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Landgericht Ravensburg Beschluss vom 12.02.2021 - 2 O 393/20 - Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH zur Auslegung der Rahmenrichtlinie für die Zulassung von Kraftfahrzeugen und der Typengenehmigungsverordnung zum Schadensersatz wegen des Erwerbs eines vom sog. Dieselskandal betroffenen Kraftfahrzeugs

LG Ravensburg v. 12.02.2021: Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH zur Auslegung der Rahmenrichtlinie für die Zulassung von Kraftfahrzeugen und der Typengenehmigungsverordnung zum Schadensersatz wegen des Erwerbs eines vom sog. Dieselskandal betroffenen Kraftfahrzeugs




Das Landgericht Ravensburg (Beschluss vom 12.02.2021 - 2 O 393/20) hat entschieden:

   Verfahrensaussetzung mit umfangreichen Fragen an den EuGH im Vorabentschieidungsverfahren - die Fragen werden im Beschlusstenor wiedergegeben

Siehe auch
Rechtsprechung zum Themenkomplex „Schummelsoftware“ - Diesel-Abgasskandal
und
Stichwörter zum Thema Autokaufrecht


Tenor:


I.

Das Verfahren wird ausgesetzt.

II.

Dem Gerichtshof der Europäischen Union werden folgende Fragen gemäß Art. 267 Absatz 1 lit. a), Absatz 2 AEUV zur Auslegung des Unionsrechts vorgelegt:

  1.  Haben die Art. 18 Abs. 1, Art. 26 Abs. 1, Art. 46 der RL 2007/46/EG in Verbindung mit Art. 5 Abs. 2 VO (EG) Nr. 715/2007 auch die Zielrichtung, die Interessen individueller Erwerber von Kraftfahrzeugen zu schützen?

wenn ja:
  2.  Zählt dazu auch das Interesse eines individuellen Fahrzeugerwerbers, kein Fahrzeug zu erwerben, das mit den unionsrechtlichen Vorgaben nicht konform ist, insbesondere kein Fahrzeug zu erwerben, das mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung gem. Art. 5 Abs. 2 VO (EG) Nr. 715/2007 ausgestattet ist?

Wenn die Vorlagefrage 1. verneint wird:

  3.  Ist es unvereinbar mit Unionsrecht, wenn ein Erwerber, der ungewollt ein vom Hersteller mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung gem. Art. 5 Abs. 2 VO (EG) Nr. 715/2007 in Verkehr gebrachtes Fahrzeug gekauft hat, zivilrechtliche deliktische Ansprüche gegenüber dem Fahrzeughersteller auf Ersatz seines Schadens, insbesondere auch einen Anspruch auf Erstattung des für das Fahrzeug bezahlten Kaufpreises Zug-um-Zug gegen Herausgabe und Übereignung des Fahrzeugs, nur ausnahmsweise dann geltend machen kann, wenn der Fahrzeughersteller vorsätzlich und sittenwidrig gehandelt hat?

Wenn ja:

  4.  Ist es unionsrechtlich geboten, dass ein zivilrechtlicher deliktischer Ersatzanspruch des Fahrzeugerwerbers gegen den Fahrzeughersteller bei jeglichem schuldhaften (fahrlässigen oder vorsätzlichen) Handeln des Fahrzeugherstellers in Bezug auf das Inverkehrbringen eines Fahrzeugs, das mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung gem. Art. 5 Abs. 2 VO (EG) Nr. 715/2007 ausgestattet ist, gegeben ist?

Unabhängig von der Beantwortung der Vorlagefragen 1. bis 4.:

  5.  Ist es unvereinbar mit Unionsrecht, wenn sich im nationalen Recht der Fahrzeugerwerber einen Nutzungsvorteil für die tatsächliche Nutzung des Fahrzeugs anrechnen lassen muss, wenn er vom Hersteller im Wege des deliktischen Schadenersatzes die Erstattung des Kaufpreises eines mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung gem. Art. 5 Abs. 2 VO (EG) Nr. 715/2007 in Verkehr gebrachten Fahrzeugs Zug-um-Zug gegen Übergabe und Übereignung des Fahrzeugs verlangt?

Wenn nein:
  6.  Ist es unvereinbar mit Unionsrecht, wenn dieser Nutzungsvorteil sich am vollen Kaufpreis bemisst, ohne dass ein Abzug wegen dem aus der Ausstattung mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung resultierenden Minderwert des Fahrzeugs und/oder im Hinblick auf die vom Erwerber ungewollte Nutzung eines nicht unionsrechtskonformen Fahrzeugs abgezogen wird?

Unabhängig von der Beantwortung der Vorlagefragen 1. bis 6.:
  7.  Ist § 348 Absatz 3 ZPO, soweit diese Regelung sich auch auf den Erlass von Vorlagebeschlüssen gem. Art. 267 Absatz 2 AEUV bezieht, unvereinbar mit der Vorlagebefugnis der nationalen Gerichte gem. Art. 267 Absatz 2 AEUV, und daher auf den Erlass von Vorlagebeschlüssen nicht anzuwenden?




Gründe:


A.

Der Kläger kaufte von der Auto K. GmbH in W. am 20.03.2014 einen gebrauchten Mercedes Benz Typ C 220 CDI zum Preis von 29.999,-​- € bei einem Kilometerstand 28.591 km. Das von der Beklagten in Verkehr gebrachte am 15.03.2013 erstmals zugelassene Fahrzeug hat einen Dieselmotor der Schadstoffklasse Euro 5 mit der Motorbezeichnung OM 651.

Bei dem Fahrzeug wird die Abgasrückführung unstreitig bei kühleren Außentemperaturen reduziert (sogenanntes Thermofenster), was zu einem höheren Ausstoß an NOx (Stickstoffoxid) führt. Ab welcher konkreten Außentemperatur eine Reduktion der Abgasrückführung in welchem Umfang erfolgt, ist zwischen den Parteien streitig.

Der Kläger behauptet, die Motorsteuerungssoftware des Fahrzeugs enthalte außer dem Thermofenster weitere gem. Art. 5 Abs. 2 (EG) VO Nr. 715/2007 unzulässige Abschalteinrichtungen, die die Wirkung der Emissionskontrollsysteme im realen Straßenbetrieb verringerten. Er meint, die Beklagte habe ihn insoweit vorsätzlich und sittenwidrig getäuscht und sei zum Schadenersatz verpflichtet.

Der Kläger ist zwar der Ansicht er schulde angesichts des vorsätzlich schädigenden Verhaltens der Beklagten keinen Nutzungsersatz, lässt sich jedoch vorsorglich eine in das Ermessen des Gerichts gestellte Nutzungsentschädigung für die von ihm gefahrenen Kilometer anrechnen. Er meint aber, dass sich diese Entschädigung an einem Anteil von allenfalls 75 % des Kaufpreises orientieren müsse, da der Kaufpreis angesichts der fehlerhaften Abgassteuerung um bis zu 30 % überhöht gewesen sei, außerdem sei der Präventionszweck des Deliktsrechts zur Geltung zu bringen.

Der Kläger beantragt in der Hauptsache die Verurteilung der Beklagten zur Zahlung eines Betrages von 29.999,-​- € unter Anrechnung einer Nutzungsentschädigung für die Nutzung des Fahrzeugs, die sich aus folgender Formel ergibt: 75 % x Kaufpreis x (Kilometerstand im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung abzüglich Kilometerstand bei Kauf) : (in das Ermessen des Gerichts gestellte Gesamtlaufleistung abzüglich Kilometerstand bei Kauf), zu verurteilen, Zug um Zug gegen Herausgabe und Übereignung des Fahrzeugs.

Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen, da sie in mehrfacher Hinsicht unbegründet sei.

