Das Verkehrslexikon

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BGH Urteil vom 02.03.1982 - VI ZR 230/80 - Zum Vertrauensschutz des Linksabbiegers auf Beachung des Rotlichts durch den Gegenverkehr

BGH v. 02.03.1982: Zum Vertrauensschutz des Linksabbiegers auf Beachung des Rotlichts durch den Gegenverkehr


Der BGH (Urteil vom 02.03.1982 - VI ZR 230/80) hat entschieden:
  1. Ein Linksabbieger darf in der Regel darauf vertrauen, dass ein im Gegenverkehr entgegenkommender, an sich vorfahrtberechtigter Verkehrsteilnehmer das Rotlicht einer dazwischenliegenden Fußgängerbedarfsampel nicht bewusst missachten wird.

  2. Ein Verkehrsteilnehmer darf in der Regel einen Mitverschuldenseinwand gegenüber einem auf sein verkehrsgerechtes Verhalten Vertrauenden nicht aus dem Vorwurf herleiten, diese habe mit seinem (des Einwendenden) grobem vorsätzlichem Verkehrsverstoß vorsorglich rechnen müssen.

Siehe auch Ampel und zivilrechtliche Haftung


Aus den Entscheidungsgründen:

"I. Das Berufungsgericht stellt fest, dass der Erstbekl. (im folgenden: Bekl.) beim Umschalten der Ampel auf "Rot" noch mindestens 10 m vom Überweg entfernt war und in Anbetracht der vorhergehenden Gelbphase von drei Sekunden unschwer rechtzeitig hätte anhalten können. Es misst jedoch den Lichtzeichen dieser nur für Fußgänger bestimmten Ampelanlage keine Schutzwirkung zugunsten des Fahrverkehrs und damit auch nicht zugunsten des nach links abbiegenden R. bei. Demgemäß lastet es R., da der Gegenverkehr ihm gegenüber vorfahrtberechtigt war (§ 9 Abs. 3 StVO), eine Vorfahrtverletzung an. Es hält indessen sein Verschulden für erheblich geringer als dasjenige des Bekl., der trotz "Rot" weitergefahren war. Bei der nach § 17 StVG gebotenen Abwägung der beiderseitigen Verursachungsanteile gelangt das Berufungsgericht zu einer mit dem LG übereinstimmenden Beurteilung und bewertet den Verursachungsanteil des R. ebenfalls mit einem Drittel.

II. Die Anschlussrevision der Bekl. war zurückzuweisen. Die Revision der Kl. führte zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur uneingeschränkten Verurteilung der Beklagten.

1. a) Trotz teilweise missverständlicher Begründung geht das Berufungsgericht zutreffend davon aus, dass der Bekl. den Unfall zurechenbar und schuldhaft verursacht hat. Er hat, indem er das Rotlicht der Überwegsampel offensichtlich bewusst missachtet hat, einen groben vorsätzlichen Verkehrsverstoß begangen. Dieser Verstoß ist deshalb, weil der Sohn der Kl. nicht mit ihm gerechnet, vielmehr seine Fahrweise auf ein verkehrsgerechtes Verhalten des Bekl. eingestellt hat, für den streitgegenständlichen unfallursächlich geworden. Dabei kommt es nicht darauf an, ob die Überwegsampel primär dem Schutz von entgegenkommenden Linksabbiegern dienen sollte. Sie sollte es nicht, wie das Berufungsgericht zutreffend ausführt, aber das wäre nur wesentlich, wenn es um eine Schutzgesetzverletzung nach § 823 Abs. 2 BGB i. Vbdg. m. § 37 StVO ginge. Dieser Begründung bedarf der Klaganspruch aber nicht.

Eine flüssige Abwicklung des Straßenverkehrs ist nur möglich, wenn ein Verkehrsteilnehmer wenigstens ohne besonderen Anlass zu Misstrauen davon ausgehen kann, dass sich andere verkehrsgerecht verhalten werden. So durfte der Sohn der Kl. damit rechnen, dass der Bekl. das für ihn deutlich und rechtzeitig erkennbare Haltegebot respektiere. Er durfte diese Erwartung zur Grundlage seines Entschlusses zum Linksabbiegen machen, weil er mit einem befugtermaßen entgegenkommenden Vorfahrtberechtigten nicht zu rechnen brauchte. Dessen musste sich auch der Bekl. selbst dann bewusst sein, wenn er wusste, dass die beiden Fußgänger sich durch Zurückweichen auf sein rücksichtsloses Verhalten einstellen und damit nicht gefährdet werden würden. An einem Rechtswidrigkeitszusammenhang zwischen dem Verkehrsverstoß des Bekl. und dem Unfall kann daher kein Zweifel bestehen. Auch das Berufungsgericht hat einen solchen Zweifel offenbar nicht; denn es will dem Bekl. immerhin die überwiegende Verantwortung anlasten.

