Das Verkehrslexikon

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BGH Urteil vom 21.11.2006 - VI ZR 115/05 - Zur Haftungsabwägung beim Fehlen der erforderlichen Fahrerlaubnis

BGH v. 21.11.2006: Zur Haftungsabwägung beim Fehlen der erforderlichen Fahrerlaubnis


Der BGH (Urteil vom 21.11.2006 - VI ZR 115/05) hat entschieden:
Das Fehlen der erforderlichen Fahrerlaubnis wirkt sich bei der Haftungsabwägung nur dann aus, wenn das Fahren ohne Fahrerlaubnis über andere dabei zu berücksichtigende Mitverursachungsbeiträge hinaus ein zusätzliches Gefahrenmoment dargestellt hat, das sich bei dem Unfall ausgewirkt hat.


Siehe auch Haftungsabwägung - Bildung der Mithaftungsquoten gem. § 17 StVG


Zum Sachverhalt: Die am 4. Mai 1993 als nichteheliches Kind geborene Klägerin begehrte nach dem Tod ihres Vaters bei einem Verkehrsunfall am 17. April 1996 von den Beklagten Ersatz entgangenen Unterhalts und Beerdigungskosten.

Der Beklagte zu 2 ist Fahrer und Halter des an dem Unfall beteiligten PKW; die Beklagte zu 1 ist dessen Haftpflichtversicherer.

Der Beklagte zu 2 hat, ohne im Besitz einer Fahrererlaubnis zu sein, den außerorts betrunken auf der rechten Fahrbahnseite liegenden Vater der Klägerin bei einer Geschwindigkeit von 90 km/h unterhalb der Stoßstange am Kopf erfasst. Der Vater der Klägerin verstarb noch an der Unfallstelle. Die Klägerin ist seine Alleinerbin.

Die Klägerin räumt eine Mitverursachung des Unfalls durch ihren Vater ein, die sie mit lediglich 1/4 bewertet.

Das Landgericht hat der Klage auf Ersatz der Beerdigungskosten wegen überwiegender Mitverursachung des Unfalls durch den Vater der Klägerin lediglich zu 1/4 stattgegeben und die Klage auf Ersatz des Unterhaltsschadens abgewiesen. Auf die Berufung der Klägerin hat das Berufungsgericht die Mitverursachung des Unfalls durch den Vater der Klägerin geringer gewertet und einen Ersatzanspruch in Höhe von 2/5 für begründet erachtet; es hat deshalb für die Beerdigungskosten und den Unterhaltsschaden der Klägerin in der Vergangenheit auf einen Zahlungsbetrag in Höhe von 10.784,44 € und auf eine bis zur Volljährigkeit der Klägerin zu zahlende Unterhaltsrente von 104,87 €/Monat erkannt. Im Übrigen ist es bei der Abweisung der Klage geblieben.

Mit der vom erkennenden Senat zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihre Klage in vollem Umfang weiter. Zur Mithaftungsquote blieb die Revision ohne Erfolg.


Aus den Entscheidungsgründen:

