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Oberlandesgericht München Urteil vom 06.04.2022 - 10 U 627/21 - Zur Haftungsabwägung bei einem Unfall auf Tankstellengelände

OLG München v. 06.04.2022: Zur Haftungsabwägung bei einem Unfall auf Tankstellengelände




Das Oberlandesgericht München (Urteil vom 06.04.2022 - 10 U 627/21) hat entschieden:

  1.  Auf einem Tankstellengelände ist – im Rahmen des Gebots der gegenseitigen Rücksichtnahme aus § 1 Abs. 2 StVO – auch dann eine besondere Sorgfalt beim Anfahren erforderlich, wenn § 10 StVO im Bereich der Zapfsäulen – mangels fließenden Verkehrs – nicht anwendbar ist.

  2.  Das Gericht darf und muss nur dann eine neue Begutachtung anordnen, wenn die Sachkunde des früheren Gutachters zweifelhaft ist, wenn das Gutachten von unzutreffenden tatsächlichen Voraussetzungen ausgeht, wenn es Widersprüche enthält oder wenn der neue Sachverständige über Forschungsmittel verfügt, die denen des früheren Gutachters überlegen erscheinen, schließlich, wenn eine besonders schwierige Frage zu entscheiden ist oder das vorgelegte Gutachten grobe Mängel aufweist.




Siehe auch
Tankstelle - Tankstellengelände
und
Grundregel des Straßenverkehrs - gegenseitige Rücksichtnahme und Vermeidung von Behinderungen, Gefährdungen, Belästigungen und Schäden

Aus den Entscheidungsgründen:


A.

Von der Darstellung der tatsächlichen Feststellungen wird abgesehen (§§ 540 II, 313 a I 1 ZPO i. Verb. m. § 544 II Nr. 1 ZPO).

B.

Die statthaften sowie form- und fristgerecht eingelegten und begründeten, somit zulässigen Berufungen haben in der Sache zumindest teilweise Erfolg.

Das Erstgericht ist zu Unrecht davon ausgegangen, dass dem Kläger nach §§ 7, 18 StVG, 823 I, II, 249 ff. BGB i.V.m. § 115 VVG ein umfassender Schadensersatzanspruch entsprechend des Klagebegehrens aus dem Verkehrsunfallgeschehen vom 20.02.2017 im Bereich der Zapfsäulen der Tankstelle W. in I. zusteht, wohingegen die Widerklage als unbegründet abzuweisen war. Vielmehr führt die Abwägung der wechselseitigen Verursachungsbeiträge im Lichte der durch den Senat erneut durchgeführten Beweisaufnahme dazu, dass der Kläger nicht mehr als ein Drittel des entstandenen Schadens ersetzt verlangen kann und die Widerklage der Beklagten zu 2) und zu 3) unter Berücksichtigung einer Mithaftungsquote von 1/3, also in Höhe von 2/3, begründet ist.

I.1. a) Im Hinblick auf das Klagebegehren ist den Beklagten zunächst zuzugeben, dass auf Seiten des Klägers nicht von einem "unabwendbaren Ereignis" im Sinne des § 17 III StVG auszugehen ist. Unabwendbar ist ein Ereignis im Sinne des § 17 III 2 StVG nur dann, wenn es auch bei Anwendung äußerster Sorgfalt nicht hätte abgewendet werden können. "Dies erfordert geistesgegenwärtiges und sachgemäßes Handeln, welches über den gewöhnlichen und persönlichen Maßstab hinausgeht. Die Rechtsprechung geht dann von einer Unabwendbarkeit aus, wenn ein so genannter Idealfahrer den Verkehrsunfall nicht hätte verhindern können" (MüKoStVR/ Engel, 1. Aufl. 2017, StVG § 17 Rn. 32). Ein unabwendbares Ereignis im Sinne des § 17 III StVG nimmt auch das Erstgericht nicht an.

Bei der nach §§ 17 I, II i. V. m. 18 III StVG erforderlichen Abwägung der wechselseitigen Verursachungs- bzw. Verschuldensbeiträge kommt das Erstgericht aber unzutreffend zu dem Ergebnis, dass dem Kläger ein Mitverschulden an dem Verkehrsunfallgeschehen nicht anzulasten ist (vgl. Seite 9 des EU).