Die Beklagte interpretiert das Urteil des EuGH vom 17.12.2020 - C-​693/18 – dahingehend, eine Abschalteinrichtung sei nur eine Einrichtung, durch die der Prüfstand erkannt und der Stickoxidausstoß manipulativ lediglich für die Zwecke des EG-​Typgenehmigungsverfahrens gezielt reduziert werde. Die Beklagte behauptet hierzu, im Fahrzeug befinde sich keine solche Funktion.

Die Beklagte bestreitet nicht, dass schon ab einer Temperatur, die oberhalb von 0 °C liegt, die Abgasrückführung reduziert wird. Finde die Rückführung nämlich bei zu niedrigen Temperaturen statt, komme es zur Kondensation von Abgasbestandteilen. Dies wiederum führe zu verschiedenen unerwünschten Ablagerungen in den Bauteilen. Ein wiederholter Betrieb des Motors in diesem Zustand könne zu einer dauerhaften Schädigung des Motors führen. Daher könne es zum Schutz des Motors erforderlich sein, die Abgasrückführung abhängig von der Temperatur zu reduzieren Dabei handle es sich um einen seit jeher herstellerübergreifend verwendeten Industriestandard, der physikalisch-​technische Gegebenheiten von Verbrennungsmotoren berücksichtige.

Die Beklagte hält ihr Verhalten, selbst wenn eine Abschalteinrichtung vorliegen sollte, nicht für sittenwidrig. Die Beklagte führt hierzu an, sie habe das Emissionskontrollsystem des streitgegenständlichen Fahrzeugs nach den Grundsätzen ingenieurmäßiger Vorsicht entwickelt und dabei im Hinblick auf die EU-​Emissionsgesetzgebung ein zutreffendes, zumindest aber vertretbares Normverständnis zugrunde gelegt.

Hilfsweise behauptet die Beklagte, es fehle an einem Schaden des Klägers, da das streitgegenständliche Fahrzeug über eine wirksame EG-​Typgenehmigung verfüge, uneingeschränkt genutzt werden könne und auch keinen Minderwert aufweise. Außerdem sei für das streitgegenständliche Fahrzeug – im Rahmen einer freiwilligen Servicemaßnahme der Beklagten – ein Software-​Update entwickelt und freigegeben worden.

Der vom Kläger befürworteten reduzierten Anrechnung der Nutzungsvorteile tritt die Beklagte entgegen. Sie hält den vollen Kaufpreis für die zutreffende Ausgangsbasis.





B.

Die für die Entscheidung des Rechtsstreits maßgebenden Bestimmungen des deutschen Rechts lauten:

Grundgesetz

Art. 101

   (1) 1Ausnahmegerichte sind unzulässig. 2Niemand darf seinem gesetzlichen Richter entzogen werden.

(2) Gerichte für besondere Sachgebiete können nur durch Gesetz errichtet werden.

Bürgerliches Gesetzbuch (BGB)

§ 823 Schadensersatzpflicht

   (1) Wer vorsätzlich oder fahrlässig das Leben, den Körper, die Gesundheit, die Freiheit, das Eigentum oder ein sonstiges Recht eines anderen widerrechtlich verletzt, ist dem anderen zum Ersatz des daraus entstehenden Schadens verpflichtet.

(2) 1Die gleiche Verpflichtung trifft denjenigen, welcher gegen ein den Schutz eines anderen bezweckendes Gesetz verstößt. 2Ist nach dem Inhalt des Gesetzes ein Verstoß gegen dieses auch ohne Verschulden möglich, so tritt die Ersatzpflicht nur im Falle des Verschuldens ein.

§ 826 Sittenwidrige vorsätzliche Schädigung

   Wer in einer gegen die guten Sitten verstoßenden Weise einem anderen vorsätzlich Schaden zufügt, ist dem anderen zum Ersatz des Schadens verpflichtet.

Verordnung über die EG-​Genehmigung für Kraftfahrzeuge und ihre Anhänger

§ 6 Übereinstimmungsbescheinigung und Kennzeichnung

   (1) 1Für jedes dem genehmigten Typ entsprechende Fahrzeug hat der Inhaber der EG-​Typgenehmigung eine Übereinstimmungsbescheinigung nach Artikel 18 in Verbindung mit Anhang IX der Richtlinie 2007/46/EG auszustellen und dem Fahrzeug beizufügen. 2Die Übereinstimmungsbescheinigung muss nach Artikel 18 Absatz 3 der Richtlinie 2007/46/EG fälschungssicher sein.

(2) Der Inhaber einer EG-​Typgenehmigung für ein Bauteil oder eine selbstständige technische Einheit hat alle in Übereinstimmung mit dem genehmigten Typ hergestellten Bauteile oder selbstständigen technischen Einheiten nach Artikel 19 der Richtlinie 2007/46/EG zu kennzeichnen und, soweit die EG-​Typgenehmigung Verwendungsbeschränkungen oder besondere Einbauvorschriften nach Artikel 10 Absatz 4 der Richtlinie 2007/46/EG enthält, jedem Bauteil oder jeder selbstständigen technischen Einheit ausführliche Angaben über die Beschränkungen mitzuliefern und etwa erforderliche Vorschriften über den Einbau beizufügen.

§ 27 Zulassung und Veräußerung

   (1) 1Neue Fahrzeuge, selbstständige technische Einheiten oder Bauteile, für die eine Übereinstimmungsbescheinigung nach Anhang IX der Richtlinie 2007/46/EG, nach Anhang IV der Richtlinie 2002/24/EG oder nach Anhang III der Richtlinie 2003/37/EG vorgeschrieben ist, dürfen im Inland zur Verwendung im Straßenverkehr nur feilgeboten, veräußert oder in den Verkehr gebracht werden, wenn sie mit einer gültigen Übereinstimmungsbescheinigung versehen sind. 2Dies gilt nicht für Fahrzeuge im Sinne des Artikels 8 der Richtlinie 2003/37/EG.

(2) 1Selbstständige technische Einheiten oder Bauteile, die nach Artikel 19 der Richtlinie 2007/46/EG gekennzeichnet werden müssen, dürfen zur Verwendung im Straßenverkehr nur feilgeboten, veräußert oder in den Verkehr gebracht werden, wenn sie den Anforderungen der in Anhang IV in Verbindung mit Artikel 3 Nummer 1 der Richtlinie 2007/46/EG genannten Rechtsakte genügen und entsprechend gekennzeichnet sind. 2Selbstständige technische Einheiten oder Bauteile, die nach Artikel 7 Absatz 4 der Richtlinie 2002/24/EG gekennzeichnet werden müssen, dürfen zur Verwendung im Straßenverkehr nur feilgeboten, veräußert oder in den Verkehr gebracht werden, wenn sie den Anforderungen der in Anhang I der Richtlinie 2002/24/EG genannten Einzelrichtlinien genügen und entsprechend gekennzeichnet sind. 3Sofern für selbstständige technische Einheiten oder Bauteile, die in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2002/24/EG fallen, die jeweilige Einzelrichtlinie oder Einzelverordnung auch die Anbringung eines Typgenehmigungszeichens vorschreibt, ist die Übereinstimmungsbescheinigung nach Absatz 1 entbehrlich. 4Selbstständige technische Einheiten oder Bauteile, die nach Artikel 6 Absatz 3 der Richtlinie 2003/37/EG entsprechend gekennzeichnet werden müssen, dürfen zur Verwendung im Straßenverkehr nur feilgeboten, veräußert oder in den Verkehr gebracht werden, wenn sie den Anforderungen der in Anhang II der Richtlinie 2003/37/EG genannten Einzelrichtlinien genügen und entsprechend gekennzeichnet sind.

