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OLG Jena Urteil v. 13.07.1999 - 8 U 1164/98 - Fahrlehrer muss die Fähigkeiten und Kenntnisse des Fahrschülers überprüfen - Haftung

OLG Jena v. 13.07.1999: Zur Überprüfungspflicht der Fähigkeiten des Fahrschülers durch den Fahrlehrer


Das OLG Jena (Urteil vom 13.07.1999 - 8 U 1164/98) hat entschieden:
Auch wenn ein Fahrschüler behauptet, bereits einige Übung mit einem Leichtkraftrad zu haben, muss sich der Fahrlehrer selbst ein Bild von dessen Fähigkeiten machen und darf die ersten Fahrübungen nur in einem sog. "Schonraum" durchführen. Verstößt er hiergegen und kommt es beim gleichzeitigen Abbremsen und Durchfahren einer Kurve zu einem Sturz des Fahrschülers, dann haftet der Fahrlehrer für den gesamten materiellen und immateriellen Schaden des Fahrschülers.


Siehe auch Fahrschule / Fahrlehrer / Fahrschüler


Zum Sachverhalt: Die Klägerin - Fahrschülerin - machte gegen den Bekl. - Fahrlehrer - Schadensersatzansprüche aus einem Verkehrsunfall vom 24.06.1996 geltend.

Am 24.06.1996 kam es zu einer ersten Ausbildungsfahrt auf einem Leichtkraftrad der Marke Simson S/83, Radklasse 1 b. Nach einer kurzen Einweisung durch den Beklagten zu 2) fuhr die Klägerin mit dem Ausbildungsfahrzeug in Richtung Bad Colberg. Der Beklagte zu 2) folgte der Klägerin. Am Ortseingang von Bad Colberg verlor die Klägerin die Beherrschung über das Krad und kollidierte mit einem Brückengeländer. Die Kl. wurde verletzt.

Die Klägerin hat vorgetragen, der Beklagte zu 2) habe als Fahrlehrer seine Sorgfaltspflichten dadurch verletzt, dass er die Klägerin trotz unzureichender praktischer Schulung und ohne vorherige Prüfung ihres fahrerischen Könnens sogleich auf öffentlichen Straßen habe fahren lassen. Der Beklagte zu 2) habe der Klägerin lediglich etwa 5 Minuten erklärt, wo sich die Bedieninstrumente befänden und sie sodann erstmalig auf das Krad gesetzt. Zudem sei die zu befahrende Strecke ungeeignet gewesen, da im Bereich des Ortseingangs von Bad Colberg enorme Straßenunebenheiten herrschten, die für einen Fahrschüler kaum zu beherrschen seien. Die Beklagten haben vorgetragen, die Klägerin habe bereits vor der Übungsfahrt gegenüber dem Beklagten zu 2) geäußert, dass sie sich eine Maschine der Klasse 1 a gekauft und hierauf schon mehrfach geübt habe. Vor der Übungsfahrt habe sich der Beklagte zu 2) im Rahmen einer 15-minütigen Einweisung davon überzeugt, dass die Klägerin in der Lage gewesen sei, das Krad sicher zu führen. Der Beklagte zu 2) habe keinerlei Anhaltspunkte dafür gehabt, dass die Klägerin mit der Ausbildungsfahrt überfordert gewesen wäre.

Das Landgericht hat nach Durchführung einer Beweisaufnahme die Klage abgewiesen und zur Begründung ausgeführt, die Klägerin habe keine Ansprüche aus pVV des Ausbildungsvertrages und aus Delikt, da eine Sorgfaltspflichtverletzung des Beklagten zu 2) nicht erkennbar sei. Insbesondere habe die Klägerin nicht nachweisen können, dass der Beklagte zu 2) sie unzureichend geschult habe.

Hiergegen richtete sich die Berufung der Klägerin, die auch erfolgreich war.


Aus den Entscheidungsgründen:

"... Der Beklagte zu 2) haftet der Klägerin aus §§ 823 Abs. 1, 847 BGB dem Grunde nach auf vollen Ersatz ihrer materiellen und immateriellen Schäden, weil diese auf einer fahrlässigen groben Verletzung seiner Ausbildungspflichten als Fahrlehrer beruhen.