In rechtlicher Hinsicht ist grundsätzlich davon auszugehen, dass auf einem Tankstellengelände, das eine einem Parkplatz vergleichbare Verkehrsfläche darstellt, das Gebot der gegenseitigen Rücksichtnahme aus § 1 II StVO gilt (vgl. LG Lübeck, Urteil vom 28. Juli 2017 - 6 O 67/15 - Rn. 27, juris; LG Köln, Urteil vom 10. Mai 2016 - 11 S 360/15 -, Rn. 5, juris; OLG Köln MDR 1995, 363). Ähnlich wie bei der Suche nach einem Stellplatz auf einem frei zugänglichen Parkplatzgelände ist die Aufmerksamkeit der Kraftfahrer auf einem Tankstellengelände "durch die Suche nach einer freien Zapfstelle oder nach einer sonstigen Einrichtung beeinträchtigt, an oder in der die Vornahme einer konkreten Verrichtung geplant ist (z. B. Werkstatt, Waschstraße, Verkaufsraum, Luftdruckmeßgerät). Aus der Zweckbestimmung eines Tankstellengeländes folgt daher, dass sich dort jeder Verkehrsteilnehmer nur mit besonderer Umsicht und insbesondere angepaßter Geschwindigkeit bewegen darf, weil er mit situationsbedingten Unaufmerksamkeiten anderer Tankstellenbesucher rechnen muß" (OLG Düsseldorf, Urteil vom 25. Juni 2001 - 1 U 126/00 -, Rn. 4, juris; vgl. auch für Großparkplätze OLG Nürnberg, ZfSch 2014, 679).

Hingegen findet die Vorschrift des § 10 StVO mit der Verpflichtung, die Gefährdung anderer auszuschließen, entgegen der Auffassung der Beklagten keine direkte Anwendung, da sich das Unfallgeschehen unstreitig noch im Bereich der Zapfsäulen ereignete, der Kläger mithin im Zeitpunkt der Kollision noch nicht im Begriff war, sich in den fließenden Verkehr auf dem Tankstellengrundstück einzuordnen (vgl. bei der Absicht, sich auf die Fahrstraße eines Tankstellengeländes einzuordnen, OLG Hamm, Urteil vom 25. April 1977 - 3 U 2/77 -, Rn. 29, juris). Dem Kläger ist auch zuzugeben, dass - wie im Schriftsatz vom 30.03.2022 vorgebracht - eine analoge Anwendung des § 10 StVO grundsätzlich nur dann ausnahmsweise in Betracht zu ziehen ist, wenn bestimmten Verkehrsflächen im Vergleich zu anderen Verkehrsflächen nach dem objektiven Erscheinungsbild, insbesondere der baulichen Gestaltung oder Markierung ein eindeutiger Straßencharakter beizumessen ist (vgl. OLG Nürnberg, a.a.O. m.w.N.).

Nach Auffassung des Senats steht dies jedoch nicht der bereits im Wege der vorläufigen Beweiswürdigung mitgeteilten Auffassung entgegen, wonach das vorliegend Geltung beanspruchende Gebot der gegenseitigen Rücksichtnahme nach § 1 II StVO zumindest insoweit im Lichte des Rechtsgedankens des § 10 StVO zu sehen ist, als Fahrzeugführer eines zunächst stehenden Fahrzeugs vor dem Anfahren die sich im Bereich einer Tankstelle bewegende Fahrzeuge besonders zu beobachten hat.




Im konkreten Fall ist sowohl dem Kläger als auch dem Beklagten zu 3) ein Verstoß gegen die aus § 1 II StVO resultierende Pflicht zur gegenseitigen Rücksichtnahme anzulasten.

