Das Verkehrslexikon

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Beschlussverfahren - Ordnungswidrigkeiten - Bußgeldverfahren

Das Beschlussverfahren im Ordnungswidrigkeitenrecht




Gliederung:


Einleitung
-   Weiterführende Links
Allgemeines
Zustimmung - auch stillschweigend
Widerspruch - auch stillschweigend
Rücknahme des Widerspruchs
Geltungsdauer der Zustimmung
Geltungsdauer des Widerspruchs
Überprüfungsumfang in der Rechtsbeschwerde
Beschluss ohne Begründung



Einleitung:


Das Beschlussverfahren, in dem ohne Hauptverhandlung entschieden wird, soll eine Entlastung der Gerichte für einfach gelagerte Bußgeldsachverhalte ermöglichen, ohne den verfassungsrechtlichen Anspruch des Betroffenen auf Gewährung des rechtlichen Gehörs über Gebühr zu verkürzen.

Lemke/Mosbacher: Ordnungswidrigkeitengesetz, 2. Auflage 2005, Rd.-Nrn. 1 bis 3:

   "Die Vorschrift durchbricht den im Strafbefehlsverfahren geltenden Grundsatz, wonach auf zulässigen Einspruch hin aufgrund einer Hauptverhandlung zu entscheiden ist (§ 411 Abs. 1 Satz 1 StPO). Sie eröffnet die Möglichkeit, im schriftlichen Verfahren und ohne Beweiserhebung in einer Hauptverhandlung durch Beschluss zu entscheiden. Nach den Vorstellungen des Gesetzgebers ist die Entscheidung aufgrund einer mündlichen Verhandlung die Regel und das schriftliche Verfahren die Ausnahme (KK-Senge 1). Zweck der Ausnahmebestimmung ist allein die Vereinfachung und Beschleunigung des Verfahrens (Karlsruhe NStZ-RR 2002, 271). Die zunehmend knapper werdenden personellen und sachlichen Ressourcen bei der Justizgewährung, das Anwachsen der OWi-Verfahren im Bagatellbereich, insbesondere bei den Verkehrs-OWi, und die zunehmende Bedeutung schwerwiegender OWi in nebenstrafrechtlichen Gebieten sprechen dafür, dass de lege ferenda bei schwerer wiegenden Verstößen die Hauptverhandlung und bei leichteren Verstößen das schriftliche Verfahren die Regel sein sollte.

Das schriftliche Verfahren in Bußgeldsachen verstößt nicht gegen das GG oder die MRK. Art. 103 Abs. 1 GG fordert die Anhörung in der mündlichen Verhandlung nicht (BVerfGE 9, 11). Dasselbe gilt für Art. 6 MRK (Röhl NJW 1964, 275; RRH 2a), soweit er überhaupt im Bußgeldverfahren anwendbar ist (Schmidt NStZ 1981, 380).

II. Schriftliches Verfahren

Abs. 1 enthält die Befugnisnorm für die Entscheidung im schriftlichen Verfahren durch das Gericht. Danach kann es durch Beschluss entscheiden, wenn es eine Hauptverhandlung nicht für erforderlich hält, sofern der Betroffene und die StA diesem Verfahren nicht widersprechen (Satz 1). Es steht in seinem Ermessen, ob es eine Hauptverhandlung für erforderlich hält. Sie erscheint nicht erforderlich, wenn der dem Betroffenen zur Last gelegte Sachverhalt einfach gelagert und die richterliche Sachentscheidung ohne weitere Ermittlungen möglich ist (KK-Senge 4), wenn bereits nach Aktenlage ein Freispruch in Betracht kommt, der Betroffene geständig ist und nur eine Reduzierung der Geldbuße anstrebt oder wenn nur eine Rechtsfrage zu entscheiden ist (Begründung BT-Drucks. V/1269 S. 35; BGH NJW 1972, 881)."


Der Widerspruch kann formlos, also schriftlich, fernmündlich, ggf. auch mündlich, zur Niederschrift des Urkundsbeamten oder mittels elektronischer Kommunikationsmittel erhoben werden.

Nach § 72 Abs. 1 Satz 2 OWiG kann der Widerspruch nur innerhalb von zwei Wochen nach einem entsprechenden gerichtlichen Hinweis erhoben werden. Eine kürzer gesetzte Frist ist unwirksam. Die Frist kann vom Gericht nicht verlängert werden.

Ob der Betroffene mit einer Entscheidung im Beschlusswege einverstanden ist oder nicht, muss bei Schweigen auf den entsprechenden - vorgeschriebenen - Hinweis des Gerichts unter Beachtung aller Verfahrensumstände ermittelt werden.