(3) 1Neue Fahrzeuge, für die eine nationale Kleinserien-​Typgenehmigung nach Artikel 23 der Richtlinie 2007/46/EG erteilt wurde, dürfen im Inland zur Verwendung im Straßenverkehr nur feilgeboten, veräußert oder in den Verkehr gebracht werden, wenn sie mit einem gültigen Typgenehmigungsbogen nach Artikel 23 Absatz 5, 6 und 7 der Richtlinie 2007/46/EG oder einer Datenbestätigung nach § 12 versehen sind. 2§ 12 Absatz 1 Satz 2 findet Anwendung.

(4) Neue Fahrzeuge, für die eine Einzelgenehmigung nach Artikel 24 der Richtlinie 2007/46/EG erteilt wurde, dürfen im Inland zur Verwendung im Straßenverkehr nur feilgeboten, veräußert oder in den Verkehr gebracht werden, wenn sie mit einem gültigen Einzelgenehmigungsbogen nach Artikel 24 Absatz 5 der Richtlinie 2007/46/EG versehen sind.

(5) Teile oder Ausrüstungen nach Anhang XIII der Richtlinie 2007/46/EG dürfen zur Verwendung im Straßenverkehr nur feilgeboten, veräußert, in den Verkehr gebracht oder in Betrieb genommen werden, wenn für diese eine Autorisierung nach Artikel 31 der Richtlinie 2007/46/EG erteilt wurde und durch eine Bescheinigung nachgewiesen wird.

§ 348 ZPO Originärer Einzelrichter

   (1) 1Die Zivilkammer entscheidet durch eines ihrer Mitglieder als Einzelrichter. 2Dies gilt nicht, wenn 1. das Mitglied Richter auf Probe ist und noch nicht über einen Zeitraum von einem Jahr geschäftsverteilungsplanmäßig Rechtsprechungsaufgaben in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten wahrzunehmen hatte oder

a) Streitigkeiten über Ansprüche aus Veröffentlichungen durch Druckerzeugnisse, Bild- und Tonträger jeder Art, insbesondere in Presse, Rundfunk, Film und Fernsehen;

(2) Bei Zweifeln über das Vorliegen der Voraussetzungen des Absatzes 1 entscheidet die Kammer durch unanfechtbaren Beschluss.

(3) 1Der Einzelrichter legt den Rechtsstreit der Zivilkammer zur Entscheidung über eine Übernahme vor, wenn

1. die Sache besondere Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist,

2Die Kammer übernimmt den Rechtsstreit, wenn die Voraussetzungen nach Satz 1 Nr. 1 oder 2 vorliegen. 3Sie entscheidet hierüber durch Beschluss. 4Eine Zurückübertragung auf den Einzelrichter ist ausgeschlossen.

(4) Auf eine erfolgte oder unterlassene Vorlage oder Übernahme kann ein Rechtsmittel nicht gestützt werden.

§ 348a ZPO Obligatorischer Einzelrichter

   (1) Ist eine originäre Einzelrichterzuständigkeit nach § 348 Absatz 1 nicht begründet, überträgt die Zivilkammer die Sache durch Beschluss einem ihrer Mitglieder als Einzelrichter zur Entscheidung, wenn

1. die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist,

(2) 1Der Einzelrichter legt den Rechtsstreit der Zivilkammer zur Entscheidung über eine Übernahme vor, wenn

1. sich aus einer wesentlichen Änderung der Prozesslage besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten der Sache oder die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache ergeben oder

2Die Kammer übernimmt den Rechtsstreit, wenn die Voraussetzungen nach Satz 1 Nr. 1 vorliegen. 3Sie entscheidet hierüber nach Anhörung der Parteien durch Beschluss. 4Eine erneute Übertragung auf den Einzelrichter ist ausgeschlossen.

(3) Auf eine erfolgte oder unterlassene Übertragung, Vorlage oder Übernahme kann ein Rechtsmittel nicht gestützt werden.




C.

Der Erfolg oder Misserfolg der Klage ist abhängig von der Beantwortung der im Beschlusstenor unter II. 1. bis II. 7. aufgeworfenen Vorlagefragen.

1. Ein deliktischer Schadenersatzanspruch des Klägers gegen die Beklagte kann sich aus § 826 BGB ergeben, wenn das Fahrzeug eine Abschalteinrichtung gem. Art. 5 Abs. 2, Art. 3 Nr. 10 VO (EG) Nr. 715/2007 aufweist und die Beklagte insoweit sittenwidrig gehandelt hat.

a) Das Thermofenster des streitgegenständlichen Motors ist nach vorläufiger Würdigung des Gerichts eine unzulässige Abschalteinrichtung im Sinne der Art. 5 Abs. 2 S. 2 lit. a) in Verbindung mit Art. 3 Nr. 10 VO (EG) Nr. 715/2007. Wenn die Wirksamkeit des Emissionskontrollsystems schon bei über 0 °C liegenden Außentemperaturen verringert wird, so liegt dies innerhalb des Bereichs der bei normalem Fahrzeugbetrieb zu erwartenden Bedingungen.

Unerheblich ist, dass das Thermofenster keine Prüfstandserkennung beinhaltet, da dies weder nach Art. 5 Abs. 2, Art. 3 Nr. 10 VO (EG) Nr. 715/2007, noch nach dem Urteil des EuGH vom 17.12.2020 (- C-​693/18 –) vorausgesetzt wird. Zwar war Gegenstand des Urteils des EuGH eine Software, die anhand von Parametern erkennt, dass Prüfstandsbedingungen vorliegen, und die in diesem Fall die Abgasrückführung erhöht und damit die Emissionen reduziert (Rn. 93 des Urteils). Richtig ist auch, dass der EuGH eine solche Software als unzulässige Abschalteinrichtung qualifiziert. Der EuGH hat jedoch nicht entschieden, dass nur bei einer solchen Prüfstandserkennung eine Abschalteinrichtung vorliegt. Soweit die Beklagte dies aus Rn. 91 des Urteils entnehmen will, kann dies nicht nachvollzogen werden. In Rn. 91 wird die dritte Vorlagefrage des vorlegenden Gerichts an den EuGH wiedergegeben und nicht die Antwort des EuGH auf diese Frage. Außerdem wird mit der in Rn. 91 wiedergegebenen Vorlagefrage danach gefragt, ob eine solche Einrichtung eine Abschalteinrichtung darstellt, und nicht danach, ob nur eine solche Einrichtung als Abschalteinrichtung zu qualifizieren ist. Auf Seite 12 der Klagerwiderung (Bl. 136 der Akten) wird Rn. 91 des Urteils verkürzt wiedergegeben und ein anderer Sinn unterstellt.

Das Thermofenster ist nach vorläufiger Würdigung des Gerichts auch nicht ausnahmsweise nach Art. 5 Abs. 2 S. 2 lit. a) VO (EG) Nr. 715/2007 zulässig. Der EuGH legt diese Ausnahmevorschrift dahingehend aus, dass nur unmittelbare Beschädigungsrisiken, die zu einer konkreten Gefahr während der Fahrt mit dem Fahrzeug führen, geeignet sind, die Nutzung einer Abschalteinrichtung zu rechtfertigen (a.a.O., Rn. 109 ff.). Im vorliegenden Fall dient das Thermofenster nach Angaben der Beklagten der Verhinderung von Ablagerungen (Bl. 141f. und Bl. 235 der Akten), soll also Verschleiß verhindern. Es nicht ersichtlich, dass es die vom EuGH genannten strengen Anforderungen an eine zulässige Abschalteinrichtung erfüllt.

b) Eine Sittenwidrigkeit des Verhaltens der Beklagten wird allerdings im Ergebnis zu verneinen sein. Voraussetzung dafür ist nach herrschender Ansicht eine besondere Verwerflichkeit, wobei Gesinnung, Ziel, Mittel und Folgen umfassend zu würdigen sind (Palandt/Sprau, BGB, 80. Aufl. 2021, § 826 Rn. 4). Es wird nicht auszuschließen sein, dass die Beklagte zum Zeitpunkt des Inverkehrbringens des streitgegenständlichen Fahrzeugs im Jahr 2013 bei ihrer Interpretation des Art. 5 Abs. 2 S. 2 lit. a) VO (EG) Nr. 715/2007 nicht bewusst auf Schädigung potentieller Erwerber abzielte.

