahmen eines Entziehungsverfahrens Sache der Fahrerlaubnisbehörde, die Tatsachen zu ermitteln, die Zweifel an der Fahreignung rechtfertigen. Der Betroffene ist grundsätzlich nur verpflichtet, an der Aufklärung von aus bekannten Tatsachen resultierenden Eignungszweifeln mitzuwirken (vgl. BayVGH, B.v. 25.4.2016 – 11 CS 16.227 – juris Rn. 17; B.v. 20.7.2016 – 11 CS 16.1157 – juris Rn. 16). Steht, aus welchen Gründen auch immer, nicht fest, ob der Betreffende geeignet oder ungeeignet ist, so kann die Fahrerlaubnis nicht entzogen werden (vgl. OVG RhPf, B.v. 21.7.2009 – 10 B 10508/09 – Blutalkohol 46, 436 = juris Rn. 10). Das ist hier der Fall, denn dem vorgelegten Gutachten kann nicht mit hinreichender Sicherheit entnommen werden, dass der Antragsteller ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen ist.

3. Die Beschwerde hat auch nicht deshalb Erfolg, weil der Antragsteller das Gutachten nicht innerhalb der gesetzten Frist vorgelegt hat. Zwar trifft es zu, dass nach § 11 Abs. 8 Satz 1 FeV auf die Ungeeignetheit des Betreffenden geschlossen werden kann, wenn das Gutachten nicht fristgerecht vorgelegt wird. Dabei handelt es sich aber nicht um eine Ausschlussfrist (vgl. Siegmund in Freymann/Wellner, jurisPK-​Straßenverkehrsrecht, 1. Auflage 2016, § 11 FeV Rn. 130) nach deren Ablauf weiteres Vorbringen präkludiert ist und z.B. auch bei verspäteter Vorlage eines positiven Gutachtens die Fahrerlaubnis entzogen werden könnte, sondern weiterer Sachvortrag und andere Erkenntnisse sind bis zum Abschluss des Verwaltungsverfahrens zu berücksichtigen (vgl. BayVGH, U.v. 30.11.1998 – 11 B 96.2648 – NZV 99, 183; OVG NW, B.v. 10.7.2002 – 19 E 808/01 – VRS 105, 76; Dauer in Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 44. Auflage 2017, § 11 FeV Rn. 54). Der Schluss von der Nichtbefolgung der behördlichen Anordnung auf die Nichteignung des Kraftfahrers hat seine wesentliche Grundlage in der Verletzung der dem Betroffenen obliegenden Mitwirkungspflicht und der Annahme, der Betreffende wolle Eignungsmängel verbergen, indem er nicht hinreichend mitwirkt (vgl. BVerwG, U.v. 12.3.1985 – 7 C 26.83 – BVerwGE 71, 93 = juris Rn. 16). Dies soll aber nicht dazu führen, dass eine verspätete Mitwirkungshandlung keine Berücksichtigung mehr finden kann.

Im Übrigen lag auch ein hinreichender Grund für die Nichtbeibringung des geforderten Gutachtens vor (vgl. BVerwG a.a.O.), denn der Antragsteller war berechtigt, zuerst die Begutachtungsstelle um Nachbesserung des unzulänglichen Gutachtens zu bitten. Nachdem dies nicht erfolgreich war, hat er das Gutachten letztendlich vorgelegt.

4. Die Interessenabwägung ergibt, dass angesichts der überwiegenden Erfolgsaussichten des Widerspruchs und der gezeigten Mitwirkungsbereitschaft des Antragstellers hinsichtlich der Gutachtenserstellung und auch der Beibringung einer Haarprobe, deren Analyse wegen eines Missverständnisses nicht durchgeführt werden konnte, dem Antragsteller die Fahrerlaubnis vorläufig belassen werden kann.

5. Es wird jedoch darauf hingewiesen, dass bis zur Tilgung der Ordnungswidrigkeit vom 15. Oktober 2014 aus dem Fahreignungsregister weiterhin die zwingende Notwendigkeit besteht, gestützt auf § 13 Satz 1 Nr. 2 Buchst. b FeV ein medizinisch-​psychologisches Gutachten einzuholen. Es muss daher entweder ein neues, ordnungsgemäßes Gutachten erstellt oder das Gutachten der AVUS GmbH vom 11. Dezember 2017, ggf. unter Heranziehung von neueren Untersuchungsbefunden, nachgebessert werden.

Des Weiteren wird darauf hingewiesen, dass der Beschluss des Verwaltungsgerichts vom Gericht der Hauptsache jederzeit geändert werden kann, wenn Umstände zu Tage treten, die eine andere Entscheidung rechtfertigen (§ 80 Abs. 7 VwGO).

6. Die Beschwerde war daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 2 VwGO zurückzuweisen.

7. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1 Satz 1, § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 1 GKG i.V.m. den Empfehlungen in Nr. 1.5 Satz 1, 46.1, 46.3 und 46.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit (abgedruckt in Kopp/Schenke, VwGO, 23. Aufl. 2017, Anh. § 164 Rn. 14).

8. Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).

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