Das Verkehrslexikon

A     B     C     D     E     F     G     H     I     K     L     M     N     O     P     Q     R     S     T     U     V     W     Z    

Landgericht Frankfurt (Oder) Urteil vom 18.12.2020 - 16 S 103/20 - Erstattungsfähigkeit von tatsächlichen Reparaturkosten zwischen 100% und 130% des Wiederbeschaffungswertes bei sachverständig geschätzten Kosten über 130%

LG Frankfurt (Oder) v. 18.12.2020: Erstattungsfähigkeit von tatsächlichen Reparaturkosten zwischen 100% und 130% des Wiederbeschaffungswertes bei sachverständig geschätzten Kosten über 130%




Das Landgericht Frankfurt (Oder) (Urteil vom 18.12.2020 - 16 S 103/20) hat entschieden:

   In Fällen, in denen die vom Sachverständigen geschätzten Reparaturkosten über der 130%-Grenze liegen, es dem Geschädigten aber – auch unter Verwendung von Gebrauchtteilen – gelungen ist, eine nach Auffassung des sachverständig beratenen Gerichts fachgerechte und den Vorgaben des Gutachtens entsprechende Reparatur durchzuführen, deren Kosten unter Berücksichtigung eines merkantilen Minderwerts den Wiederbeschaffungswert nicht übersteigen, dem Geschädigten aus dem Gesichtspunkt des Wirtschaftlichkeitsgebots eine Abrechnung der konkret angefallenen Reparaturkosten nicht verwehrt werden.

Siehe auch
Integritätsinteresse und Ersatz der Reparaturkosten bis zu 130-% des Wiederbeschaffungswertes - die sog. 130-%-Grenze
und
Stichwörter zum Thema Unfallschadenregulierung


Gründe:


I.

Der Kläger begehrt von der Beklagten Schadensersatz aus einem Verkehrsunfall. Die Haftung der Beklagten dem Grunde nach ist unstreitig.

Der Kläger holte nach dem Verkehrsunfall ein Schadensgutachten der ... ein, in welchem Reparaturkosten von 6.185,18 Euro brutto (5.197,63 Euro netto), ein Wiederbeschaffungswert von 4.700,00 Euro und ein Restwert von 1.022,00 Euro brutto (858,82 Euro netto) genannt werden. Die Beklagtenseite erstattete einen Wiederbeschaffungsaufwand in Höhe von 3.475,00 Euro. Der Kläger ließ sein Fahrzeug reparieren und wandte hierfür Reparaturkosten gemäß der Rechnung vom 09.07.2019 (Anlage K 2, Bl. 21 ff. d. A.) in Höhe von 6.086,91 Euro auf.

Mit der Klage hat der Kläger die Differenz zwischen den tatsächlich aufgewandten Reparaturkosten und der Zahlung der Beklagten nebst weiterer Positionen begehrt, welche in der Berufungsinstanz nicht mehr im Streit sind. Der Kläger ist der Auffassung, er könne diese Reparaturkosten in voller Höhe verlangen, da diese geringer seien als 130 % des Wiederbeschaffungswertes. Die Beklagte hat die u. a. mit Gebrauchtteilen durchgeführte, vollständige und fachgerechte Reparatur bereits in der Klageerwiderung unstreitig gestellt, aber die Auffassung vertreten, die Reparatur sei wirtschaftlich unsinnig gewesen.




Das Amtsgericht hat mit dem angefochtenen Urteil, auf welches auch hinsichtlich der erstinstanzlichen Anträge und der weiteren tatsächlichen Feststellungen gemäß § 540 Abs. 1 Satz 1 ZPO ergänzend Bezug genommen wird, der Klage überwiegend stattgegeben und zur Begründung Folgendes ausgeführt:

Der Kläger habe gegen die Beklagte über den regulierten Teil hinaus einen Anspruch auf Ausgleich der vollen Reparaturkosten in Höhe von weiteren 2.611,91 Euro. Zwar sei die Instandsetzung eines beschädigten Fahrzeugs in der Regel wirtschaftlich unvernünftig, wenn die voraussichtlichen Kosten der Reparatur mehr als 30% über dem Wiederbeschaffungswert lägen. In einem solchen Fall, in dem das Kraftfahrzeug nicht mehr reparaturwürdig sei, könne der Geschädigte grundsätzlich nur die Wiederbeschaffungskosten verlangen. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs könne der Geschädigte aber Ersatz der angefallenen Reparaturkosten verlangen, wenn es ihm entgegen der Einschätzung des vorgerichtlichen Sachverständigen gelungen sei, eine fachgerechte, den Vorgaben dieses Sachverständigen entsprechende Reparatur, auch unter Verwendung von Gebrauchtteilen, durchzuführen, deren Kosten den Wiederbeschaffungswert nicht überstiegen. Ob diese Grundsätze auch gelten, wenn die tatsächlich angefallenen Reparaturkosten bis zu 30 % über dem Wiederbeschaffungswert liegen, habe der Bundesgerichtshof zwar bisher ausdrücklich offen gelassen. Dies sei jedoch anzunehmen, da sachliche Gründe für eine unterschiedliche Behandlung beider Konstellationen nicht ersichtlich seien.