"... Das Berufungsgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung im Wesentlichen ausgeführt, der Unfall sei für den Beklagten zu 2 kein unabwendbares Ereignis gewesen. Die Klägerin müsse sich jedoch nach §§ 254 Abs. 1 BGB, § 9 StVG entgegenhalten lassen, dass ihr Vater den Unfall mitverschuldet habe. Bei der erforderlichen Abwägung sei zu Lasten des Beklagten zu 2 zu berücksichtigen, dass dieser statt der von ihm eingeräumten 90 km/h bei Beachtung des Sichtfahrgebots nur 70 km/h hätte fahren dürfen (§ 3 Abs. 1 Satz 4 StVO); dann hätte er den Unfall mit einer Vollbremsung vermeiden können. Zu berücksichtigen sei zu Lasten der Beklagten auch die Betriebsgefahr des PKW. Dagegen sei der Umstand, dass dem Beklagten zu 2 zum Zeitpunkt des Unfalls die Fahrerlaubnis entzogen gewesen sei, bei der Abwägung nicht zu berücksichtigen. Das begründe zwar ein Fehlverhalten des Beklagten zu 2, habe aber den Schaden nicht beeinflusst. Der charakterliche Mangel einer vorsätzlichen Trunkenheit im Verkehr, der zur Entziehung der Fahrerlaubnis geführt habe, habe sich nicht ausgewirkt, denn der Beklagte zu 2 habe im Zeitpunkt des Unfalls keinen Alkohol im Blut aufgewiesen. Die Verletzung des Sichtfahrgebots bei Dunkelheit sei auch bei Inhabern der Fahrerlaubnis häufig zu beobachten; deshalb könne nicht davon ausgegangen werden, dass ein Fahrer mit Fahrerlaubnis die Verkehrslage gemeistert hätte. Die Klägerin müsse sich dagegen als Verursachungsanteil zurechnen lassen, dass ihr Vater mindestens mit bewusster Fahrlässigkeit trotz einer Blutalkoholkonzentration von 2,56 g Promille am Straßenverkehr teilgenommen habe (§ 2 Abs. 2 Satz 1 StVG, § 69a Abs. 1 Nr. 1 StVZO, § 24 StVG). Ferner habe er vorsätzlich § 25 Abs. 1 Satz 1 und 2 StVO missachtet, weil er nicht den neben der Straße verlaufenden Gehweg benutzt habe. Schließlich habe er vorsätzlich gegen § 25 Abs. 1 Satz 3 StVO verstoßen, weil er sich nicht am äußersten rechten Fahrbahnrand, sondern ca. 1 m vom Fahrbahnrand entfernt aufgehalten habe. Die Abwägung dieser beiderseitigen Beiträge führe dazu, dass die Beklagten als Gesamtschuldner 2/5 des Schadens zu tragen hätten.

...

... ist die Abwägung der Verursachungsbeiträge des Beklagten zu 2 und des Vaters der Klägerin aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden.

Die Entscheidung über die Haftungsverteilung im Rahmen der § 254 BGB, § 9 StVG ist grundsätzlich Sache des Tatrichters. Sie ist im Revisionsverfahren nur darauf zu überprüfen, ob alle in Betracht kommenden Umstände vollständig und richtig berücksichtigt und ob der Abwägung rechtlich zulässige Erwägungen zugrunde gelegt worden sind (vgl. Senatsurteile vom 12. Juli 1988 - VI ZR 283/87, VersR 1988, 1238, 1239; vom 5. März 2002 - VI ZR 398/00, VersR 2002, 613, 615 f.; vom 25. März 2003 - VI ZR 161/02, VersR 2003, 783, 785 f.; vom 13. Dezember 2005 - VI ZR 68/04, VersR 2006, 369, 371 jeweils m.w.N.). Insoweit lässt das Berufungsurteil keinen durchgreiflichen Fehler erkennen.

aa) Zutreffend ist der Ausgangspunkt des Berufungsgerichts, dass der Beklagte zu 2 entgegen dem von ihm einzuhaltenden Sichtfahrgebot (§ 3 Abs. 1 Satz 4 StVO) nicht nur 70 km/h, sondern - wie von ihm selbst eingeräumt - 90 km/h gefahren ist und dadurch den Unfall schuldhaft verursacht hat. Hierbei ist - von der Revision nicht angegriffen - auch die Betriebsgefahr des PKW des Beklagten zu 2 zu berücksichtigen.

bb) Ohne Erfolg beanstandet die Revision, dass das Berufungsgericht auf Seiten des Beklagten zu 2 das Fehlen der erforderlichen Fahrerlaubnis nicht bei der Abwägung berücksichtigt hat.

