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OLG Hamm Urteil vom 05.04.2005 - 9 U 41/03 - Zu den Sorgfaltspflichen des Fahrlehrers und zum möglichen Mitverschulden des Fahrschülers

OLG Hamm v. 05.04.2005: Zu den Sorgfaltspflichen des Fahrlehrers und zum möglichen Mitverschulden des Fahrschülers


Das OLG Hamm (Urteil vom 05.04.2005 - 9 U 41/03) hat entschieden:
Stürzt eine Motorradfahrschülerin bei Bremsübungen aus 50 km/h, kann für den Schaden der Fahrlehrer verantwortlich gemacht werden, wenn die Fahrschülerin nicht mit geeignetem Schulungsfahrzeug (ABS-System, Stützräder, funkgesteuertes Ventil zur Vermeidung einer Vollbremsung) oder durch allmähliches geduldiges Üben an eine ausreichende Bremsverzögerung herangeführt worden ist. Die Fahrschülerin muss sich ein Mitverschulden anspruchsmindernd entgegen halten lassen, wenn sie sich auf riskante Bremsübungen trotz unsicheren Fahrgefühls und Kenntnis der theoretisch vermittelten Sturzgefahr einlässt.


Siehe auch Fahrschule / Fahrlehrer / Fahrschüler und Sturz eines Zweiradfahrers ohne Kollisionsberührung


Zum Sachverhalt:

Der frühere Beklagte F war Betreiber einer Fahrschule. Die damals 26jährige Klägerin nahm bei ihm im Frühjahr 2001 Unterricht zur Erlangung einer Fahrerlaubnis für Motorräder. Am 22. Mai 2001 kam sie bei der Übung von Notbremsungen mit dem Motorrad zu Fall und erlitt eine Tibiakopffraktur. Zu diesem Zeitpunkt waren bereits wenigstens sechs Übungsstunden vorausgegangen, während derer die Klägerin sich mit dem Motorrad auch im öffentlichen Straßenverkehr bewegt hatte. Der frühere Beklagte hatte die entsprechenden Hinweise und Aufforderungen per Funk erteilt und die Klägerin angewiesen, das Fahrzeug bis auf eine Geschwindigkeit von 50 km/h zu beschleunigen, um es dann abrupt abzubremsen. Diese Übung wurde aus geringeren Geschwindigkeiten mehrfach erfolgreich wiederholt, bis die Klägerin nach einer erneuten Anweisung, das Motorrad noch energischer als zuvor und unter Einsatz der Vorderradbremse abzubremsen, mit dem Fahrzeug zu Fall kam. Die Parteien streiten über die Verantwortlichkeit für den Unfall.

Die Klägerin behauptet, der Unfall sei darauf zurückzuführen, dass der frühere Beklagte sie mit seinen Anweisungen erkennbar überfordert habe. Sie habe sich unsicher gefühlt, was er habe erkennen können und müssen. Die Notbremsungen hätten auch nicht ihrem Ausbildungsstand entsprochen. Mit der Klage hat sie ein angemessenes Schmerzensgeld in der Größenordnung von mindestens 4.000,00 Euro, Ersatz eines mit 969,56 EUR bezifferten materiellen Schadens sowie die Feststellung einer Haftung des früheren Beklagten für sämtliche weiteren materiellen und künftigen immateriellen Schäden begehrt. Der frühere Beklagte ist diesem Begehren entgegengetreten und hat bestritten, die Klägerin bei der Ausbildung überfordert zu haben.

Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Die Berufung der Klägerin hatte teilweise Erfolg.


Aus den Entscheidungsgründen:

"... 1. Den früheren Beklagten F trifft an dem Sturz der Klägerin ein Verschulden.

a) Ziel und Umfang der Fahrschülerausbildung sind in der Fahrschul-Ausbildungsordnung vom 31.05.1976, i.d.F. der VO vom 18.08.1998 (BGBl. I S. 2335 (FahrschAusbO) sowie den Anlagen zu dieser Verordnung grundsätzlich festgelegt. Nach § 5 Abs. 1 S. 1 bis 4 FahrschAusbO ist der praktische Unterricht auf die theoretische Ausbildung zu beziehen und systematisch aufzubauen. Er besteht aus einer Grundausbildung sowie besonderen Ausbildungsfahrten und hat sich an den in den Anlagen aufgeführten Inhalten zu orientieren. Nach § 5 Abs. 11 ist ein gegliederter Ausbildungsplan aufzustellen, nach dem der Unterricht ausgerichtet sein muss. Welchen Ausbildungsstoff ein solcher Stufenlehrplan für die praktische Ausbildung von Motorradfahrern enthalten muss, lässt sich den Anlagen 3 und 4 entnehmen. Die genaue zeitliche Reihenfolge fachgerechter praktischer Übungen ist in der FahrschAusbO und ihren Anlagen nicht geregelt, jedoch in dem von der Studienstelle der Bundesvereinigung der Fahrlehrerverbände e.V. herausgegebenen Curricularen Leitfaden (3. Aufl. 2000) ausgeführt. Danach gliedert sich die praktische Ausbildung in eine Grundstufe (z.B. mit Balance-Übungen, Anfahr- und Anhalteübungen sowie Vorübungen zum Kreisfahren), eine Aufbaustufe (z.B. Vergleichsbremsungen aus 30 km/h, Beschleunigen, Schalten, Bremsen u.a. aus 50 km/h , Ausweichen, Steigung und Gefälle), eine Leistungsstufe (z.B. An- und Einfahren, Fahrstreifenwechsel, Einordnen und Abbiegen) und eine Stufe der Sonderfahrten (z.B. Autobahnfahrten).