Aufgrund der überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen Dipl.-Ing. J. S., an dessen Sachkunde und Zuverlässigkeit der Senat infolge einer Vielzahl von Verfahren keinen Zweifel hat, im Rahmen der ergänzenden Beweisaufnahme durch den Senat ist davon auszugehen, dass den Beklagten zu 3) eine höhere Geschwindigkeit als 15 km/h nicht nachgewiesen werden kann. Der Sachverständige hat zu den gefahrenen Geschwindigkeiten überzeugend dargelegt, dass bei dem Klägerfahrzeug von einer Geschwindigkeit von ca. 10 km/h auszugehen sei und "aus den Beschädigungen der beiden Fahrzeuge festgestellt werden [könne], dass das Beklagtenfahrzeug schneller war als das Klägerfahrzeug", wobei die "Differenzgeschwindigkeit im Bereich von mindestens 5 km/h" liege und "25 km/h [stellt] das obere Limit der Geschwindigkeit des Beklagtenfahrzeugs dar[stelle], da dieser ja bis zur vorderen Zapfsäule auf 0 abbremsen musste" (vgl. Seite 4 des Protokolls vom 23.03.2022 = Bl. 306 d. A.). Da der Kläger im Rahmen seiner informatorischen Anhörung selbst geäußert hat, dass er nur langsam losgefahren sei, ist davon bei unfallanalytischen Erwägungen ebenfalls auszugehen. Es bestehen auch keine Zweifel an der Richtigkeit der Angaben des Beklagten zu 3), dass er in einer S-Kurve um das Klägerfahrzeug herum die vordere Tanksäule anfahren musste ("Die Zapfsäule auf Höhe des klägerischen Fahrzeugs links war frei, weshalb ich durchfahren konnte, an der vorderen Zapfsäule links war jedoch ein Fahrzeug gestanden, sodass ich in einer S-Kurve an die vordere rechte Zapfsäule hinfahren musste", vgl. Seite 3 des Protokolls vom 23.03.2022 = Bl. 305 d. A.). Nicht anzunehmen war dabei, dass an der links neben dem Klägerfahrzeug befindlichen Zapfsäule ebenfalls noch ein Fahrzeug stand, der Kläger war sich insoweit unsicher ("Ich weiß heute nicht mehr, ob links neben mir ein Fahrzeug an der Tanksäule gestanden ist", vgl. Seite 3 des Protokolls vom 23.03.2022 = Bl. 305 d. A.), der Beklagte zu 3) hat dies in Abrede gestellt ("Die Zapfsäule auf Höhe des klägerischen Fahrzeugs links war frei", vgl. Seite 3 des Protokolls vom 23.03.2022 = Bl. 305 d. A.) und der Sachverständige hat erläutert, dass ein gefahrloses Vorbeifahren durch ein "drittes Fahrzeug" ebenfalls bei Einhaltung von Sicherheitsabständen nicht möglich gewesen wäre ("Wenn man berücksichtigt, dass Fahrzeuge beim Tanken nicht völlig exakt am Rand zur Tanksäule stehenbleiben und wenn die jeweiligen Außenspiegel mit berücksichtigt werden, bestünden keine ausreichenden Sicherheitsabstände mehr, dass bei einem links dem dem Kläger stehenden Fahrzeug und dem Klägerfahrzeug dazwischen noch ein weiteres Fahrzeug durchfahren könnte", vgl. Seite 4 des Protokolls vom 23.03.2022 = Bl. 306 d. A.).