b) Nicht ohne weiteres verständlich ist indessen, worin das Berufungsgericht die Mitverantwortung des Sohnes der Kl., dem es ein allerdings gemildertes Verschulden anlasten will, sieht. Es ist zwar richtig, dass der Bekl. nach seinem rechtswidrigen Durchbrechen der Ampelschranke gegenüber dem Linksabbieger wiederum formal die Vorfahrt hatte. Das aber gibt für ein Schuldurteil gegenüber dem Sohn der Kl. für sich allein nichts her. Die Vorfahrt im Straßenverkehr ist kein absolutes Recht, dessen Verletzung etwa schon Verschulden indizierte, sondern Bestandteil eines Systems von verkehrsrechtlichen Verhaltensregeln. Für einen Kraftfahrer, der damit rechnen darf, dass ein anderer nicht unerlaubtermaßen eine Vorfahrtlage herbeiführen werde, kann ein trotzdem eintretender Unfall sogar ein unabwendbares Ereignis sein (§ 7 Abs. 2 StVG). Soweit das Berufungsgericht daher der Kl. eine Mitverantwortung an lastet, hätte es darlegen müssen, dass der Sohn der Kl. das verkehrswidrige Verhalten des Bekl. schuldhaft nicht schon in einem Zeitpunkt bemerkt hat, in dem der Unfall noch zu vermeiden gewesen wäre, oder doch als besonders sorgfältiger Kraftfahrer i. S. des § 7 Abs. 2 S. 2 StVG Anlass gehabt hätte, damit zu rechnen. Solche Feststellungen lässt das Berufungsurteil, das sich offenbar mit dem rechtlich bedenklichen Begriff einer "objektiven Vorfahrtverletzung" begnügen will, durchweg vermissen. Seine Entscheidung hat daher keinen Bestand.

2. Obwohl demnach das Berufungsgericht tatrichterliche Feststellungen versäumt hat, die aus seiner Sicht wesentlich gewesen wären, vermag der Senat alsbald eine ersetzende Entscheidung in dem Sinn zu treffen, dass die Klage voll begründet ist, also die Berufung Erfolg hat und die Anschlussberufung der Bekl. erfolglos bleibt.

a) Dass der Sohn der Kl. mit dem Verkehrsverstoß des Bekl. nicht gerechnet hat, entspricht auch den Feststellungen des Berufungsgerichts. Dass er - von diesem Verkehrsverstoß überrascht - noch Gelegenheit gehabt hätte, die Kollision gleichwohl zu vermeiden, ist nicht behauptet. Es kommt also nur darauf an, ob er aus besonderem Anlass mit dem disziplinlosen Verhalten des Bekl. hätte rechnen müssen oder doch als besonders sorgfältiger Kraftfahrer gerechnet haben würde. Würde dies zutreffen, dann könnte seine Mitverantwortung wenigstens zu einem ggf. geringen Teil nicht geleugnet werden. Zum Beispiel hätte sich wohl der an dem Zusammenstoß beteiligte Dritte, der aber aus besonderen Gründen keine Ansprüche erhoben zu haben scheint, darauf berufen können, so dass entsprechende Feststellungen unerlässlich gewesen wären.

b) Hier aber ist es der Bekl. selbst, der mit seiner Einlassung im Rechtsstreit dem Sohn der Kl. praktisch vorwerfen will, dieser habe mit seiner (des Bekl.) groben Verkehrswidrigkeit vorsorglich rechnen müssen. Das ist zwar insofern richtig, als es nach der Rechtsprechung des erk. Senats bei der Abwägung nach § 254 BGB (bzw. § 17 StVG) entscheidend auf das objektive Verursachungsgewicht des jeweils zu verantwortenden Tatbeitrags ankommt. Indessen darf diese grundsätzlich objektive Gewichtung nicht außer acht lassen, dass § 254 BGB im Grunde nur eine Ausformung des Gedankens des § 242 BGB darstellt. So muss es demjenigen, der vorsätzlich einen groben Verkehrsverstoß begangen hat, als unzulässiger Selbstwiderspruch untersagt sein, Ansprüche oder Einwendungen daraus herzuleiten, dass ein anderer mit seinem ungehörigen Verhalten nicht gerechnet habe. Jedenfalls zugunsten der Bekl. sind Umstände, die eine Ausnahme von diesem Grundsatz rechtfertigen könnten, nicht ersichtlich. Damit kann es für die anstehende Entscheidung offenbleiben, ob der Sohn der Kl. bei besonderer Sorgfalt Anlass gehabt hätte, die Verkehrswidrigkeit des Bekl. vorauszusehen. Dieser selbst dürfte sich jedenfalls nicht darauf berufen, so dass die Klage in jedem Fall vollen Erfolg haben muss."



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