Hiergegen richtet sich die - hinsichtlich weiterer Einzelpositionen zurückgenommene - Berufung der Beklagten, die sie im Wesentlichen wie folgt begründet hat: Der Einholung eines Schadensgutachtens komme entscheidende Bedeutung zu. Diese werde untergraben, wenn man es nun gestatten sollte, das Gutachten nachträglich durch eine ex-post-Betrachtung in Frage zu stellen und es nur noch darauf ankommen solle, ob sich die tatsächlich berechneten Kosten entgegen der ursprünglich mit Originalteilen kalkulierten Kosten innerhalb der 130%-Grenze hielten. Die Preisgestaltung der im Eigeninteresse handelnden Reparaturwerkstätten führe zu einer erheblichen Manipulationsgefahr durch versteckte Rabattgewährung, etwa durch eigenmächtige Bestimmung der Ersatzteilpreise, Herunterrechnen von Arbeitszeiten und nicht auf der Rechnung ausgewiesene Positionen. Zudem sei mit Gebrauchtteilen eine sach- und fachgerechte Reparatur ohnehin nicht zu erzielen.

Die Beklagte beantragt (sinngemäß),

   das Urteil des Amtsgerichts Frankfurt (Oder), Az.: 26 C 563/19, vom 07.05.2020 abzuändern und die Klage abzuweisen, soweit das Amtsgericht die Beklagte zur Zahlung von mehr als 92,00 Euro nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz der EZB seit dem 07.08.2019 verurteilt hat.

Der Kläger beantragt,

   die Berufung zurückzuweisen.

Er verteidigt das angefochtene Urteil unter Bezugnahme auf sein erstinstanzliches Vorbringens und führt ergänzend wie folgt aus: Das erstmalige Bestreiten der sach- und fachgerechten Reparatur im Berufungsrechtszug verfange schon deshalb nicht, weil die Beklagte dies in erster Instanz ausdrücklich unstreitig gestellt habe. Überdies treffe der Einwand auch in der Sache nicht zu.




II.

1. Die Berufung ist zulässig, insbesondere form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden.

2. In der Sache hat sie - soweit sie (noch) zur Entscheidung ansteht - jedoch keinen Erfolg. Das Amtsgericht hat mit zutreffender Begründung einen Anspruch des Klägers gegen die Beklagte gemäß §§ 7 StVG, 823 Abs. 1 BGB auf Zahlung weiterer Reparaturkosten in Höhe von 2.611,91 Euro angenommen. Die Haftung der Beklagten dem Grunde nach ist zwischen den Parteien unstreitig. Auch der Höhe nach ist die Klage begründet.


a) Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs kann in Abweichung von dem Wirtschaftlichkeitsgebot des § 249 Abs. 2 Satz 1 BGB Ersatz des Reparaturaufwands (Reparaturkosten zuzüglich einer etwaigen Entschädigung für den merkantilen Minderwert) bis zu 30 % über dem Wiederbeschaffungswert des Fahrzeugs nur verlangt werden, wenn die Reparatur fachgerecht und in einem Umfang durchgeführt wird, wie ihn der Sachverständige zur Grundlage seiner Kostenschätzung gemacht hat (vgl. BGH, Urteil vom 08.02.2011 - VI ZR 79/10, juris Rn. 8). Das von der ... eingeholte Schadensgutachten, das von Reparaturkosten von über 130 % über dem Wiederbeschaffungswert ausgeht, hat dabei keine absolute Bedeutung für die Frage, welche Reparaturkosten tatsächlich erstattungsfähig sind. Daher kann jedenfalls in Fällen, in denen die vom Sachverständigen geschätzten Reparaturkosten über der 130%-Grenze liegen, es dem Geschädigten aber – auch unter Verwendung von Gebrauchtteilen – gelungen ist, eine nach Auffassung des sachverständig beratenen Gerichts fachgerechte und den Vorgaben des Gutachtens entsprechende Reparatur durchzuführen, deren Kosten unter Berücksichtigung eines merkantilen Minderwerts den Wiederbeschaffungswert nicht übersteigen, dem Geschädigten aus dem Gesichtspunkt des Wirtschaftlichkeitsgebots eine Abrechnung der konkret angefallenen Reparaturkosten nicht verwehrt werden (BGH, Urteil vom 14.12.2010 – VI ZR 231/09, juris Rn. 13; BGH, Urteil vom 02.06.2015 – VI ZR 387/14, juris Rn. 8). Ob der Geschädigte auch Kosten innerhalb der 130 %-Grenze geltend machen kann, ist zwar bisher vom Bundesgerichtshof offen gelassen worden (vgl. BGH, Urteil vom 02.06.2015 – VI ZR 387/14, juris Rn. 9 m.w.N.). Ein hinreichender Grund, diese Fälle anders zu behandeln als die Reparatur bis zur 100%-Grenze des Wiederbeschaffungswertes, ist nach Auffassung der Kammer nicht ersichtlich (so auch: Freymann/Wellner in juris-PK-Straßenverkehrsrecht, 1. Auflage, 2016, § 249 BGB Rn. 111; AG Marburg, Urteil vom 16.12.2014 – 9 C 759/13 , juris Rn. 19; vgl. auch bereits das Urteil der erkennenden Kammer vom 18.12.2019 - 16 S 70/19, n. v.). In beiden Fällen hat sich die ursprüngliche Prognose der Schadensschätzung, ein Totalschaden läge vor, nicht bestätigt. Die Überschreitung von 30 % des Wiederbeschaffungswertes rechtfertigt sich demgegenüber daraus, dass der Geschädigte in seinem Integritätsinteresse geschützt werden soll. Warum dieses Interesse bei einem ursprünglich über der 130%-Grenze kalkulierenden Schadensgutachten geringer sein soll, als bei einer von vornherein innerhalb der 130%-Grenze liegenden Schadenskalkulation ist nicht ersichtlich.

b) Dass vorliegend eine sach- und fachgerechte Reparatur erfolgt ist, hat die Beklagte mit Bindungswirkung auch für die Berufungsinstanz schon im ersten Rechtszug ausdrücklich zugestanden (§§ 288 Abs. 1, 535 ZPO). Die Beklagte hat bereits in der Klageerwiderung ausdrücklich unstreitig gestellt, dass das klägerische Fahrzeug vollständig und fachgerecht unter anderem mit Gebrauchtteilen repariert wurde (Klageerwiderung vom 15.01.2020, Bl. 47 d. A.). Hierin liegt die für die Annahme eines Geständnisses ausreichende Erklärung, dass die vom Kläger in Bezug auf die vollständige und fachgerechte Reparatur behaupteten Tatsachen zur Grundlage der Entscheidung gemacht werden sollen, die klägerischen Behauptungen also wahr sind (vgl. zum ausdrücklichen Außerstreitstellen einer Behauptung BGH, Urteil vom 07.07.1994 - IX ZR 115/93, NJW 1994, 3109). Das Geständnis ist auch prozessual wirksam erklärt worden. Durch die vorbehaltlose Antragstellung der Parteien in der mündlichen Verhandlung erfolgte eine konkludente Bezugnahme nach § 137 Abs. 3 ZPO auf den gesamten vorliegenden Inhalt des Verfahrens (vgl. BGH, Urteil vom 14.04.1999 - IV ZR 289/97, NJW-RR 1999, 1113; OLG Köln, Urteil vom 17.08.2001 – 19 U 206/00, BeckRS 2001, 30199892). Ein wirksamer Widerruf ihres Geständnisses ist nicht erfolgt, weshalb lediglich ergänzend ausgeführt sei, dass die dem Geständnis entgegenstehende Behauptung im zweiten Rechtszug, wonach die Verwendung von Ersatzteilen nicht zu einer werthaltigen Reparatur geführt hätte, im Übrigen der Zurückweisung nach § 531 Abs. 2 ZPO unterliegt.



3. Die Zinsentscheidung beruht auf §§ 286 Abs. 1, 288 Abs. 1 BGB.

4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO. Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit ergibt sich aus §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.

5. Die Revision wird gemäß § 543 ZPO zugelassen, da die Frage, ob der Geschädigte, wenn es ihm tatsächlich gelingt, entgegen der Einschätzung des Sachverständigen die von diesem für erforderlich gehaltene Reparatur innerhalb der 130%-Grenze fachgerecht in einem Umfang durchzuführen, wie ihn der Sachverständige zur Grundlage seiner Kostenschätzung gemacht hat, Ersatz von über dem Wiederbeschaffungswert liegenden Reparaturkosten verlangen kann, vom Bundesgerichtshof bisher ausdrücklich offen gelassen wurde (vgl. BGH, Urteil v. 02.06.2015 – VI ZR 387/14 – Rn. 9 m.w.N.).

6. Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf §§ 47 Abs. 1, 48 Abs. 1 GKG i.V.m. § 3 ZPO.

- nach oben -



Datenschutz    Impressum