In die Abwägung nach § 254 BGB, § 9 StGB sind alle, aber auch nur diejenigen unstreitigen oder erwiesenen Faktoren einzubeziehen, die eingetreten sind, zur Entstehung des Schadens beigetragen haben und einem der Beteiligten zuzurechnen sind (vgl. Senat, Urteile vom 15. November 1960 - VI ZR 30/60, VersR 1961, 249, 250; vom 23. November 1965 - VI ZR 158/64, VersR 1966, 164, 165; vom 24. Juni 1975 - VI ZR 159/74, VersR 1975, 1121, 1122; vom 7. Juni 1988 - VI ZR 203/87, VersR 1988, 842; vom 10. Januar 1995 - VI ZR 247/94, VersR 1995, 357 f.); einzelne Verursachungsbeiträge dürfen bei der Abwägung jedoch dann nicht summiert werden, wenn sie sich nur in demselben unfallursächlichen Umstand ausgewirkt haben (Senat, Urteil vom 1. Juni 1976 - VI ZR 162/74, VersR 1976, 987, 989 m.w.N.; vgl. auch Senat, BGHZ 54, 283, 284 f.). Nach diesen Grundsätzen wäre die Tatsache, dass der Beklagte zu 2 ohne Fahrerlaubnis gefahren ist, nur dann zu berücksichtigen gewesen, wenn feststünde, dass sich dieser Umstand in dem Unfall tatsächlich ausgewirkt hat. Das aber hat das Berufungsgericht auf der Grundlage der von ihm getroffenen Feststellungen ohne Rechtsfehler verneint.

Die Revision räumt zwar ein, dass eine lediglich abstrakte Gefahrerhöhung (wie etwa im Falle des Verbots des Führens eines Kfz wegen absoluter Fahruntüchtigkeit infolge Alkoholgenusses, vgl. dazu Senat, Urteil vom 10. Januar 1995 - VI ZR 247/94, a.a.O.) im Rahmen der Abwägung der beiderseitigen Verursachungs- und Verschuldensbeiträge nur von Bedeutung sein kann, wenn sie sich bei dem Unfall ausgewirkt hat. Sie meint aber, hier habe der Beklagte zu 2 auch das Gebot des Fahrens mit angepasster Geschwindigkeit verletzt und dies sei nur möglich gewesen, weil er entgegen § 21 StVG das Kfz ohne die erforderliche Fahrerlaubnis geführt habe. Dem ist nicht zu folgen.

Die Revision zieht nicht in Zweifel, dass für den Unfall die überhöhte Geschwindigkeit unfallursächlich war. Diese wurde zwar durch das Fahren ohne die erforderliche Fahrerlaubnis ermöglicht, doch vermag die Revision nicht darzutun, dass das Fahren ohne Fahrerlaubnis darüber hinaus ein zusätzliches Gefahrenmoment dargestellt hat, das sich bei dem Unfall ausgewirkt hat (vgl. Senat, Urteile vom 1. März 1966 - VI ZR 207/64, VersR 1966, 585, 586 und vom 10. Januar 1995 - VI ZR 247/94, a.a.O., 357).

Dass der Beklagte nach dem Entzug der Fahrerlaubnis wegen Trunkenheit das Fahrzeug gar nicht erst führen durfte, ist insoweit ohne Belang. Maßgebend ist vielmehr, ob sich eine Fahruntüchtigkeit als Gefahrenmoment in dem Unfall niedergeschlagen hat (Senat, Urteile vom 19. Januar 1962 - VI ZR 78/61, VersR 1962, 374, 375; vom 10. Januar 1995 - VI ZR 247/95, a.a.O. m.w.N.). In die Abwägung für die Haftungsverteilung nach § 9 StVG, § 254 BGB dürfen wie bei § 17 StVG nur diejenigen Tatbeiträge eingebracht werden, die sich tatsächlich auf die Schädigung ausgewirkt haben. Die für die Abwägung maßgebenden Umstände müssen nach Grund und Gewicht feststehen, d.h. unstreitig, zugestanden oder nach § 286 ZPO bewiesen sein. Nur vermutete Tatbeiträge oder die bloße Möglichkeit einer Schadensverursachung aufgrund geschaffener Gefährdungslage haben deswegen außer Betracht zu bleiben.