Der gerichtliche Sachverständige Dipl.-Ing. S. führte im Rahmen der Beweisaufnahme durch den Senat zunächst aus, dass die ergänzend durchgeführte Anhörung der Parteien sein schriftliches Gutachten bestätigt habe (vgl. Seite 4 des Protokolls vom 23.03.2022 = Bl. 306 d. A.). In seinem schriftlichen Gutachten legte der Sachverständige überzeugend dar, dass für den Kläger zwar im Zeitpunkt des Anfahrentschlusses die Absicht des Beklagten zu 3) die Zapfsäule vor dem klägerischen Fahrzeug anzufahren, (noch) nicht erkennbar war. Die Richtungsänderung des Beklagtenfahrzeugs konnte der Kläger erst 0,4-0,9 Sekunden vor der Kollision realisieren, woraus sich unter Berücksichtigung einer Reaktionszeit von 0,8 Sekunden nach den Ausführungen des Sachverständigen ergibt, dass der Unfall für den Kläger - sofern man unterstellt, dass es entscheidend auf die Erkennbarkeit der Richtungsänderung ankommt - weg- und zeitmäßig unvermeidbar war (vgl. Seite 14 des Gutachtens = Bl. 155 d. A.; Seite 8 des EU). Indes konnte der Sachverständige basierend auf den Angaben beider Parteien im Termin vor dem Senat auch nachvollziehbar bekräftigen, dass der Kläger bei einem Blick in den Außenspiegel links, jedenfalls bei ordnungsgemäßer Durchführung des von ihm selbst berichteten Schulterblicks nach links ("Ich habe dann auch noch einen Schulterblick nach links gemacht und dabei niemand gesehen, dann bin ich losgefahren" vgl. Seite 3 des Protokolls vom 23.03.2022 = Bl. 305 d. A.) das Beklagtenfahrzeug vor dem Anfahren hätte erkennen müssen (vgl. Seite 4 des Protokolls vom 23.03.2022 = Bl. 306 d. A. und bereits Seite 10 des Gutachtens vom 21.01.2020 = Bl. 151 d. A.). Er führte hierzu insbesondere aus, dass bei Unterstellung der Angaben des Klägers in dessen informatorischer Anhörung, wonach hinter diesem noch ein Fahrzeug gewartet habe, "das Beklagtenfahrzeug ja nicht hinter dem Kläger erst ausscheren [konnte], sondern [...] schon in paralleler Fahrrichtung links neben dem Kläger heranfahren" musste, so dass "bei den gerade vorhin genannten Geschwindigkeiten [...] der Kläger das Beklagtenfahrzeug im Außenspiegel, jedenfalls aber bei seinem Schulterblick nach links kurz vor dem Losfahren, erkennen [hätte] müssen" (vgl. Seite 4 des Protokolls vom 23.03.2022 = Bl. 306 d. A.). Soweit der Kläger in dem Schriftsatz vom 30.03.2022 vortragen lässt, dass das Beklagtenfahrzeug zum Zeitpunkt des Anfahrvorgangs infolge der vom Beklagten zu 3) gewählten Fahrlinie nicht sichtbar gewesen sei, da es sich im sogenannten "toten Winkel" befunden habe, so steht dies im klaren Widerspruch zu den überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen. Im Übrigen ergibt sich auf den auf Seite 7 des Schriftsatzes der Klageseite präsentierten Skizzen auch nicht, dass der Kläger das herannahende Beklagtenfahrzeug nicht durch den selbst behaupteten Schulterblick habe erkennen können. Selbst wenn man unterstellen würde, dass die Sicht des Klägers im Moment des Anfahrens derart eingeschränkt gewesen wäre, dass er den rückwärtigen Bereich nicht voll habe überblicken können, so hätte er nicht "quasi blind" anfahren dürfen, sondern hätte sich durch Abwarten vergewissern müssen, dass sich von hinten kein Fahrzeug nähert. Dies gilt umso mehr, als sich nach den eigenen Angaben des Klägers weder hinter ihm in Fahrtrichtung gesehen eine weitere Zapfsäule befand, noch die Zapfsäule vor dem Klägerfahrzeug besetzt war, (vgl. Seite 3 des Protokolls vom 23.03.2022 = Bl. 305 d. A.), so dass der Kläger in jedem Fall auch verpflichtet war, zu beobachten, ob sich nicht von hinten ein Fahrzeug annähert, um die vor ihm befindliche freie Zapfsäule anzufahren. In diesem Zusammenhang überzeugt der Einwand des Klägers im Schriftsatz vom 30.03.2022, wonach die "Durchfahrt zum Erreichen einer hinteren Zapfsäule, sofern die vorherige belegt ist, [...] nicht Sinn und Zweck dieser Fläche" ist, wenn die Zapfsäulen durch rechts und links an den Zapfsäulen stehende Fahrzeuge belegt sind, da dann die Sicherheitsabstände nicht eingehalten werden können, nicht. Zum einen war die links neben dem Klägerfahrzeug gelegene Zapfsäule gerade nicht belegt, so dass es nicht zu einem Unterschreiten des Sicherheitsabstandes gekommen ist. Zum anderen müssen die Nutzer von Zapfsäulen auf einem Tankstellengelände naturgemäß damit rechnen, dass freie Zapfsäulen durch weitere Verkehrsteilnehmer angefahren werden.


Zusammengefasst musste der Kläger, nachdem der gerichtliche Sachverständige - wie bereits dargelegt - ausgeführt hat, dass der Kläger das Beklagtenfahrzeug erkennen hätte müssen, in jeden Fall davon Abstand nehmen loszufahren, da das Beklagtenfahrzeug selbst dann, wenn dieses nicht die vordere Tanksäule hätte anfahren wollen, wegen des nach den unzweifelhaften Angaben des Beklagten an der vorderen linken Zapfsäule befindlichen Fahrzeugs nach rechts schwenken musste, um an diesem vorbeizufahren. Hieraus folgt der Verstoß des Klägers gegen die aus § 1 II StVO resultierende Pflicht zur gegenseitigen Rücksichtnahme.

