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Landgericht München Urteil vom 15.05.2006 - 17 S 8044/05 - Zum Anscheinsbeweis für Eigenverschulden bei einem Fahrgaststurz

LG München v. 15.05.2006: Zum Anscheinsbeweis für Eigenverschulden bei einem Fahrgaststurz


Das Landgericht München (Urteil vom 15.05.2006 - 17 S 8044/05) hat entschieden:
Wenn ein Fahrgast bei einer Betriebsbremsung der Straßenbahn vom Sitz rutscht, spricht der Beweis des ersten Anscheins für ein „Verschulden gegen sich selbst”.


Siehe auch Fahrgaststurz in Verkehrsmitteln infolge Bremsens - Verletzung der Eigensicherung und der Anschnallpflicht


Zum Sachverhalt: Die Kl. begehrt von den Bekl. Zahlung von Schmerzensgeld, da sie als Fahrgast der Straßenbahn bei einer Bremsung zu Fall kam und sich erheblich verletzte. Die Kl. fuhr am 5. 8. 2003 zwischen 17.15 Uhr und 17.30 Uhr in M mit der Straßenbahn in Richtung B-straße. Die Kl. befand sich im zweiten Wagen der Straßenbahnlinie. Sie saß auf der linken Seite in Fahrtrichtung in der zweiten Reihe nach einem Einsitzer. Diese zweite Reihe bestand aus zwei Sitzen. Den linken Sitz nahm der Enkel der Kl. ein, während die Kl. selbst auf dem rechten Sitz saß. Die Kl. hielt sich nicht an den Haltegriffen fest, nachdem sie auf dem Sitz Platz genommen hatte. Unmittelbar vor der Haltestelle B-straße bremste der Bekl. zu 2) ab. Die Kl. rutschte von ihrem Sitz und fiel dabei auf die rechte Hüfte. Hierbei erlitt sie eine Schenkelhalsfraktur. Die Kl. war zwei Tage lang im Krankenhaus. In der Folgezeit musste sie 6 Wochen lang im Rollstuhl sitzen und war in dieser Zeit auf fremde Hilfe angewiesen.

Die Kl. behauptet, dass der Bekl. zu 2) die Straßenbahn in extremer Weise abgebremst habe. Er habe eine Vollbremsung durchgeführt mit der Folge, dass die Kl. drei bis vier Meter durch den Wagen geschleudert worden sei. Die Bekl. zu 1) behauptet, dass der Bekl. zu 2) wegen eines anderen Verkehrsteilnehmers hätte abbremsen müssen. Ein entgegenkommender Verkehrsteilnehmer sei mit seinem Pkw nach links vor der Straßenbahn abgebogen.

Die Bekl. zu 1) ist der Meinung, dass ein den Klageanspruch ausschießendes Mitverschulden der Kl. vorliege, da sie sich nicht festgehalten habe an den Griffen. Im übrigen sei durch die Tatsache, dass die Kl. zum Sturz gekommen sei, der Anscheinsbeweis dafür geführt, dass sie sich nicht ordnungsgemäß festgehalten habe. Der Bekl. zu 2) trägt vor, dass ein dunkler Kleinwagen ohne zu blinken losgefahren sei und plötzlich nach links in die E-Straße eingebogen wäre, was hier verboten sei. Er habe keine unsachgemäße Vollbremsung vorgenommen. Es habe sich vielmehr um eine normale Betriebsbremsung ohne Stillstand der Tram gehandelt.

Das AG hat die Klage gegen den Bekl. zu 2) abgewiesen und der Kl. gegen die Bekl. zu 1) ein Schmerzensgeld zugesprochen.

Die Berufung der Bekl. zu 1) führte zur vollständigen Klageabweisung.


Aus den Entscheidungsgründen:

"... Die Kl. hat aus § 1 I HPflG und § 253 BGB keinen Schmerzensgeldanspruch. 1) Zu Recht hat das AG in seinen Entscheidungsgründen ausgeführt, dass die Bekl. nicht aus Verschuldenshaftung gemäß § 823 BGB haftet sowie, dass der Tatbestand des § 1 I HPflG erfüllt ist, wonach es für eine Ersatzpflicht des Bahnbetreibers grundsätzlich ausreicht, dass der Unfall eines Fahrgastes beim Betrieb der Straßenbahn erfolgt. Die insoweit beweispflichtige Beklagtenpartei hat sich auch nicht nach § 1 II HPflG entlasten können.

