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OLG Koblenz Urteil vom 04.10.2005 - 12 U 1236/04 - Zum Unabwendarkeitsbeweis und zum Maßstab des sog. Idealfahrers

OLG Koblenz v. 04.10.2005: Zum Begriff der Unabwendbarkeit und zu dessen Anwendung beim Kurvenschneiden




Das OLG Koblenz (Urteil vom 04.10.2005 - 12 U 1236/04) hat zum Unabwendbarkeitsbegriff und zur Kollision mit dem Gegenverkehr an einer Kurve entschieden:

   Die Prüfung der Unabwendbarkeit darf sich nicht auf die Frage beschränken, ob der Fahrer in der konkreten Gefahrensituation wie ein "Idealfahrer" reagiert hat, vielmehr ist sie auf die weitere Frage zu erstrecken, ob ein "Idealfahrer" überhaupt in eine solche Gefahrenlage geraten wäre. Eine übermäßige Bremsreaktion gegenüber einem entgegen kommenden Fahrzeug, das in einigem Abstand vor der späteren Unfallstelle eine Kurve geschnitten hatte, bis zur Kollision aber wieder auf seine Fahrspur zurückgekehrt war, steht der Annahme der Unabwendbarkeit des Unfalls entgegen.

Siehe auch
Unabwendbares Ereignis / höhere Gewalt - Gefährdungshaftung
und
Begegnungsunfall - Annäherung an Engstellen mit Gegenverkehr

Zum Sachverhalt:


Die Parteien streiten um Schadensersatzansprüche aus einem Verkehrsunfall, der sich am 6. November 2001 gegen 11.40 Uhr auf der B... Straße in S... ereignet hat. Die Ehefrau des Klägers fuhr mit dessen Pkw Ford Sierra CLX auf dem Weg zum Einkaufen nach der Arbeit in einer Rechtskurve auf der insgesamt 6,10 m breiten Straße, als der vom Erstbeklagten geführte Tanklastzug mit Mercedes Benz Actros Zugmaschine und Sattelauflieger, der bei der Zweitbeklagten gegen Haftpflicht versichert ist, in der Kurvenlage entgegenkam. Der Pkw kollidierte nach einem Bremsmanöver seitlich mit dem Tanklastzug und wurde schwer beschädigt.

Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Die dagegen gerichtete Berufung des Klägers hatte teilweise Erfolg.




Aus den Entscheidungsgründen:


"... Die Annahme des Vorliegens eines unabwendbaren Ereignisses im angefochtenen Urteil unterliegt durchgreifenden Bedenken. Es ist auch ein unfallursächliches Verschulden des Erstbeklagten in der Form des Schneidens der Kurve anzunehmen (§ 2 Abs. 2 StVO). Der Erstbeklagte hat dadurch, dass er vor der Kollisionsposition die Fahrbahnmitte überschritten hat, zu einer Fehlreaktion der Ehefrau des Klägers beigetragen. Jedoch überwiegt das Verschulden der Ehefrau des Klägers, die ihrerseits nicht äußerst rechts gefahren ist und bei objektiv bestehender Möglichkeit des gefahrlosen Passierens des Lkws eine überzogene Abwehrbremsung durchgeführt hat, welche dann letztlich zur Streifkollision im Bereich der Fahrbahnmitte geführt hat. Das rechtfertigt auch mit Blick auf die Betriebsgefahr des Tanklastzuges die Annahme einer Haftungsverteilung von 30 : 70 zu Lasten des Klägers, aber nicht seine vollständige Abweisung mit der Klage. ...

Es ist nach den Gutachten, die im Parallelprozess, im Strafverfahren und in der vorliegenden Sache eingeholt worden sind, davon auszugehen, dass der Tanklastzug in räumlicher Nähe zur Kollisionsstelle die Kurve "geschnitten" hat (wird ausgeführt ...).