Der Beklagte zu 2) hat nämlich gegen die elementaren Regeln einer sach- und fachgerechten Ausbildung verstoßen, indem er wider den Grundlagen der Fahrschüler-Ausbildungsverordnung und den daraus abzuleitenden Grundsätzen für einen ordnungsgemäßen Stufenlehrplan die Klägerin bereits in ihrer ersten praktischen Fahrstunde überforderte.

Dem Landgericht ist insofern nicht beizupflichten, als es vorliegend in dem Verhalten des Beklagten zu 2) keinen Verstoß gegen die Fahrschüler-Ausbildungsverordnung sieht.

Die Fahrschüler-Ausbildungsverordnung sieht bereits in § 1 Abs. 1 als Ziel und Inhalt der Ausbildung die "Hinführung zum sicheren Fahrzeugführer" vor. Darüber hinaus muss die Ausbildung gem. § 1 Abs. 2 Nr. 3 dem Fahrschüler die zur sicheren Führung eines Kraftfahrzeuges im Verkehr erforderlichen Fähigkeiten der praktischen Anwendung vermitteln. Ebenfalls ist § 3 S. 2 der Ausbildungsordnung zu entnehmen, dass der Schüler einer ungeschriebenen Regel entsprechend "vom Bekanntem zu Unbekanntem, von Leichtem zu Schwierigem" geführt werden soll.

Ein praktischer Fahrunterricht im öffentlichen Verkehrsraum setzt daher voraus, dass der Schüler das Zweiradfahrzeug technisch beherrscht (vgl. OLG Hamm, Urteil vom 25.01.1984 in VersR 85, 598).

Wie sich der praktische Unterricht zusammensetzen soll, lässt sich aus § 5 der Verordnung im Zusammenhang mit der in Anlage 2 benannten Sachgebiete entnehmen. Dort ist insbesondere unter Ziffer 18 als zusätzlicher Ausbildungsstoff der Klasse 1a, 1b und 5, die Handhabung des Kraftrades, das Anfahren und Halten, das Fahren eines Kreises, das Abbremsen und unter Ziffer 19 als weiterer zusätzlicher Ausbildungsstoff der Klasse 1 a, Gleichgewichtsübungen bei Schrittgeschwindigkeit und Beschleunigung und Abbremsen benannt.

Aus diesem Anlagenkatalog versteht sich von selbst, dass ein hierauf basierender Stufenlehrplan dem Fahrschüler zunächst die elementaren Begriffe vermitteln muss, bevor er diesen eigenverantwortlich im öffentlichen Verkehrsbereich fahren lässt.

Hinsichtlich der Anforderungen an einen solchen Stufenlehrplan ist auf einen von dem OLG Hamm entschiedenen ähnlich gelagerten Fall (vgl. OLG Hamm, Urteil vom 15.04.1997 in VersR 98, 910 f; Revision durch BGH nicht angenommen) zu verweisen.

Hier wurde durch den Fahrlehrer ein Stufenlehrplan vorgelegt, der zunächst Übungen vorsah, die den Fahrschüler mit der Handhabung seines Kraftrades vertraut machen sollen und bei Erfolg üblicherweise die Erwartung begründen, dass der Fahrschüler dann auch seinen ersten selbständigen Fahrversuch schadlos meistert.

In der Grundstufe soll der Fahrschüler beispielsweise im ersten Lernabschnitt das Kraftrad in Kurven nach rechts und links wie auch rückwärts schieben und rangieren, bevor er im dritten Abschnitt darauf sitzend geschoben werden und das Absteigen mit Aufbocken üben soll. Erst im fünften Lernabschnitt sind Übungen wie "stop and go", Anfahren in einer Steigung, Kreisfahren in Schräglage im ersten und zweiten Gang und Fahren eines Kreises vorgesehen. Weiter sind in dieser Übungsstufe Gleichgewichtsübungen bei Schrittgeschwindigkeit, Wenden und ähnliche Fahrmanöver vorgesehen. Dabei soll der Fahrlehrer den Fahrschüler ständig begleiten und erst dann aus seinem unmittelbaren Eingriffsbereich entlassen, wenn dieser sicher in der Bedienung von Kupplung, Bremse und Gas sowie auf das Fahren von Kurven durch Vorübungen wie Kreisfahren, Wenden oder langsamen Slalom vorbereitet ist (vgl. OLG Hamm a.a.O.).