Für einen Beitrag des Fahrens ohne Fahrerlaubnis zu dem Unfallgeschehen spricht im hier zu entscheidenden Fall auch nicht ein Anscheinsbeweis. Zwar kann bei einem Fahrfehler des Schädigers zugunsten des Geschädigten grundsätzlich ein Anscheinsbeweis für den Ursachenbeitrag einer fehlenden Fahrerlaubnis sprechen (vgl. Senat, Urteile vom 24. Januar 1956 - VI ZR 123/55, a.a.O.; vom 19. Januar 1962 - VI ZR 78/61, VersR 1962, 374, 375; vom 7. Dezember 1962 - VI ZR 86/62, VersR 1963, 367 f.; vom 20. Dezember 1963 - VI ZR 270/62, VersR 1964, 486, 488; vom 20. Oktober 1964 - VI ZR 160/63, VersR 1965, 81, 82; vom 1. März 1966 - VI ZR 207/64, VersR 1966, 585, 586; vom 24. Februar 1976 - VI ZR 61/75, VersR 1976, 729, 730; vgl. noch BGH, BGHZ 18, 311, 318 f.; Urteile vom 30. Oktober 1985 - IVa ZR 10/84, VersR 1986, 141, 142 und vom 21. Januar 1987 - IVa ZR 129/85, VersR 1987, 1006, 1007). Davon kann im Streitfall nach den vom Berufungsgericht getroffenen Feststellungen jedoch nicht ausgegangen werden. Dem Beklagten war zwar wegen Trunkenheit im Straßenverkehr die Fahrerlaubnis entzogen, er ist aber im Zeitpunkt des Unfalls nüchtern gefahren und es sind darüber hinaus keine gefahrerhöhenden Umstände ersichtlich, die sich zusätzlich zu dem Verstoß gegen das Sichtfahrgebot unfallursächlich ausgewirkt haben könnten. Dafür, dass seine überhöhte Geschwindigkeit mit der fehlenden Fahrerlaubnis in Zusammenhang stünde, spricht kein Satz der Lebenserfahrung. Soweit die Revision meint, das Fahren ohne Fahrerlaubnis habe sich tatsächlich in der vom Beklagten gefahrenen, überhöhten Geschwindigkeit ausgewirkt, ist eine mehrfache Berücksichtigung dieses Umstands in der Abwägung nicht möglich (vgl. Senat, Urteil vom 1. Juni 1976 - VI ZR 162/74, a.a.O.).

b) Den hiernach zu berücksichtigenden Beiträgen des Beklagten zu 2 zu dem Unfallgeschehen (Verstoß gegen das Sichtfahrgebot; Betriebsgefahr) hat das Berufungsgericht die Beiträge des Vaters der Klägerin gegenübergestellt (§§ 254 Abs. 1 BGB, § 9 StVG, § 25 Abs. 1 StVO). Dieser hat sich unter Verstoß gegen §§ 2 Abs. 1 Satz 1, 69a Abs. 1 Nr. 1 StVZO a. F., § 24 StVG a.F. (nunmehr: §§ 2 Abs. 1 Satz 1, 75 Nr. 1 FeV) mit einer Blutalkoholkonzentration von 2,56 g Promille bei Nacht als Fußgänger auf der Fahrbahn - ca. 1 m vom (für den Beklagten zu 2) rechten Fahrbahnrand entfernt - anstatt auf dem neben der Straße verlaufenden Gehweg (§ 25 Abs. 1 StVO) aufgehalten.

c) Unter diesen Umständen ist es aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden, wenn das Berufungsgericht den Beklagten als Gesamtschuldnern einen Haftungsanteil von 2/5, dem Vater der Klägerin aber einen Anteil von 3/5 zugemessen hat. ..."



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