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Oberlandesgericht Bremen Beschluss vom 19.09.2001 - Ss (B) 19/01 - Amtsaufklärungspflicht beim Nichterscheinen des Betroffenen

OLG Bremen v. 19.09.2001: Amtsaufklärungspflicht des Gerichts beim Ausbleiben des Betroffenen in der Bußgeldhauptverhandlung:


Das Oberlandesgericht Bremen (Beschluss vom 19.09.2001 - Ss (B) 19/01) hat entschieden:

   Wenn dem Gericht Tatsachen bekannt geworden sind, die das Ausbleiben des Betroffenen als genügend entschuldigt erscheinen lassen können, obliegt ihm eine Amtsaufklärungspflicht. Solche Entschuldigungsgründe hat das Gericht von Amts wegen nachzuprüfen. Hält das Gericht, wie vorliegend, ein ihm vorgelegtes ärztliches Attest für nicht ausreichend aussagekräftig, hat es nähere Angaben dazu durch Rückfrage bei dem behandelnden Arzt einzuholen.


Siehe auch
Säumnis des Betroffenen bzw. Angeklagten in der Hauptverhandlung wegen Krankheit
und
Verwerfung des Einspruchs im Bußgeldverfahren


Gründe:


I.

Das Amtsgericht hat den Einspruch des Betroffenen gegen den Bußgeldbescheid des Stadtamtes Bremen vom 09.11.1999 mit dem angefochtenen Prozessurteil vom 11.12.2000 verworfen, da der Betroffene trotz ordnungsgemäßer Ladung zur Hauptverhandlung nicht erschienen sei (§ 74 Abs. 2 OWiG). Der Betroffene war zu der zunächst auf den 04.12.2000 anberaumten Hauptverhandlung nicht erschienen, hatte jedoch durch seinen Verteidiger ein ärztliches Attest vom 03.12.2000 vorlegen lassen, wonach er "wegen einer akuten Erkrankung (nach Immunisierung) nicht in der Lage (sei), einen Termin am Amtsgericht wahrzunehmen". Das Gericht hat das Verfahren unterbrochen und Termin zur Fortsetzung auf den 11.12.2000 angesetzt, um von Amts wegen nachzuprüfen, ob ein krankheitsbedingter Entschuldigungsgrund zutreffe, und zu diesem Zweck den Betroffenen schriftlich aufgefordert, umgehend ärztlich detailliert mit Gründen zu belegen, warum er am 04.12.2000 aus gesundheitlichen Gründen am persönlichen Erscheinen verhindert gewesen sei. Mit Schriftsatz vom 11.12.2000, eingegangen per Fax am selben Tage um 14.27 Uhr, übersandte der Verteidiger daraufhin ein weiteres ärztliches Attest vom 08.12.2000, wonach der Betroffene "am 04.12.2000 nicht gerichtsladungsfähig aus gesundheitlichen Gründen" war. Dieser Schriftsatz wurde erst nach Beendigung des Fortsetzungstermins vorgelegt, der am 11.12.2000 von 14.30 Uhr bis 14.50 Uhr stattfand und mit dem o. a. Verwerfungsurteil endete. Mit Schriftsatz vom 12.12.2000 übersandte der Verteidiger ein neues Attest für den Betroffenen vom 11.12.2000, wonach dieser "erkrankt und z. Z. nicht verhandlungsfähig" sei.




Den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Hauptverhandlung hat das Amtsgericht mit Beschluss vom 25.02.2001 als unbegründet verworfen, die dagegen gerichtete sofortige Beschwerde des Betroffenen hat das Landgericht – Kammer für Bußgeldsachen – mit Beschluss vom 06.03.2001 als unbegründet zurückgewiesen.

Mit der Rechtsbeschwerde macht der Betroffene geltend, das Amtsgericht habe sein Fernbleiben in der Hauptverhandlung nicht als unentschuldigt ansehen dürfen.

II.

Die Rechtsbeschwerde des Betroffenen ist statthaft gemäß § 79 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 OWiG. Die Vorschrift findet auf Verwerfungsurteile nach § 74 Abs. 2 OWiG Anwendung (st. Rspr. d. Senats, vgl. Beschluss vom 04.04.2000 – Ss (B) 5/00 –; Göhler, OWiG, 12. Aufl., § 74 Rn. 48). Die form- und fristgerecht erhobene Rechtsbeschwerde (§ 79 Abs. 3, 4 OWiG i. V. m. §§ 341, 344, 345 StPO) führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Amtsgericht.

1. Zur Überprüfung der Frage, ob das Amtsgericht den Einspruch rechtsfehlerfrei verworfen hat, bedarf es gemäß § 79 Abs. 3 OWiG einer – unter Beachtung der in § 344 Abs. 2 S. 2 StPO normierten Darlegungspflicht – näher ausgeführten Verfahrensrüge (vgl. Göhler a.a.O. Rn. 48 b). Das Vorbringen der Beschwerdebegründung, der Betroffene sei nicht ohne Entschuldigung der mündlichen Verhandlung ferngeblieben, stellt eine Verfahrensrüge dar, die ordnungsgemäß erhoben und begründet ist. Bei dieser Rüge hängt der Umfang der Darlegungspflicht davon ab, ob der Verfahrensfehler sich aus dem Inhalt des angefochtenen Urteils ergibt. Wenn aus dem Verwerfungsurteil ersichtlich ist, dass der Betroffene Entschuldigungsgründe vorgebracht hat, reicht die Begründung, das Gericht habe das Ausbleiben des Betroffenen nicht als unentschuldigt ansehen dürfen, zur Erhebung einer ordnungsgemäßen Verfahrensrüge aus (st. Rspr. d. Senats, vgl. Beschluss vom 08.03.1991 – Ss (B) 15/91 – m.w.N.). Nach diesen Grundsätzen entspricht die vom Betroffenen erhobene Rüge den Anforderungen des § 79 Abs. 3 OWiG i. V. m. § 344 Abs. 2 S. 2 StPO.