Diesen Anforderungen an einem von ihn zu berücksichtigenden ordnungsgemäßen Stufenlehrplan hat der Beklagte zu 2) nicht einmal im Ansatz Rechnung getragen. Nach dem zu seinen Gunsten zu unterstellenden Sachvortrag hat er die Klägerin ca. 15 Minuten in der Handhabung eingewiesen und diverse praktische Übungen wie Anfahren, Schalten und Abbremsen ausführen lassen. Gleichgewichtsübungen wie das Kreisfahren, Wenden oder einen langsamen Slalom sind offensichtlich in dieser kurzen Zeit überhaupt nicht, jedenfalls nicht im ausreichendem Maße praktiziert worden.

Aufgrund dieser geringen Vorübungen lag es auf der Hand, dass die vom Beklagten angeordnete Übungsfahrt im öffentlichen Straßenverkehr mit den zusätzlichen Erfordernissen an die Aufmerksamkeit der Klägerin an den Straßenverkehr und die für Zweiradfahrer gehobene Bedeutung der Straßenbeschaffenheit, deren Fähigkeiten überfordert.

Aus diesem Grunde ist es auch in der Regel geboten, vor einer solchen Fahrt zunächst ausreichende Übungen in einem sogenannten "Schonraum" durchzuführen, um den Fahrschüler ausreichend auf die zusätzlichen Anforderungen des öffentlichen Straßenverkehrs vorzubereiten.

Es entlastet den Beklagten zu 2) auch nicht, dass die Klägerin ihm zu Beginn der Ausbildung mitteilte, dass sie bereits ein Kraftrad der Klasse 1 a gekauft und hierauf diverse Übungen getätigt habe. Als Fahrlehrer konnte und durfte der Beklagte zu 2) nicht auf ausreichende Vorkenntnisse bzw. Fähigkeiten der Beklagten zu 2) vertrauen, ohne diese durch die entsprechenden Übungen zu verifizieren. Dies folgt bereits aus der Tatsache, dass dem Fahrschüler in der Regel die notwendige Fähigkeit zur Selbsteinschätzung seiner Leistungsfähigkeit fehlt.

Gerade insoweit war der Beklagte zu 2) daher gehalten, entsprechend der in § 3 Fahrschüler-Ausbildungsverordnung zum Ausdruck kommenden allgemeinen Regel, den Fahrschüler Gelegenheit zu ausreichender Wiederholung des gegebenenfalls bereits Erlernten zu geben.

Bereits der erste Anschein spricht vorliegend dafür, dass der Ausbildungsmangel der Klägerin ursächlich für ihren Sturz gewesen ist. Das gleichzeitige Abbremsen und Durchfahren einer Kurve im öffentlichen Straßenverkehr überforderte offensichtlich ihre Fähigkeiten. Gerade Gleichgewichtsprobleme stellen üblicherweise einen wesentlichen Risikofaktor eines Zweiradanfängers dar. Angesichts der Tatsache, dass die Klägerin selbst nach dem Tatsachenvortrag des Beklagten zu 2) gerade einmal 15 Minuten eingewiesen wurde und Übungen diesbezüglich wohl gänzlich unterblieben, spricht nach der Lebenserfahrung die Vermutung dafür, dass der Ausbildungsmangel für den Unfall der Klägerin in der Kurve ursächlich war.

Ernsthafte Möglichkeiten eines anderweitigen Kausalablaufes haben die Beklagten aber nicht vorgetragen. Letztendlich konnte daher vorliegend auch die Frage offen bleiben, inwiefern der ebenfalls als Pflichtverstoß gegen die Ausbildungsordnung anzusehende Umstand, dass der Beklagte der Klägerin nicht vorausgefahren ist, um diese auf Gefahren hinzuweisen, sich in dem Unfallgeschehen verwirklicht hat.

Anhaltspunkte für eine Mithaftung der Klägerin sind vorliegend nicht gegeben. Aufgrund des grobfahrlässigen Verhaltens des Beklagten zu 2) hat sie daher dem Grunde nach Anspruch auf vollen Ersatz des ihr entstandenen Schadens.

Die Beklagte zu 1) haftet gem. § 3 Nr. 1 PflichtVersG direkt und gesamtschuldnerisch neben dem Beklagten zu 2). ..."



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