Der Begriff des unabwendbaren Ereignisses im Sinne von § 7 Abs. 2 StVG verlangt eine sich am Schutzzweck der Gefährdungshaftung für den Kraftfahrzeugbetrieb ausrichtende Wertung (vgl. BGHZ 105, 65, 69; 117, 337, 341). Diese Wertung hat unter Berücksichtigung der konkreten Verkehrsumstände zu erfolgen. Dabei darf sich die Prüfung nicht auf die Frage beschränken, ob der Fahrer in der konkreten Gefahrensituation wie ein "Idealfahrer" reagiert hat, vielmehr ist sie auf die weitere Frage zu erstrecken, ob ein "Idealfahrer" überhaupt in eine solche Gefahrenlage geraten wäre. Der sich aus einer abwendbaren Gefahrenlage entwickelnde Unfall wird nicht dadurch unabwendbar, dass sich der Fahrer in der Gefahr nunmehr - zu spät - "ideal" verhält (BGHZ 117, 337, 341). Hatte der Erstbeklagte vor der Unfallstelle die Kurve geschnitten und dadurch die - wenngleich überzogene - Bremsreaktion der Ehefrau des Klägers ausgelöst, dann war er in der eigentlichen Kollisionslage nicht mehr in der Situation des "Idealfahrers", mag er auch dann wieder ganz auf seiner Fahrspur gefahren sein. Auf die zweifelhaften Angaben des Erstbeklagten zum Ausweichen gegenüber geparkten Fahrzeugen (Bl. 188 GA; Bl. 15 der Strafakte 3829 Js 488/02) kommt es nicht an. Jedenfalls hat der Erstbeklagte mit einer Inanspruchnahme der Gegenfahrspur die Abwehrbremsung der Ehefrau des Klägers, die zum Wegfall der Steuerungsfähigkeit geführt hat, mit verursacht. Da eine verkehrstechnische Notwendigkeit dafür nicht bestand, ist auch von einer schuldhaften Verletzung einer Verkehrspflicht auszugehen.

Auf die Fahrgeschwindigkeit des Lkws kommt es hier haftungsrechtlich im Ergebnis nicht an. Die Fahrgeschwindigkeit war - unbeschadet der Frage, ob der Erstbeklagte noch auf "halbe Sicht" anhalten konnte (s. dazu der Sachverständige Hennemann in Bl. 159, 162 GA) - für den Unfall nicht kausal. Es lag auch allenfalls eine marginale Überschreitung der Grenze zum Anhalten auf halbe Sicht vor, die sich mit Blick auf den Ablauf und die Reaktionszeit nicht ausgewirkt hat.



Die Ehefrau des Klägers hat den Unfall allerdings mitverschuldet, weil sie ihrerseits nicht weit genug rechts gefahren ist und eine überzogene Bremsreaktion beim Anblick des Tanklastzuges durchgeführt hat. Ihr Fahrzeug befand sich 1,1 bis 2 m vom rechten Fahrbahnrand (Bl. 136 f. GA). Der Durchlass war auch beim Kurvenschneiden des Lkws auf der 6,10 m breiten Straße mit 2,5 m und mehr noch groß genug, um gefahrlos vorbei zu fahren (so der Sachverständige Dipl. Ing. B... in Bl. 140 a.E. GA). Erklärlich wird die überzogene Reaktion der Ehefrau des Klägers auch aus dem Umstand, dass es sich um eine junge Frau mit wenig Fahrerfahrung gehandelt hat, die zudem aufgrund ihrer Kriegserlebnisse im Kosovo "etwas ängstlich und vorsichtig" ist (Bl. 192 GA). Sie hat sich daher schon beim Anblick des Tanklastzuges in der innerörtlichen Lage "heftig erschrocken" (vgl. Bl. 44 der Strafakte 3829 Js 488/02).

Wägt man alle Umstände ab, dann gelangt man dazu, dass der Erstbeklagte mit geringfügigem Kurvenschneiden auf breiter Straße den Unfall verursacht und verschuldet hat, wobei ihn aber wegen der geringen Kursabweichung und der verbleibenden Möglichkeit für den Gegenverkehr, gefahrlos vorbeizufahren, nur ein geringer Vorwurf trifft: Ins Gewicht fällt andererseits die höhere Betriebsgefahr des Lkws. Die Ehefrau des Klägers hat den Unfall durch ihren Fahrfehler in Form einer objektiv unnötigen und überzogenen Bremsreaktion und die partielle Nichtbeachtung des Rechtsfahrgebots gemäß § 2 Abs. 2 StVO in größerem Umfang mitverschuldet. Danach erscheint eine Haftungsverteilung von 30 : 70 angemessen. ..."

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