2. Weiterhin kann sich ein Anspruch des Klägers aus § 823 Abs. 2 BGB ergeben. Sittenwidrigkeit wird dabei nicht vorausgesetzt, es genügt einfache Fahrlässigkeit.

Problematisch ist allerdings, ob die durch §§ 6 Abs. 1, 27 Abs. 1 EG-​FGV in deutsches Recht transformierten Art. 18 Abs. 1, Art. 26 Abs. 1 RL 2007/46/EG und/oder Art. 5 Abs. 2 VO (EG) Nr. 715/2007 als Schutzgesetz einzustufen sind. Außerdem fragt sich, ob es der Effektivitätsgrundsatz gebietet, dass ein Verstoß gegen die obenstehenden unionsrechtlichen Normen zu einem zivilrechtlichen deliktischen Schadenersatzanspruch des Erwerbers gegen den Hersteller führt.

Der VI. Zivilsenat des BGH lehnt beides ab (Urteil vom 25.05.2020 – VI ZR 252/19 - juris Rn. 72 ff. und Urteil vom 30.07.2020 – VI ZR 5/20 - juris Rn. 14 f.), gute Gründe sprechen aber auch dafür, dass die Fragen zu bejahen sein könnten. Die Haftung der Beklagten dem Grunde nach ist somit abhängig von der Beantwortung der Vorlagefragen II. 1. bis 4.

3. Falls dem Grunde nach eine Haftung der Beklagten bestehen sollte, stellt sich die Frage, ob und in welchem Umfang vom Kläger erlangte Nutzungsvorteile auf den Schadenersatzanspruch anzurechnen sind. Hierzu gibt es in der nationalen Rechtsprechung und Literatur konträre Ansichten über die Fragen, ob aus unionsrechtlicher Sicht eine Anrechnung der Nutzungsvorteile überhaupt statthaft ist, und gegebenenfalls, welche Grundsätze für die Höhe der Anrechnung gelten.

Der Kläger ist bis zur mündlichen Verhandlung am 12.02.2021 bereits über 60.000 km mit dem Fahrzeug gefahren. Bejahte man die Vorlagefrage II. 5., wäre kein Nutzungsvorteil anzurechnen. Bejahte man die Vorlagefrage II. 6., müsste ein Minderwert des Fahrzeugs ermittelt oder geschätzt werden und der anzurechnende Nutzungsvorteil für die gefahrenen Kilometer hätte sich hieran zu orientieren.



D.

Zu den Vorlagefragen im Einzelnen:

I. Zu den Vorlagefragen II. 1. bis II. 4.

1. Die Haftung aus § 823 Abs. 2 BGB setzt den Verstoß gegen ein den Schutz eines anderen bezweckendes Gesetz voraus. Eine Rechtsnorm ist nach herrschender Ansicht (BGH, Urteil vom 23. Juli 2019 - VI ZR 307/18 - juris Rn. 12 ff. mit weiteren Nachweisen; BGH, Urteil vom 27. Februar 2020 - VII ZR 151/18 - juris Rn. 34 ff.; Palandt/Sprau, BGB, 80. Aufl. 2021, § 823 Rn. 58 f.) dann ein Schutzgesetz im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB, wenn sie zumindest auch dazu dienen soll, den Einzelnen oder einzelne Personenkreise gegen die Verletzung eines bestimmten Rechtsguts zu schützen. Dafür kommt es nicht auf die Wirkung, sondern auf Inhalt und Zweck des Gesetzes sowie darauf an, ob der Gesetzgeber bei Erlass des Gesetzes gerade einen Rechtsschutz, wie er wegen der behaupteten Verletzung in Anspruch genommen wird, zu Gunsten von Einzelpersonen oder bestimmten Personenkreisen gewollt oder doch mitgewollt hat. Es genügt, dass die Norm auch das Interesse des Einzelnen schützen soll, mag sie auch in erster Linie dasjenige der Allgemeinheit im Auge haben. Nicht ausreichend ist aber, dass der Individualschutz durch Befolgung der Norm nur als ihr Reflex objektiv erreicht wird; er muss vielmehr im Aufgabenbereich der Norm liegen. Außerdem muss die Schaffung eines individuellen Schadensersatzanspruchs sinnvoll und im Lichte des haftungsrechtlichen Gesamtsystems tragbar erscheinen, wobei in umfassender Würdigung des gesamten Regelungszusammenhangs, in den die Norm gestellt ist, zu prüfen ist, ob es in der Tendenz des Gesetzgebers liegen konnte, an die Verletzung des geschützten Interesses die deliktische Einstandspflicht des dagegen Verstoßenden mit allen damit zugunsten des Geschädigten gegebenen Haftungs- und Beweiserleichterungen zu knüpfen.

Ein Schadensersatzanspruch aus § 823 Abs. 2 BGB setzt schließlich weiter voraus, dass sich im konkreten Schaden die Gefahr verwirklicht hat, vor der die betreffende Norm schützen sollte. Der eingetretene Schaden muss also in den sachlichen Schutzbereich der Norm fallen.

Weiter muss der konkret Geschädigte vom persönlichen Schutzbereich der verletzten Norm erfasst sein und zu dem Personenkreis gehören, dessen Schutz die verletzte Norm bezweckt.

2. Im vorliegenden Zusammenhang stellt sich daher die Frage, ob Art. 18 Abs. 1, Art. 26 Abs. 1 der RL 2007/46/EG sowie Art. 5 Abs. 2 VO (EG) Nr. 715/2007 außer dem Schutz allgemeiner Interessen auch den einzelnen Erwerber davor schützen sollen, ein nicht unionsrechtskonformes Kraftfahrzeug zu erwerben, insbesondere ein solches mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung gem. Art. 5 Abs. 2 VO (EG) Nr. 715/2007.

Selbst wenn man zum Ergebnis käme, dass die genannten unionsrechtlichen Vorschriften nur allgemeine Rechtsgüter schützen, und keine Erwerberinteressen, könnte es nach dem Effektivitätsgrundsatz geboten sein, jedes schuldhafte (fahrlässige oder vorsätzliche) Handeln von Fahrzeugherstellern in Bezug auf das Vorliegen einer Abschalteinrichtung dadurch zu sanktionieren, dass der Erwerber einen deliktischen Schadenersatzanspruch gegen den Hersteller geltend machen kann.

In der nationalen Rechtsprechung und Literatur gibt es zu diesem Fragenkomplex unterschiedliche Auffassungen: a) Der BGH lässt in seinem Grundsatzurteil vom 25.05.2020 (– VI ZR 252/19 - juris Rn. 72 ff.) offen, ob §§ 6 Abs. 1, 27 Abs. 1 EG-​FGV in Verbindung mit Art. 18 RL 2007/46/EG nach Zweck und Inhalt auch dazu dienen sollen, das Interesse des Käufers eines Neuwagens an der (zügigen) Erstzulassung oder dasjenige des Käufers eines Gebrauchtwagens an dem Fortbestand der Betriebserlaubnis schützen, nimmt aber an, dass das Interesse, nicht zur Eingehung einer ungewollten Verbindlichkeit veranlasst zu werden, weder im Aufgabenbereich der RL 2007/46/EG noch des Art. 5 VO (EG) 715/2007 liege. Der BGH ist der Ansicht, dass die zur vollständigen Harmonisierung der technischen Anforderungen für Fahrzeuge erlassenen Rechtsakte der Europäischen Union vor allem auf eine hohe Verkehrssicherheit, hohen Gesundheits- und Umweltschutz, rationelle Energienutzung und wirksamen Schutz vor unbefugter Benutzung zielen, und stützt dies auf, die Erwägungsgründe 2, 3, 14, 17 und 23 der RL 2007/46/EG.