Nicht relevant ist insoweit in rechtlicher Hinsicht, dass für den Kläger das Unfallgeschehen entsprechend der gutachterlichen Ausführungen nach dem Anfahrvorgang nicht mehr vermeidbar war, da er bereits nach § 1 II StVO verpflichtet gewesen wäre, von einem Anfahren Abstand zu nehmen.

b) Aber auch dem Beklagten zu 3) ist vorzuwerfen, dass er bei der von ihm selbst beschriebenen beengten Situation auf dem Tankstellengelände zum Zeitpunkt des Unfallgeschehens mit der nach den Ausführungen des gerichtlichen Sachverständigen zu unterstellenden Geschwindigkeit von mindestens 15 km/h deutlich zu schnell gefahren ist. Hieraus folgt ebenfalls ein Verstoß gegen das auf dem Tankstellengelände geltende Gebot der gegenseitigen Rücksichtnahme aus § 1 II StVO. Zwar ist auch davon auszugehen, dass der Beklagte zu 3) seinerseits jedenfalls im Zuge der Vorbeifahrt am Klägerfahrzeug im Augenwinkel rechts ein anfahrendes Klägerfahrzeug hätte erkennen können. Der Senat geht jedoch infolge der nachvollziehbaren Ausführungen des gerichtlichen Sachverständigen davon aus, dass ein rechtzeitiges Reagieren auf dieses Anfahren nicht mehr möglich war, um den Unfall zu vermeiden. ("Bei einer Geschwindigkeit von 15 km/h fährt das Beklagtenfahrzeug ca. 4 m in der Sekunde, bei 25 km/h ca. 6 m in der Sekunde. Wenn der Beklagte zu 3) im Augenwinkel bei seiner Vorbeifahrt, die ja orientiert war in Richtung einer S-Kurve zur Tanksäule, nach einer Reaktionszeit reagiert hätte, hätte er trotzdem einen Zusammenstoß nicht mehr vermeiden können. Hierbei habe ich berücksichtigt, dass beide Parteien die Unfallstelle etwa in der Mitte zwischen den beiden Tanksäulen verortet haben. Dabei ist berücksichtigt, dass sich ja auch das Klägerfahrzeug bis zu einer Geschwindigkeit von 10 km/h hin nach vorne in Richtung Kollisionsstelle bewegt hat.", vgl. Seite 4 des Protokolls vom 23.03.2022 = Bl. 306 d. A.).

Soweit der Kläger dies in den schriftsätzlichen Ausführungen vom 30.03.2022 in Zweifel zieht und meint, dass der Sachverständige sich mit seinen Ausführungen zur Vermeidbarkeit in diametralem Widerspruch zu seinen Darlegungen in seinen schriftlichen Gutachten vom 21.01.2020 und 15.09.2020 setze, weswegen von Amts wegen ein neues Gutachten einzuholen wäre, so kann dem nicht gefolgt werden. Zutreffend ist, dass der gerichtliche Sachverständige im Rahmen seiner Anhörung zunächst auf sein "erstes schriftliches Gutachten" Bezug genommen hat (vgl. Seite 4 des Protokolls vom 23.03.2022 = Bl. 306 d. A.). Im Folgenden hat der gerichtliche Sachverständige aber die im Rahmen seiner schriftlichen Ausführungen angestellte Vermeidbarkeitsbetrachtung dahingehend präzisiert, dass "bei einer theoretischen Überlegung [...] der Unfall allenfalls [dann] vermieden [hätte] werden können für den Beklagten zu 3), wenn er, falls er schon nach rechts eingelenkt hat, wieder nach links lenkt in eine Parallelausrichtung und der Kläger parallel geradeaus gefahren wäre, dann hätte es nicht zu einem Zusammenstoß der beiden Fahrzeuge kommen können" (vgl. Seite 5 des Protokolls vom 23.03.2022 = Bl. 307 d. A.). Hierbei gab der gerichtliche Sachverständige unter Bezugnahme auf die Modellrechnungen mehrfach zu verstehen, dass der Zeitpunkt des Anfahrens des Klägerfahrzeugs "nicht gleichzusetzen [sei] mit einer Reaktionsaufforderung für den Beklagten zu 3), weil dieser gerade bei einem langsamen Losfahren dieses noch nicht sofort hat erkennen können. Im Zuge der folgenden dynamischen Prozesse (Weiterfahrt des Beklagtenfahrzeugs mit 15 km/h, Anfahren des Klägerfahrzeugs bis zu einer Kollisionsgeschwindigkeit von 10 km/h) ab dem Zeitpunkt der Erkennbarkeit des Losfahrens für den Beklagten zu 3) ist eine Reaktionszeit von 0,8s zu rechnen". (vgl. Seite 5 des Protokolls vom 23.03.2022 = Bl. 307 d. A.). Insoweit kommt der gerichtliche Sachverständige zu dem aus Sicht des Senats nachvollziehbaren Schluss, dass "der Beklagte [zwar] im Zuge der Vorbeifahrt am Klägerfahrzeug im Augenwinkel rechts ein Losfahren des Klägerfahrzeugs hat bemerken können, ihm bei Berücksichtigung von Reaktionszeiten eine Abwehr trotzdem nicht mehr möglich war" (vgl. Seite 5 des Protokolls vom 23.03.2022 = Bl. 307 d. A.).