Wurde ohne - auch stillschweigende - Zustimmung des Betroffenen schriftlich entschieden, ist die Rechtsbeschwerde zulässig.

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Weiterführende Links:


Stichwörter zum Thema Ordnungswidrigkeiten

Bußgeldverfahren / Ordnungswidrigkeitenverfahren

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Allgemeines:


BVerfG v. 10.06.1975:
Dem Recht des Beteiligten aus GG Art 103 Abs 1, sich zu dem einer gerichtlichen Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt zu äußern, entspricht die Pflicht des Gerichts, die Ausführungen der Beteiligten nicht nur zur Kenntnis zu nehmen, sondern bei seiner Entscheidung auch in Erwägung zu ziehen. Demgegenüber gewährt das Grundrecht auf rechtliches Gehör keinen Schutz gegen Entscheidungen, die den Sachvortrag eines Beteiligten aus Gründen des formellen oder materiellen Rechts unberücksichtigt lassen.

BVerfG v. 30.06.1976:
Es verstößt gegen GG Art 103 Abs 1, wenn ein Gericht - auch versehentlich - vor Ablauf einer einem Beteiligten gesetzten Äußerungsfrist entscheidet. StPO § 33a gehört zum Rechtsweg im Sinne des BVerfGG § 90 Abs 2 (BVerfGE 33, 192 (194)); die Vorschrift ist so auszulegen und anzuwenden, dass sie jeden Verstoß gegen GG Art 103 Abs 1 in den Beschlussverfahren, auf die sie anwendbar ist, erfasst.

OLG Stuttgart v. 09.07.2013:
Es steht im Ermessen des Gerichts, ob es eine Hauptverhandlung für erforderlich hält oder eine Entscheidung durch Beschluss in Frage kommt. Eine fehlerhafte Ermessensausübung in diesem Zusammenhang kann mit der Rechtsbeschwerde nicht angefochten werden.

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Zustimmung - auch stillschweigend:


BGH v. 17.02.1972:
Zwar hat § 79 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 OWiG allerdings die Rechtsbeschwerde ausdrücklich nur für den Fall vorgesehen, dass das Gericht ohne Hauptverhandlung entschieden hat, obwohl einer der Beteiligten oder beide diesem Verfahren widersprochen hatten. Nach dem Grundgedanken des Gesetzes muss indessen - in entsprechender Anwendung - die Rechtsbeschwerde auch in den Fällen zulässig sein, in denen es aus anderen Gründen an dem zumindest stillschweigenden Einverständnis der Beteiligten fehlt. Das ist namentlich der Fall, wenn die Beteiligten über die Absicht des Gerichts, ohne Hauptverhandlung zu entscheiden, und über ihr Widerspruchsrecht nicht unterrichtet worden sind und somit ihr Schweigen nicht als (stillschweigende) Zustimmung zu einem schriftlichen Verfahren ausgelegt werden kann.

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Widerspruch - auch stillschweigend:


OLG Brandenburg v. 20.07.2000:
Erklärt der Betroffene, nachdem ihn das Gericht auf die Möglichkeit einer Entscheidung durch Beschluss hingewiesen hat, dass er sich von seiner Gegenüberstellung mit Polizeibeamten einen Freispruch erhofft, dann ist dies als Widerspruch gegen eine Beschlussentscheidung anzusehen. Eine erteilte Zustimmung zur Entscheidung durch Beschluss wird hinfällig, wenn das Gericht anschließend Ermittlungen anstellt, deren Ergebnis für die Entscheidung erheblich sein kann. Die Verwertung derartiger Ermittlungsergebnisse ohne vorherige Unterrichtung und Anhörung des Betroffenen ist auch wegen des Grundrechts auf rechtliches Gehör verboten.




OLG Schleswig v. 08.10.2002:
Dem ausdrücklichen Widerspruch des Betroffenen gegen das Beschlussverfahren gemäß § 72 Abs. 1 S. 1 OWiG ist der Fall gleichzusetzen, dass der Betroffene sein Einverständnis nur unter einer einschränkenden Bedingung erklärt (hier: Herabsetzung der Geldbuße für eine Verkehrsordnungswidrigkeit auf unter 40 EURO). Die Zulässigkeit einer solchen Bedingung ist für den hier gegebenen Fall, dass es ausschließlich in der Hand des Gerichts liegt, der Bedingung zu entsprechen, anzuerkennen. Beabsichtigt das Gericht das Verfahren mit einem anderen, dem Betroffenen nachteiligeren Ergebnis abzuschließen (hier: Verhängung einer Geldbuße von 40 EURO), wirkt sich das eingeschränkte Einverständnis als Widerspruchserklärung aus, die eine Beschlussentscheidung grundsätzlich sperrt.