Weiter ist der BGH der Ansicht, dass das Interesse, nicht zur Eingehung einer ungewollten Verbindlichkeit veranlasst zu werden, offensichtlich auch nicht im Aufgabenbereich des Art. 5 VO (EG) 715/2007 liege, da die Verordnung der Vollendung des Binnenmarktes durch Einführung gemeinsamer technischer Vorschriften zur Begrenzung der Emissionen von Kraftfahrzeugen (Erwägungsgründe 1, 27), dem Umweltschutz, insbesondere der Verbesserung der Luftqualität (Erwägungsgründe 1, 4 bis 7), der Senkung der Gesundheitskosten und dem Gewinn zusätzlicher Lebensjahre (Erwägungsgrund 7) diene. Es fehle an jeglichen Anhaltspunkten dafür, dass die Verordnung, insbesondere ihr Art. 5, dem Schutz des wirtschaftlichen Selbstbestimmungsrechts des einzelnen Fahrzeugerwerbers dienen könnte.

Anderes ergibt sich nach Ansicht des BGH (Urteil vom 30.07.2020 – VI ZR 5/20 - juris Rn. 14 f.) auch nicht aus dem Gebot einer möglichst wirksamen Anwendung des Gemeinschaftsrechts (effet utile) und den Urteilen des EuGH vom 17.09.2002 (- C-​253/00 - Antonio Muñoz y Cia SA und Superior Fruiticola SA gegen Frumar Ltd und Redbridge Produce Marketing Ltd.) und vom 25.07.2008 (- C-​237/07 - Dieter Janecek gegen Freistaat Bayern). Der BGH meint, in beiden Fällen sei es um die Durchsetzung der Beachtung von gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen gegangen, die mit dem Wettbewerbsschutz bzw. dem Gesundheitsschutz zumindest auch die Interessen der jeweiligen Kläger (Konkurrent; von Grenzwertüberschreitungen unmittelbar Betroffener) im Blick hatten, das sei aber bei den hier maßgeblichen unionsrechtlichen Vorschriften nicht der Fall.

Der BGH hält die unionsrechtliche Rechtslage im Hinblick auf § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-​FGV für von vornherein eindeutig (acte clair) und bezieht sich zur Begründung auf das Urteil des Gerichtshofs vom 6. Oktober 1982 - Rs 283/81.

b) Nach anderer Auffassung haben Art. 18 Abs. 1, Art. 26 Abs. 1, Art. 46 RL 2007/46/EG und Art. 5 Abs. 2 VO (EG) Nr. 715/2007 auch individualschützenden Charakter (LG Augsburg, Urteil vom 29.01.2018, - 82 O 4497/17 -, juris Rn. 124 ff.; LG Ingolstadt, Urteil vom 15.05.2018 – 43 O 1267/17 – BeckRS 2018, 33798 Rn. 31 ff.; Harke, VuR 2017, 83).

Zur Begründung wird einerseits angeführt, dass es zu den Zielen der Übereinstimmungsbescheinigung laut Anhang IX der RL 2007/46/EG gehöre, dass der Fahrzeughersteller dem Fahrzeugkäufer mit dieser Bescheinigung versichert, dass das von ihm erworbene Fahrzeug zum Zeitpunkt seiner Herstellung mit den in der Europäischen Union geltenden Rechtsvorschriften übereinstimmt. Daraus wird abgeleitet, dass auch der individuelle Käufer, dem gegenüber diese Versicherung abzugeben ist, geschützt werden soll.

Zudem heißt es in den Erwägungsgründen der VO (EG) Nr. 385/2009 vom 07.05.2009 zur Ersetzung des Anhangs IX der Richtlinie 2007/46/EG:

   (1) Die Richtlinie 2007/46/EG schafft einen harmonisierten Rahmen für die Verwaltungsvorschriften und allgemeinen technischen Anforderungen für alle Neufahrzeuge. Dazu gehört insbesondere die Verpflichtung des Herstellers in seiner Eigenschaft als Inhaber einer EG-​Typgenehmigung, jedem Fahrzeug, das gemäß den Gemeinschaftsvorschriften für die Typgenehmigung hergestellt wird, eine Übereinstimmungsbescheinigung beizufügen.

(2) Die Übereinstimmungsbescheinigung (...) stellt eine dem Käufer des Fahrzeugs ausgehändigte offizielle Erklärung dar, dass ein bestimmtes Fahrzeug gemäß den Anforderungen der Gemeinschaftsvorschriften für die Typgenehmigung gebaut worden ist.

(3) Es ist sicherzustellen, dass die Angaben auf der Übereinstimmungsbescheinigung für die beteiligten Verbraucher und Wirtschaftsteilnehmer verständlich sind. Das Muster der Übereinstimmungsbescheinigung sollte alle technischen Angaben enthalten, die die Behörden der Mitgliedstaaten brauchen, um die Inbetriebnahme von Fahrzeugen zu ermöglichen.

(4) (...)

(5) (...) Die technischen Daten in der Übereinstimmungsbescheinigung eignen sich als Information für die Zulassung. Um die Verwaltungslasten für die europäischen Bürger (...) zu verringern, sollte die Übereinstimmungsbescheinigung auch alle gemäß der Richtlinie 1999/37/EG erforderlichen Informationen enthalten.

Das LG Augsburg (a.a.O. Rn. 130) schließt aus diesen Erwägungsgründen, dass die Übereinstimmungsbescheinigung nicht primär die Umwelt oder andere allgemeine Ziele schütze, da dies im EG-​Typgenehmigungsverfahren selbst Gegenstand der Prüfung sei. Vielmehr solle das behördliche Zulassungsverfahren und damit hoheitliches Handeln erleichtert werden, vor allem solle der freie Warenverkehr im europäischen Binnenmarkt ermöglicht werden, indem Käufer von Fahrzeugen, die in Mitgliedstaaten der Europäischen Union hergestellt bzw. gekauft wurden, sich darauf verlassen können, dass das erworbene Fahrzeug aufgrund des einheitlichen Prüfverfahrens in jedem Mitgliedstaat zugelassen werden wird.

Darüber hinaus dürfte insbesondere aus obenstehendem Erwägungsgrund 2 der VO (EG) Nr. 385/2009 folgen, dass nicht nur das Interesse an der Zulassung geschützt ist, sondern auch das Interesse an der objektiven Übereinstimmung mit den Gemeinschaftsvorschriften für die Typgenehmigung. Ansonsten bestünde trotz Zulassung die Gefahr, dass sich später herausstellt, dass keine Übereinstimmung mit den mit den Gemeinschaftsvorschriften besteht und der Zustand des Fahrzeugs entweder verändert werden muss, um die Abweichungen zu beseitigen, oder der Betrieb untersagt werden muss.

Für die Auffassung, dass in diesem Zusammenhang nicht nur der freie Warenverkehr als solcher, sondern auch die Interessen einzelner Fahrzeugerwerber geschützt werden sollen, spricht schließlich auch, dass die EU bei der Verwirklichung des Binnenmarkts von einem hohen Sicherheitsniveau und Verbraucherschutzniveau ausgeht (Art. 26 und Art. 114 Abs. 3 AEUV).

c) Nach einer weiteren Ansicht beruht die Anwendbarkeit des § 823 Abs. 2 BGB (auch) darauf, dass es im Interesse einer effektiven Durchsetzung des EU-​Rechts geboten ist, die im vorliegenden Fall maßgebenden unionsrechtlichen Vorschriften mit zivilrechtlichen Sanktionen zu versehen (LG Stuttgart, Vorlagebeschluss vom 13.03.2020 – 3 O 31/20 - juris Rn. 160). Soweit eine Norm gilt, hält der EuGH privatrechtliche Schadensersatzansprüche (private enforcement) bei Zuwiderhandlungen nicht nur für möglich, sondern regelmäßig für geboten, beispielsweise auch, wenn es nur um die Durchsetzung einer Kennzeichnungspflicht für Tafeltrauben geht (EuGH, Urteil vom 02.10.1991 – C-​7/90 - Strafverfahren gegen Paul V. und andere). Der Individualschutzzweck der verletzten Norm des Unionsrechts soll dabei keine tragende Rolle spielen (Wagner, Münchner Kommentar zum BGB, 8. Aufl. 2020, Rn. 541 ff.).