Für die Einholung eines weiteren Gutachtens, wie vom Kläger beantragt, besteht daher kein Anlass. Im Übrigen ist die Einholung eines weiteren Gutachtens, die im pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts (§ 412 ZPO) steht, nach der Rechtsprechung nur ausnahmsweise geboten (vgl. BGH, Urteil vom 17. Februar 1970 - III ZR 139/67 -, BGHZ 53, 245-264; Reichold in: Thomas/Putzo, ZPO 40. Aufl., § 412 Rn. 1). Das Gericht darf und muss nur dann eine neue Begutachtung anordnen, wenn die Sachkunde des früheren Gutachters zweifelhaft ist, wenn das Gutachten von unzutreffenden tatsächlichen Voraussetzungen ausgeht, wenn es Widersprüche enthält oder wenn der neue Sachverständige über Forschungsmittel verfügt, die denen des früheren Gutachters überlegen erscheinen (BGH DRiZ 1967, 166) (vgl. BGH, Urteil vom 17. Februar 1970 - III ZR 139/67 -, BGHZ 53, 245-264). Darüber hinaus kann ein weiteres Gutachten erforderlich sein, wenn eine besonders schwierige Frage zu entscheiden ist oder das vorgelegte Gutachten grobe Mängel aufweist (BGH MDR 1953, 605; BGH, Urteil vom 17. Februar 1970 - III ZR 139/67 -, BGHZ 53, 245-264; Thomas/Putzo, ZPO 40. Aufl., § 412 Rn. 1 m.w.N.). Diese Voraussetzungen liegen im Streitfall ersichtlich nicht vor.

c) Bei der gemäß § 17 StVG anzustellenden Abwägung der jeweiligen Verursachungs- bzw. Verschuldensanteile der beiden Fahrzeuglenker am streitgegenständlichen Unfall ist nach der ergänzend durchgeführten Beweisaufnahme des Senats davon auszugehen, dass dem Kläger ein überwiegendes Verschulden am Unfall vorzuwerfen ist, was zu einer Haftungsverteilung von 2/3 zu 1/3 zu Lasten der Klageseite führt. Zwar ist sowohl auf der Klage- als auch auf der Beklagtenseite ein Verstoß gegen die allgemeine Rücksichtnahmepflicht nach § 1 II StVO zu beachten. Entsprechend der Ausführungen des gerichtlichen Sachversändigen Dipl.-Ing. S. ist aber zu beachten, dass der Kläger in jedem Fall das Beklagtenfahrzeug heranfahren hätte sehen und angesichts der Verkehrslage davon hätte ausgehen müssen, dass das Beklagtenfahrzeug vor ihm nach rechts ziehen muss, es auch wahrscheinlich war, dass es zur Tanksäule hinüberfahren wird, wobei auch der Rechtsgedanke des § 10 StVO zu berücksichtigen ist. Dem Beklagten zu 3) kann hingegen - abweichend zu den Erwägungen des Erstgerichts - nicht mehr angelastet werden, dass er noch auf das losfahrende Fahrzeug hätte reagieren können. Vorzuwerfen ist ihm im Rahmen des § 1 II StVO nur noch die überhöhte Geschwindigkeit. Daraus folgt, dass der Kläger überwiegend haftet. Den jeweiligen Verursachungs- bzw. Verschuldensbeiträgen wird nach Auffassung des Senats mit einer Haftungsverteilung von 2/3 zu 1/3 zu Lasten der Klageseite angemessen entsprochen.


[es folgen Ausführungen zu Schadenshöhe]


IV. Die Revision war nicht zuzulassen. Gründe, die die Zulassung der Revision gem. § 543 II 1 ZPO rechtfertigen würden, sind nicht gegeben. Mit Rücksicht darauf, dass die Entscheidung einen Einzelfall betrifft, ohne von der höchst- oder obergerichtlichen Rechtsprechung abzuweichen, kommt der Rechtssache weder grundsätzliche Bedeutung zu noch erfordern die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts.

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