OLG Hamm v. 27.11.2003:
Von einem (schlüssig erklärten) Widerspruch i.S. des 72 OWiG ist auszugehen, wenn der Betroffene eine mündliche Verhandlung oder eine Überprüfung des Sachverhalts oder eine (ergänzende) Beweisaufnahme verlangt bzw. erkennbar anstrebt, ebenso, wenn er den im Bußgeldbescheid zugrunde gelegten Sachverhalt bestreitet.

OLG Zweibrücken v. 09.01.2009:
Die fehlerhafte Wahl einer mit geringerem Rechtsschutz verbundenen Entscheidungsform durch das Gericht darf den Betroffenen zur Vermeidung von Willkür nicht an den verkürzten Rechtsweg binden. Vielmehr muss ihm die Rechtsbeschwerde offenstehen, was auch mit den zu den Rechtsmitteln der StPO entwickelten Grundgedanken übereinstimmt, wonach z.B. Berufung und Revision auch dann zulässig sind, wenn ein gerichtlicher Ausspruch, der als rechtsmittelfähiges Urteil hätte ergehen müssen, als Beschluss ausgesprochen wird. Ohne förmlichen Hinweis an den Betroffenen auf die Möglichkeit eines Widerspruchs darf das Gericht nicht im Beschlusswege entscheiden.

OLG Karlsruhe v. 04.12.2012:
Eine Entscheidung des Amtsgerichts über die Festsetzung einer Geldbuße im schriftlichen Verfahren nach § 72 OWiG ist ausgeschlossen, wenn das an eine zulässige Bedingung geknüpfte Einverständnis des Betroffenen als Widerspruch gegen eine von der Bedingung abweichende Beschlussentscheidung zu werten ist.


OLG Hamm v. 21.05.2013:
Stimmt der Betroffene dem Beschlussverfahren nach § 72 OWiG nur unter der Bedingung zu, dass eine Verurteilung nur wegen fahrlässiger Begehung erfolgt und nur eine bestimmte Rechtsfolge verhängt wird, so ist das Gericht gehindert, im Beschlusswege zu entscheiden, wenn es wegen einer Vorsatztat verurteilen will. Dies gilt grundsätzlich auch dann, wenn es im Übrigen die von dem Betroffenen "akzeptierte" Rechtsfolge verhängen will.

OLG Köln v. 15.08.2013:
Wenn der Betroffene einer Verkehrsordnungswidrigkeit bereits im Einspruchsschreiben gegenüber der Verwaltungsbehörde dem Beschlussverfahren nach § 72 OWiG widersprochen hat, ist dem Bußgeldrichter der Weg in das schriftliche Verfahren versperrt. Die Tatsache, dass der Widerspruch nicht gegenüber dem Amtsgericht, sondern gegenüber der Verwaltungsbehörde erklärt wurde, ist unerheblich.

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Rücknahme des Widerspruchs:


OLG Hamm v. 10.06.2013:
Ein bereits vor dem Hinweis nach § 72 Abs. 1 OWiG ausdrücklich oder schlüssig erklärter Widerspruch gegen eine Entscheidung ohne Hauptverhandlung wird nicht dadurch gegenstandslos, dass der Betroffene auf den späteren Hinweis schweigt oder die ausdrückliche Anfrage des Richters, ob dem schriftlichen Verfahren widersprochen werde, unbeantwortet lässt.

OLG Bamberg v. 03.09.2015:
In der "Anregung" eines verteidigten Betroffenen, "aus prozessökonomischen Gründen" im schriftlichen Verfahren "mit der Maßgabe zu entscheiden", dass die im Bußgeldbescheid festgesetzte Geldbuße auf den Regelsatz herabgesetzt wird, kann im Einzelfall die konkludente Rücknahme des gegen eine Entscheidung im Beschlussverfahren anfänglich erhobenen Widerspruchs liegen, sofern mit der "Anregung" lediglich das Einspruchsziel verdeutlicht werden sollte, ohne dieses zugleich zur Bedingung für das angeregte Verfahren zu machen.

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Geltungsdauer der Zustimmung:


OLG Brandenburg v. 01.04.2016:
Die Zustimmung zu einer Entscheidung nach § 72 OWiG unter einer bestimmten Bedingung gilt nicht mehr, wenn sich im Weiteren Verfahren neue tatsächliche oder rechtliche Gesichtspunkte ergeben, deren Berücksichtigung bei einer Entscheidung nach Lage der Akten von dem Verzicht auf den Widerspruch nicht mehr gedeckt ist.