Der Gerichtshof hat beispielweise am 17.09.2002 (- C-​253/00 - Antonio Muñoz y Cia SA und Superior Fruiticola SA gegen Frumar Ltd und Redbridge Produce Marketing Ltd. C-​253/00, Rn. 30) geurteilt, dass die volle Wirksamkeit, insbesondere die praktische Wirksamkeit von (bei landwirtschaftlichen Erzeugnissen geltenden) Qualitätsnormen voraussetzt, dass deren Beachtung im Wege eines Zivilprozesses von Wirtschaftsteilnehmern gegen Konkurrenten durchgesetzt werden kann, da dies mit dazu beiträgt, oft nur schwer aufzudeckende Praktiken zu unterbinden, die den Wettbewerb verfälschen können.

Legt man diese Rechtsprechung zu Grunde, ist zu fragen, ob die praktische Wirksamkeit der Art. 18 Abs. 1, Art. 26 Abs. 1, Art. 46 der RL 2007/46/EG in Verbindung mit Art. 5 Abs. 2 VO (EG) gewährleistet ist:

Die praktische Wirksamkeit der Vorschriften wird im nationalen Recht primär durch die zuständige Prüfbehörde gewährleistet. Gerade der Dieselskandal hat aber gezeigt, dass die national zuständige Prüfbehörde bei der Menge von Fahrzeugtypen und Fahrzeugmodellen nur beschränkt in der Lage war, das Inverkehrbringen von Fahrzeugen mit Abschalteinrichtungen zu verhindern, und das selbst bei Fahrzeugmotoren, die millionenfach in Verkehr gebracht wurden.

Zwar haftet der Hersteller außerdem nach nationalem Recht auf Schadenersatz gem. § 826 BGB. Dieser Anspruch setzt allerdings voraus, dass sittenwidriges Handeln vorliegt, also ein Verhalten, das nach seinem Gesamtcharakter, der durch umfassende Würdigung von Inhalt, Beweggrund und Zweck zu ermitteln ist, gegen das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden verstößt. Dafür muss das Verhalten besonders verwerflich sein, was sich aus dem verfolgten Ziel, den eingesetzten Mitteln, der zutage getretenen Gesinnung oder den eingetretenen Folgen ergeben kann (BGH vom 25.05.2020 – VI ZR 252/19 - , Rn. 13 ff.) BGH, Urteil vom 28.06.2016 - VI ZR 536/15 – juris Rn. 16; Palandt/Sprau, BGB, 80. Aufl. 2021, § 826 Rn. 4).

Dieser zivilrechtliche Anspruch dürfte jedoch der Forderung in Art. 46 RL 2007/46/EG nach wirksamen, verhältnismäßigen und abschreckenden Sanktionen nicht genügen, da nur extreme Ausnahmefälle die Anspruchsvoraussetzungen des § 826 BGB erfüllen. Im Regelfall wird dem Hersteller nur Fahrlässigkeit bei der Ausstellung der EU-​Übereinstimmungsbescheinigung nachzuweisen sein, ohne dass besondere Verwerflichkeit vorliegt. Der Hersteller hat somit nach derzeitigem Rechtsstand keine Inanspruchnahme zu befürchten und somit auch keinen Anreiz, die EU-​Vorschriften penibel einzuhalten, um eine deliktische Haftung zu vermeiden.

Durchschlagskräftig wären die genannten EU-​Vorschriften, auch wenn sie nur allgemeine Interessen schützen sollten, wohl nur dann, wenn auch fahrlässige Verstöße durch deliktische Schadenersatzansprüche der Erwerber gegen den Hersteller sanktioniert würden und die Hersteller dies von vornherein einkalkulieren müssten. Die vom EU-​Verordnungsgeber angestrebten allgemeinen Ziele (Umweltschutz, Gesundheit, hohes Sicherheitsniveau) dürften nur auf diesem Wege erreichbar sein.

3. Die Fragen sind im Streitfall entscheidungserheblich.

Werden die Vorlagefragen II. 1. und II. 2. und/oder II. 3. und II. 4. bejaht, besteht ein potentieller Schadenersatzanspruch des Klägers gegen die Beklagte gem. § 823 Abs. 2 BGB.


II. Zu den Vorlagefragen II. 5. und II. 6.

1. Aus unionsrechtlicher Sicht ist zu fragen, ob es zur praktischen Wirksamkeit der im vorliegenden Fall maßgebenden unionsrechtlichen Vorschriften erforderlich ist, dass eine Anrechnung von Vorteilen der Nutzung des Fahrzeugs auf den Schadenersatzanspruch unterbleibt oder nur in eingeschränktem Umfang erfolgt.

Hierzu gibt es in der nationalen Rechtsprechung und Literatur verschiedene Auffassungen:

a) Nach der Rechtsprechung des BGH, Urteil vom 06.08.2019 – X ZR 128/18 –juris Rn. 10 m. w. Nachw.) darf der Geschädigte im Hinblick auf das schadensersatzrechtliche Bereicherungsverbot nicht besser gestellt werden, als er ohne das schädigende Ereignis stünde, und außerdem sind nur diejenigen durch das Schadensereignis bedingten Vorteile auf den Schadensersatzanspruch anzurechnen, deren Anrechnung mit dem jeweiligen Zweck des Ersatzanspruchs übereinstimmt, also dem Geschädigten zumutbar ist und den Schädiger nicht unangemessen entlastet. Im Urteil vom 25.05.2020 – VI ZR 252/19 - juris Rn. 72 ff.) gibt der BGH vor, dass diese Grundsätze der Vorteilsausgleichung auch für einen Anspruch aus vorsätzlicher sittenwidriger Schädigung gem. § 826 BGB gelten, denn anderenfalls würde der Ersatzanspruch in die Nähe eines dem deutschen Recht fremden Strafschadensersatzes gerückt.

Nach Auffassung des BGH ist diese Rechtsprechung zum Nutzungsersatz unionsrechtskonform. Im Grundsatzurteil vom 25.05.2020 (– VI ZR 252/19 - Rn. 76f.) führt der BGH hierzu aus:

   (....) Das Gemeinschaftsrecht hindert die nationalen Gerichte nicht daran, dafür Sorge zu tragen, dass der Schutz der gemeinschaftsrechtlich gewährleisteten Rechte nicht zu einer ungerechtfertigten Bereicherung des Anspruchsberechtigten führt (vgl. nur EuGH, Urteil vom 13. Juli 2006, C-​295/04 bis C-​298/04, EuZW 2006, 529 Rn. 94 mwN). Insoweit ist es mit dem unionsrechtlichen Effizienzgebot vereinbar, nach den Grundsätzen der Vorteilsausgleichung einen Ersatzanspruch zu versagen, der zu einer ungerechtfertigten Bereicherung führen würde (vgl. nur BGH, Urteil vom 28. Juni 2011 - KZR 75/10, BGHZ 190, 145 Rn. 63 mwN zum Kartellschadensersatz).