2. Die Verfahrensrüge greift auch durch. Ausweislich der Urteilsgründe hat das Amtsgericht den Begriff der genügenden Entschuldigung verkannt. Für den Begriff der genügenden Entschuldigung i. S. des § 74 Abs. 2 S. 1 OWiG kommt es nicht darauf an, ob der Betroffene sich genügend entschuldigt oder ob er vorgebrachte Entschuldigungsgründe glaubhaft gemacht hat; maßgeblich ist allein, ob er genügend entschuldigt ist (vgl. Senat a.a.O. m.w.N.). Zur Glaubhaftmachung oder zum Nachweis der vorgebrachten Entschuldigungsgründe ist der Betroffene nicht verpflichtet, insoweit trifft ihn keine Mitwirkungspflicht (vgl. Senat a.a.O. m.w.N.; BayObLG StV 2001, 338, 339 m.w.N.).

Das hat das Amtsgericht vorliegend verkannt und den Betroffenen zu Unrecht aufgefordert, die attestierte gesundheitsbedingte Verhinderung über das eingereichte ärztliche Attest hinaus weiter zu belegen. Insoweit obliegt dem Gericht eine Amtsaufklärungspflicht (vgl. Senat a.a.O. m.w.N.), wenn dem Gericht Tatsachen bekannt geworden sind, die das Ausbleiben des Betroffenen als genügend entschuldigt erscheinen lassen können. Solche Entschuldigungsgründe hat das Gericht von Amts wegen nachzuprüfen. Hält das Gericht, wie vorliegend, ein ihm vorgelegtes ärztliches Attest für nicht ausreichend aussagekräftig, hat es nähere Angaben dazu durch Rückfrage bei dem behandelnden Arzt einzuholen. Aus der Vorlage des ärztlichen Attestes kann insoweit auf eine schlüssige Entbindung des Arztes von der beruflichen Schweigepflicht geschlossen werden (vgl. BayObLG a.a.O. m.w.N.).

3. Über die Verkennung des hohen Beweiswertes einer ordnungsgemäß ausgestellten ärztlichen Bescheinigung für eine Entschuldigung hinsichtlich des Fernbleibens des Betroffenen im Hauptverhandlungstermin am 04.12.2000 hinaus hat das Amtsgericht verkannt, dass aufgrund der attestierten akuten Erkrankung Anhaltspunkte auch für eine Entschuldigung des Betroffenen aus Krankheitsgründen für den Fortsetzungstermin am 11.12.2000 nach lagen. Ausweislich des vor Beginn der Fortsetzungsverhandlung bei Gericht per Telefax eingegangenen Schriftsatzes des Verteidigers vom 11.12.2000 war der Betroffene zu diesem Zeitpunkt erneut verhandlungsunfähig erkrankt. Es kann dahin stehen, ob das Gericht vor der Verwerfung in der Geschäftsstelle wegen eines Entschuldigungsschreibens hätte nachfragen müssen (vgl. KK-Russ, StPO, 4. Aufl., § 329 Rn. 8 m.w.N.). Auf jeden Fall lagen für das Gericht angesichts der Tatsache, dass der Betroffene den Hauptverhandlungstermin vom 04.12.2000 wegen einer ärztlich attestierten akuten Erkrankung nicht wahrgenommen hatte, ausreichende Anhaltspunkte dafür vor, weitere Nachforschungen anzustellen (a.a.O. m.w.N.; KK-Senge, OWiG, 2. Aufl., § 74 Rn. 35 m.w.N.). Unter den Gegebenheiten des vorliegenden Falles durfte das Amtsgericht ein Verwerfungsurteil nach § 74 Abs. 2 OWiG daher nicht erlassen. Die fehlende Kenntnis des Amtsrichters vom Inhalt dieses Schriftsatzes ist insoweit unerheblich (vgl. KK-Senge a.a.O.; Göhler OWiG a.a.O. Rn. 31).



III.

Das Amtsgericht hat den Einspruch des Betroffenen rechtsfehlerhaft verworfen, da es seiner Amtsaufklärungs- und Fürsorgepflicht nicht nachgekommen ist und offensichtlich den Begriff der genügenden Entschuldigung und den hohen Beweiswert einer ordnungsgemäß ausgestellten ärztlichen Bescheinigung verkannt hat. Das angefochtene Urteil kann auf diesen Verfahrensfehlern beruhen. Es war daher mit den zugrunde liegenden Feststellungen aufzuheben (§ 79 Abs. 3 OWiG i. V. m. § 353). Der Regel des § 354 Abs. 2 StPO folgend hat der Senat die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an einen anderen Richter des Amtsgerichts Bremen zurückverwiesen (§ 79 Abs. 6 OWiG).

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