Nach gefestigter Rechtsprechung hat der Fahrlehrer im Rahmen der ihm obliegenden fach- und sachgerechten Ausbildung seiner Fahrschüler dafür zu sorgen, dass diesen keine Aufgaben gestellt werden, die sie nicht oder noch nicht bewältigen können, weil sie ihrem Ausbildungsstand und ihren Fähigkeiten noch nicht entsprechen (Senat NJW-RR 2004, 1096 = NZV 2004, 403 m.w.N.). An die Erfüllung dieser Pflicht ist insbesondere bei der Ausbildung von Zweiradfahrern wegen der erhöhten Sturzgefahr einspuriger Fahrzeuge und der begrenzten Möglichkeit der Fahrlehrer, in Gefahrsituationen in das Fahrgeschehen einzugreifen, ein strenger Maßstab anzulegen.

b) Bei Anwendung dieser Grundsätze auf den Streitfall hat der frühere Beklagte F insoweit gegen die ihm obliegende Ausbildungspflicht verstoßen, als er trotz des von ihm selbst erkannten Problems der Klägerin mit der Vorderradbremse des Motorrades die Bremsübung nicht aus einer geringeren Geschwindigkeit als 50 km/h hatte wiederholen lassen, um ihr eine allmähliche Gewöhnung an den Bremsvorgang zu ermöglichen und dessen problemlose Beherrschung sicherzustellen. Der vom Senat hinzugezogene kraftfahrzeugtechnische Sachverständige Prof. S hat hierzu ausgeführt, bei Bremsversuchen mit einem Zweirad gebe es außer der Verwendung besonders hergerichteter Schulungsfahrzeuge (ABS-System, Stützräder, funkgesteuertes Ventil zur Vermeidung einer Vollbremsung) nur die Möglichkeit, dass der Schüler an die Bremsung geduldig herangeführt werde. Vor dieser Übung hätte der frühere Beklagte F sich sicher sein müssen, dass die Fahrschülerin nicht stürzen werde. Ein vorheriges zweimaliges Bremsen habe nicht ausgereicht, um ein Bremsmanöver aus höherer Geschwindigkeit riskieren zu können. Auch durch das Üben von Ausgleichsbremsungen habe die Fahrschülerin keine Erfahrung für eine Vollbremsung sammeln können. Dieses Versäumnis einer vorsichtigeren Steigerung des Schwierigkeitsgrades der Bremsübungen begründet wegen der Gefahr schwerer Verletzungen den gegen den früheren Beklagten F gerichteten Schuldvorwurf.

2. Die Klägerin hat ihren Motorradunfall mitverschuldet. Da ihr die Gefährlichkeit des Bremsvorganges zuvor theoretisch vermittelt worden war und sie sich bei der Betätigung der Vorderradbremse unsicher fühlte, hätte sie eine Bremsung aus 50 km/h ohne vorherige weitere Bremsübungen aus geringeren Geschwindigkeiten von sich aus verweigern müssen. Von ihr als erwachsener Frau hätte erwartet werden können, dass sie ihre Sicherheitsbelange eigenverantwortlich entschiedener wahrnahm, da sie am ehesten in der Lage war, aus ihrem Gefühl heraus zu beurteilen, ob das Bremsmanöver für sie riskant war oder nicht. Sie hätte die ihr gefährlich erscheinende Übung, die sie aus eigener Entscheidung durchführte, jederzeit abbrechen können. Da sie mithin ohne Not ein Unfallrisiko auf sich genommen hat, muss sie für dessen Realisierung im Ergebnis miteinstehen. Bei der gemäß § 254 Abs. 1 BGB vorzunehmenden Abwägung der beiderseitigen Verursachungs- und Verschuldensbeiträge wiegen die Anteile beider Parteien gleich schwer, so dass nach der Beurteilung des Senats eine Schadenteilung sachgerecht erscheint. ..."



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