Ein Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof der Europäischen Union (Art. 267 Abs. 3 AEUV) wegen der Auslegung der genannten Vorschriften ist entgegen der Ansicht der Revision des Klägers nicht veranlasst. Ein Vorabentscheidungsersuchen ist erforderlich, wenn sich eine entscheidungserhebliche und der einheitlichen Auslegung bedürfende Frage des Unionsrechts stellt. Das ist hier nicht der Fall. Die Rechtslage ist im Hinblick auf § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-​FGV wie dargestellt von vornherein eindeutig ("acte clair", vgl. EuGH, Urteil vom 6. Oktober 1982 - Rs 283/81, NJW 1983, 1257, 1258; BVerfG, NVwZ 2015, 52 Rn. 35).

b) Eine konträre Ansicht verneint die Anrechenbarkeit eines Nutzungsvorteils auf den Schadenersatzanspruch (LG Duisburg, Urteil vom 16.05.2019 – 8 O 106/18 – juris Rn. 51 ff.; LG Gera, Urteil vom 16.04. 2019 - 3 O 566/18 - BeckRS 2019, 9952,Rn. 35.). Sie stützt sich darauf, dass eine Anrechnung der Nutzung manipulierter Diesel-​Kraftfahrzeuge zur Folge habe, dass der von § 826 BGB missbilligte sittenwidrige Warenabsatz am Markt wirtschaftlich praktisch ohne nennenswerte Folgen für den Hersteller bleibe. Es widerspräche nach dieser Ansicht Treu und Glauben, dass der Schädiger durch die sittenwidrige Schädigung etwas verdient, und sei der Verdienst noch so gering (LG Gera, a.a.O., Rn. 35).

Weiter wird geltend gemacht, ein schadensmindernder Abzug von Nutzungen widerspräche dem Grundsatz der maximalen Wirksamkeit einer europarechtlichen Bestimmung (LG Kassel, Urteil vom 04.09.2019 – 8 O 1914/18 - BeckRS 2019, 23022 Rn. 39; LG Stuttgart, Vorlagebeschluss vom 13.03.2020 – 3 O 31/20 - juris Rn. 165 ff.; Bruns, NJW 2020, 508; Harke, VuR 2017,83). Der EuGH sehe es als Aufgabe nationaler Gerichte, den Schutz der dem Bürger aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte zu gewährleisten. Die praktische Wirksamkeit der VO (EG) Nr. 715/2007 sei nicht mehr gewährleistet, wenn dem schädigenden Hersteller innerhalb seines Gewinnstrebens die kühle Kalkulation der Wirtschaftlichkeit seiner Rechtsverletzungen auf Grundlage der mit den Fahrzeugen einhergehenden Verbrauchserwartung gestattet werde (LG Kassel, a.a.O. Rn. 39).

c) Daneben gibt es auch vermittelnde Auffassungen, die eine Anrechnung der Nutzungsentschädigung nur unter bestimmten zusätzlichen Voraussetzungen versagen oder der Höhe nach beschränken:

Eine Ansicht sieht die Anrechnung von gezogenen Nutzungen jedenfalls dann als unbillig an, wenn der Hersteller der Aufforderung des Erwerbers zur Rückzahlung des Kaufpreises Zug-​um-​Zug gegen Übergabe und Übereignung des Fahrzeugs nicht gefolgt und damit in Annahmeverzug gekommen ist (OLG Hamburg, Beschluss vom 13.01.2020 – 15 U 190/19 –, juris Rn. 11).

Eine weitere Auffassung reduziert den Nutzungsersatz dadurch, dass ein objektiver Minderwert des mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung ausgestatteten Fahrzeugs berücksichtigt wird. Der objektive Nutzungswert des Fahrzeugs sei nämlich – unabhängig vom Marktwert - deutlich geringer gewesen, als der gezahlte Kaufpreis, denn eine Wertminderung ergebe sich schon aus der objektiv bestehenden Gefahr der Entdeckung des Mangels. In eine ähnliche Richtung geht die Überlegung, dass die Nutzung des mangelhaften Fahrzeugs in Widerspruch zur Vermögensdisposition des Erwerbers stehe. Der Erwerber habe durch den ungewollten Vertrag einen Schaden in der Vermögenszusammensetzung erlitten, der konsequenterweise bei der Anrechnung von Nutzungsvorteilen ebenfalls zu berücksichtigen sei (Fervers/Gsell, NJW 2020, 1393 mit weiteren Nachweisen).

Für eine reduzierte Anrechnung des Nutzungsersatzes auf Basis des objektiven Wertes dürfte insbesondere auch sprechen, dass der Fahrzeughersteller bei einer vom vollen Kaufpreis ausgehenden Berechnung, im Ergebnis mehr erhält als einen bloßen Bereicherungsausgleich. Wenn der gezahlte Kaufpreis wegen der eingebauten Abschalteinrichtung objektiv zu hoch war, ist der Fahrzeugerwerber nicht bereichert.

2. Die Fragen sind im Streitfall entscheidungserheblich.

Werden die Vorlagefragen II. 5. und II. 6. bejaht, dann entfiele die Anrechnung des Nutzungsvorteils oder er wäre auf einer anderen Grundlage zu berechnen.

III.

Zu der Vorlagefrage II. 7.

Im vorliegenden Verfahren ergibt sich die Vorlageberechtigung des originären Einzelrichters unionsrechtlich aus Art. 267 Abs. 2 AEUV. Vorlageberechtigt ist auch der für die Entscheidung zuständige Einzelrichter eines Landgerichts (EuGH, Urteil vom 13.12.2018 – C-​492/17 - Südwestrundfunk/ Rittinger, Rn. 30 f.; LG Stuttgart, Vorlageersuchen vom 13.03.2020 - 3 O 31/20 - juris Rn. 190).

1. Ob eine Vorlageberechtigung des Einzelrichters gem. Art. 267 Abs. 2 AEUV nach nationalem Recht besteht, ist umstritten.

Der XI. Zivilsenat des BGH hat in Beschlüssen vom 11.02.2020 und vom 31.03.2020 hinsichtlich zweier Vorlagebeschlüsse des obligatorischen Einzelrichters (dem jeweils zuvor die Sache von der Kammer zur Entscheidung übertragen worden war), bemängelt, dass der Einzelrichter gem. § 348a Abs. 2 Nr. 1 ZPO verfahren müsse, also der Kammer die Sache gem. § 348a Abs. 2 Nr. 1 ZPO zur Entscheidung über eine Übernahme vorlegen müsse (Beschluss vom 11.02.2020 – XI ZR 648/18 – juris Rn. 48 und Beschluss vom 31.03.2020 - XI ZR 198/19 - juris Rn. 15). Der BGH geht offenbar davon aus, dass ein Vorabentscheidungsersuchen, bei dem ein Einzelrichter am Landgericht dem EuGH eine Rechtsfrage vorlegt, die der BGH nach der acte clair-Doktrin nicht für vorlagebedürftig hält, nur dann zulässig ist, wenn die Zivilkammer eine Übernahme des Verfahrens gem. § 348a Abs. 2 Nr. 1 ZPO abgelehnt hat.

Eine vergleichbare Situation besteht bei dem im vorliegenden Fall zuständigen originären Einzelrichter nach § 348 Abs. 1 S. 1 ZPO: dieser ist gem. § 348 Abs. 3 Nr. 1 und Nr. 2 ZPO bei Vorliegen von besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher Art oder grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache wie ein obligatorischer Einzelrichter verpflichtet, die Sache der Kammer zu Entscheidung über eine Übernahme vorzulegen. Der Einzelrichter hat dabei kein Handlungsermessen (BGH, 15.06.2011 – II ZB 20/10, juris Rn. 18). Zwischen der Vorlagepflicht eines originären und eines obligatorischen Einzelrichters besteht lediglich der Unterschied, dass der obligatorische Einzelrichter die Pflicht zur Vorlage an die Kammer nur dann hat, wenn die besonderen Schwierigkeiten oder die grundsätzliche Bedeutung erst nach der Übertragung der Sache auf den Einzelrichter infolge einer Änderung der Prozesslage entstanden sind.