2) Die Kl. trifft jedoch ein eigenes Verschulden („Verschulden gegen sich selbst") an dem Zustandekommen ihres unstreitigen Sturzes anlässlich der Bremsung der Straßenbahn. Die Kl. hat nämlich die zu ihrem eigenen Schutz erforderlichen und durch § 4 III S. 5 ABB sowie § 2 III der auch für den Straßenbahnbetrieb gültigen MVV - Beförderungsbedingungen vorgeschriebenen Verhaltensweisen für Straßenbahnfahrgäste nicht beachtet.

a) Die Kl. ist bei dem Bremsmanöver der Straßenbahn vom Sitz gefallen, obwohl es sich nicht um eine Notbremsung und auch keine starke Bremsung bis zum Stillstand der Straßenbahn gehandelt hat.

aa) Der Straßenbahnfahrer hat lediglich eine Betriebsbremsung, aber keine Gefahrenbremsung, durchgeführt. Eine Gefahrenbremsung setzt erst dann ein, wenn der Fahr- und Bremshebel des Straßenbahnfahrers über die letzte Rasterung der Betriebsbremse hinaus nach hinten gezogen wird. Hierbei werden dann Verzögerungswerte erreicht, bei denen eine Gefährdung von Fahrgästen stattfinden kann. Der Straßenbahnfahrer hat als Zeuge überzeugend dargelegt, dass er lediglich die Betriebsbremse, aber nicht die Gefahrenbremse eingesetzt hat. Dies wird auch dadurch bestätigt, dass unstreitig nicht die Rasselglocke ausgelöst worden war. Diese hätte aber bei Betätigung der Gefahrenbremsung technisch bedingt notwendig ausgelöst werden müssen.

bb) Die Kl. ist vom Sitz gefallen, obwohl der Straßenbahnfahrer, wie unstreitig und durch den Zeugen anschaulich geschildert, die Straßenbahn nicht bis zum Stillstand abgebremst hatte. Der Zeuge hat überzeugend darlegt, dass er lediglich bis auf eine Geschwindigkeit von 5 bis 10 km/h abgebremst hat und dass er nicht gesandet hat. Technisch bedingt wirkt sich eine stärkere Bremsverzögerung auf die Fahrgäste einer Straßenbahn jedoch erst im untersten Geschwindigkeitsbereich, also kurz vor dem Fahrzeugstillstand, stärker aus.

cc) Die KI. ist vom Sitz gefallen, obwohl in der unstreitig zur Unfallzeit (zwischen 17:15 und 17:30 Uhr) gut besetzten Straßenbahn bei deren Bremsmanöver unstreitig kein anderer Fahrgast (ob sitzend oder stehend) hingefallen oder anderweitig zu Schaden gekommen war.

b) Wenn bei einer Betriebsbremsung ein Fahrgast vom Sitz fällt, fällt ihm ein „Verschulden gegen sich selbst” i. S. der §§ 823 und 254 BGB zur Last.

Es besteht insoweit bereits ein „Beweis des ersten Anscheins” (prima-facie-Beweis) für ein schuldhaftes, nämlich fahrlässiges Verhalten der Kl. (vgl. Geigel, Der Haftpflichtprozess, 24. Aufl., 22. Kapitel Rdnr. 45 m. w. Nachw.). Diesen Anscheinsbeweis hat die nicht nur für ihre Klageforderung als solche, sondern auch für die Widerlegung des Anscheinsbeweises beweisbelastete Klagepartei nicht widerlegen können. Es steht vielmehr zu Lasten der Kl. unstreitig fest, dass sie keinen der beiden ausweislich der den Akten einliegenden Lichtbilder eigens für ihren Sitzplatz zusätzlich angebrachten Haltegriffe benutzt hat.

Wenn die Kl. schon auf einem der nach vorne offenen Sitze Platz nimmt und wenn sie schon keine normale abstützende Beinposition einnimmt, die regelmäßig bei Straßenbahnbetriebsbremsungen ein Herunterfallen vom Sitz verhindert bzw. wenn auf Grund ihrer körperlichen Verfassung ein Abstützen der Beine auf dem Boden nicht ausreichend gewesen wäre, war es fahrlässig, dass sie sich nicht zumindest an einem der beiden gut erreichbaren und bequemen Haltegriffe eingehalten hat. Es hätten bei einer - auch starken - Betriebsbremsung schon relativ geringe Rückhaltekräfte genügt, um nicht aus dem Sitz zu fallen.

3) Bei der gemäß § 1 und § 4 HPflG i.V. mit § 254 BGB durchzuführenden Abwägung des Eigenverschuldens der Kl. zu der verschuldensunabhängigen Betriebsgefahr der Straßenbahn ergibt sich, dass die Betriebsgefahr nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (§ 242 BGB analog) gegenüber der überdurchschnittlich hohen Fahrlässigkeit der Kl. zurücktreten muss (vgl. Geigel, Der Haftpflichtprozess, 24. Aufl., Kapitel 2 Rdnr. 53, Kap. 22, Rdnrn. 45/46 und Hentschel, Straßenverkehrsrecht 37. Aufl. § 17 StVG Rdnrn. 16/17). ..."



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