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Geltungsdauer des Widerspruchs:


OLG Hamm v. 27.10.2011:
Ein bereits vor dem Hinweis nach § 72 Abs. 1 OWiG ausdrücklich oder schlüssig erklärter Widerspruch gegen eine Entscheidung ohne Hauptverhandlung wird nicht dadurch gegenstandslos, dass der Betroffene auf den späteren Hinweis schweigt oder die ausdrückliche Anfrage des Richters, ob dem schriftlichen Verfahren widersprochen werde, unbeantwortet lässt. In einem solchen Fall liegen die Voraussetzungen für eine Entscheidung im Beschlussverfahren nicht vor.

BayObLG v. 10.11.2020:

  1.  Ein bereits vor dem Hinweis nach § 72 Abs. 1 Satz 2 OWiG ausdrücklich oder schlüssig erklärter Widerspruch gegen eine Entscheidung ohne Hauptverhandlung wird nicht dadurch gegenstandslos, dass der Betroffene auf den späteren Hinweis schweigt oder die ausdrückliche Anfrage des Gerichts, ob dem schriftlichen Verfahren widersprochen werde, unbeantwortet lässt (u.a. Anschl. an OLG Bremen Beschluss vom 04.09.2014 - 1 SsBs 42/14 = BeckRS 2014, 23000; OLG Hamm, Beschluss vom 10.06.2013 - 1 RBs 57/13 = ZfSch 2013, 653; OLG Schleswig, Beschluss vom 09.02.2004 - 1 Ss OWi 26/04 = NJW 2004, 3133 = StraFo 2004, 390 = NZV 2005, 110 = NStZ 2004, 701; OLG Jena, Beschluss vom 20.01.2006 - 1 Ss 298/05 = VRS 111, 143; OLG Zweibrücken, Beschluss vom 06.03.1989 - 1 Ss 42/89 = VRS 76 [1989], 449 = MDR 1989, 936 = ZfSch 1990, 324 sowie BayObLG, Beschluss vom 27.07.1994 - 2 ObOWi 351/94 = BayObLGSt 1994, 128 = NZV 1994, 492 = VRS 88 [1995], 61). Insbesondere kann der Widerspruch auch bereits gegenüber der Verwaltungsbehörde - etwa mit dem Einspruch gegen den Bußgeldbescheid - wirksam erklärt werden.

  2.  An der Unzulässigkeit der Entscheidung im Beschlusswege ändert sich bei bereits erklärtem Widerspruch nichts, wenn das Einverständnis erst zu einem Zeitpunkt erklärt wird, zu dem der Beschluss bereits erlassen worden war.

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Überprüfungsumfang in der Rechtsbeschwerde:


OLG Celle v. 08.11.2018:
Wenn das Amtsgericht durch Beschluss nach § 72 OWiG entschieden hat, steht dem Senat in der Rechtsbeschwerde-Instanz bei der er Überprüfung auf die Sachrüge der gesamte Akteninhalt offen. Der Grundsatz, dass das Rechtsbeschwerdegericht an die im Urteil getroffenen Feststellungen zur Schuld- und Rechtsfolgenfrage gebunden ist, gilt im Beschlussverfahren nicht (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 5. Januar 2016 - III-4 RBs 320/15 - juris; OLG Frankfurt a.M., Beschluss vom 13. November 2001 - 2 Ss OWi 51/02 -, NStZ-RR 2002, 219; KK/OWiG-Senge, 5. Aufl., § 72 Rn. 58 und Rn. 76).

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Beschluss ohne Begründung:


OLG Brandenburg v. 17.03.2020:
Das Fehlen von Gründen in einem Strafurteil zwingt in der Regel schon zur Urteilsaufhebung auf die Sachrüge hin (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 62. Aufl., § 338 Rn. 52 m. w. N.). Auch ein Bußgeldurteil ist beim unzulässigen Fehlen von Urteilsgründen in der Regel schon auf die zulässig erhobene Sachrüge hin aufzuheben, weil dem Rechtsbeschwerdegericht in diesem Fall eine Nachprüfung auf sachlich-rechtliche Fehler nicht möglich ist (vgl. OLG Saarbrücken aaO. m.w.N.; OLG Celle NZV 2012, 45 ff.; OLG Bamberg, Beschluss vom 10.11.2011 - 3 Ss OWi 1444/11) . Ebenso unterliegt ein nach § 72 OWiG ergangener Beschluss beim Fehlen einer Begründung auf eine zulässig erhobene Sachrüge hin der Aufhebung im Rechtsbeschwerdeverfahren, wenn die Voraussetzungen für das Absehen von einer Begründung nach § 72 Abs. 6 Satz 1 OWiG nicht vorlagen, etwa weil - wie hier - nicht alle Verfahrensbeteiligten hierauf verzichtet haben.

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