Überträgt man nun die Auffassung des XI. Zivilsenats des BGH auf das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen, in dem ebenfalls Vorlagefragen gestellt werden, die der BGH nicht für vorlagebedürftig hält (acte clair), dann müsste der Einzelrichter zunächst das Verfahren gem. § 348 Abs. 3 Nr. 1 und/oder Nr. 2 ZPO der Kammer zur Entscheidung über eine Übernahme vorlegen. Nur wenn die Kammer die Übernahme ablehnt, könnte er als Einzelrichter einen Vorlagebeschluss erlassen. Denn in Rechtsprechung und Literatur wird ein Verstoß gegen § 348 Abs. 2 ZPO als Verletzung des Verfassungsgebotes des gesetzlichen Richters gem. Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG betrachtet (BGH, 15.06.2011 – II ZB 20/10 -, juris Rn. 18; Zöller/Greger, ZPO, 33. Aufl. 2020, § 348 Rn. 20).

2. Der EuGH hat in seinem Urteil vom 13.12.2018 (– C-​492/17 - Südwestrundfunk/ Rittinger, Rn. 30 ff.) betont, dass die Vorlage eines Einzelrichters ungeachtet der Einhaltung nationaler prozessualer Vorschriften unionsrechtlich zulässig ist. Die Vorlagebefugnis kann auch nicht durch ein Rechtsmittelverfahren eingeschränkt werden kann (EuGH, Urteil vom 16.12.2008 - C-​210/06 – CARTESIO Oktató és Szolgáltató bt.). Nicht entschieden hat der EuGH bisher allerdings, ob eine die Vorlageberechtigung einschränkende nationale Vorschrift unanwendbar ist.

Im Hinblick auf das Funktionieren des durch Art. 267 Abs. 2 AEUV geschaffenen Systems der Zusammenarbeit zwischen dem EuGH und den nationalen Gerichten und im Hinblick auf den Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts soll es nach der Rechtsprechung des EuGH dem nationalen Gericht freistehen, in jedem Moment des Verfahrens, den es für geeignet hält, dem EuGH jede Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen, die es für erforderlich hält (EuGH, Urteil vom 13.12.2018 – C-​492/17 - Südwestrundfunk/ Rittinger, Rn. 30f.; EuGH, Urteil vom 04.06.2015 – C-​5/14 -, Kernkraftwerke Lippe-​Ems, Rn. 35).

In der Literatur wird hervorgehoben, dass das Vorlagerecht gem. Art. 267 Abs. 2 AEUV durch nationales Prozess- oder Verfahrensrecht nicht beeinträchtigt werden darf, und zwar insbesondere auch dann nicht, wenn das Gericht der Auffassung ist, dass es aufgrund der rechtlichen Beurteilung des übergeordneten Gerichts zu einer das Unionsrecht verletzenden Entscheidung kommen könnte (Gaitanides in: von der Groeben /Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, 7. Aufl. 2015, Art. 267 Rn. 53; Kaufmann in: Dauses /Ludwigs, Handbuch des EU-​Wirtschaftsrechts, Werkstand: 48. EL Juli 2019, Rn. 96). Die für den nationalen Richter zwingenden Vorschriften des AEUV modifizieren daher auch nationales Prozess- und Verfahrensrecht (Middeke in: Rengeling / Middeke/ Gellermann, Handbuch des Rechtsschutzes in der Europäischen Union, 3. Aufl. 2014, Rn. 57; Classen in: Schulze/Zuleeg/ Kadelbach, Europarecht – Handbuch für die deutsche Rechtspraxis, 3. Aufla ge 2015, Rn. 74).3 Aus der zwingenden Vorschrift des Art. 267 Abs. 2 AEUV dürfte somit folgen, dass § 348 Abs. 3 Nr. 1 und/oder Nr. 2 ZPO nicht auf den Erlass von Vorlagebeschlüssen gem. Art. 267 Abs. 2 AEUV durch den originären Einzelrichter anzuwenden sind (Piekenbrock, GPR 2020, 240 [245]).

3. Die Vorlagefrage II. 7. ist entscheidungserheblich. Wird der Vorrang des Unionsrechts gegenüber dem nationalen Verfahrensrecht nicht ausdrücklich festgestellt, könnte im nationalen Zivilverfahrensrecht dennoch die Zuständigkeit des Einzelrichters angezweifelt und der Beschluss mit Rechtsmitteln angegriffen werden.




E.

I.

Die Vorlage durch einen gem. § 348 Abs. 1 S. 1 für die Entscheidung der Sache zuständigen originären Einzelrichter ist zulässig (siehe oben D. III. 2.).

Rechtliches Gehör ist den Parteien in der mündlichen Verhandlung vom 12.02.2021 gewährt worden. Es war nicht erforderlich, vor Erlass des Vorlagebeschlusses die von den Parteien beantragten Schriftsatzfristen gem. § 283 ZPO zum jeweils letzten Schriftsatz der Gegenseite einzuräumen. Denn die Schriftsätze der Beklagten vom 05.02.2021 und der Schriftsatz des Klägers vom 08.02.2021 enthalten keinen für die zu treffende Vorlageentscheidung erheblichen Sachvortrag.

II.

Zu den im Beschlusstenor II. 1. bis 6. genannten Vorlagefragen, gibt es im nationalen Recht divergente Entscheidungen und Ansichten in der Rechtsliteratur. Auch wenn der VI. Zivilsenat des BGH zur Thematik der Vorlagefragen II. 1. bis 6. nach der acte clair-Doktrin den Standpunkt einnimmt, dass die richtige Auslegung des Unionsrechts derart offenkundig sei, dass für einen vernünftigen Zweifel kein Raum bleibe, dürfte dies der Vorlage an den Gerichtshof nicht entgegenstehen. Das Auslegungsmonopol liegt bei dem EuGH (Streinz/Ehricke, EUV/AEUV, 3. Aufl. 2018, AEUV Art. 267 Rn. 6).

Zur Vorlagefrage II. 7. gibt es von der einhelligen unionsrechtlichen Rechtsprechung und Rechtsliteratur abweichende Äußerungen des XI. Zivilsenats des BGH.

III.

Die Vorlagefragen sind in der Rechtsprechung des Gerichtshofs bisher noch nicht beantwortet worden. Daher liegt es im Interesse einer einheitlichen Auslegung des Unionsrechts, die im Beschlusstenor genannten Fragen dem Gerichtshof zur Vorabentscheidung vorzulegen und die vorgelegten Rechtsstreitigkeiten auszusetzen.

IV.

Die vom LG Erfurt mit Vorlageersuchen vom 15.06.2020 – 8 O 1045/18 - BeckRS 2020, 13203) vorgelegte Frage II. 1., die Gegenstand der bei dem Gerichtshof anhängigen Rechtssache C-​276/20 ist, überschneidet sich mit den Vorlagefragen II. 5. und II. 6 im vorliegenden Ersuchen, so dass möglicherweise eine Verbindung und gemeinsame Entscheidung der Verfahren in Betracht kommen könnte. Frühere Vorlagersuchen an den Gerichtshof, die ähnliche Vorlagefragen zum Gegenstand hatten, haben sich nach Mitteilung der vorlegenden Gerichte erledigt und wurden aus dem Register des Gerichtshofs gestrichen (EuGH, Beschluss vom 10.07.2020 – C-​138/20 – [Vorlageersuchen des LG Stuttgart vom 13.03.2020 – 3 O 31/20 –]; EuGH, Beschluss vom 17.07.2020 – C-​663/19 – [Vorlageersuchen des LG Gera vom 30.08.2019 – 7 O 1188/19 -]).

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