Das Verkehrslexikon

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OLG Schleswig Urteil vom 21.06.1973 - 7 U 203/72 - Zum Kolonnen-Überholverbot bei unklarer Verkehrslage

OLG Schleswig v. 21.06.1973: Zum Kolonnen-Überholverbot bei unklarer Verkehrslage


Das OLG Schleswig (Urteil vom 21.06.1973 - 7 U 203/72) hat entschieden:
  1. Wer links an einer Fahrzeugkolonne vorbeifährt, die nach Verlassen einer Ortschaft ihre Geschwindigkeit verringert und auf ein langsam fahrendes Spitzenfahrzeug aufschließt, verstößt gegen das bei "unklarer Verkehrslage" geltende Überholverbot.

  2. Zur Abwägung der Haftungsanteile bei Kollision eines überholenden Fahrzeugs mit dem nach links abbiegenden ersten Fahrzeug einer Wagenkolonne

Siehe auch Unfälle zwischen Überholer und vorausfahrendem Linksabbieger


Zum Sachverhalt:

Am 23.8.1971, gegen 16 Uhr, befuhr der Kl. mit seinem O. -PKW, an dem ein einachsiger Hänger befestigt war, die Bundesstraßenortsdurchfahrt von W. Er beabsichtigte, etwa 35 m nach dem Ortsausgang nach links in einen Gemeindeweg einzubiegen. Hinter dem Fahrzeug des Kl. fuhren zunächst zwei weitere Fahrzeuge. Als drittes Fahrzeug folgte der Kolonne der Bekl. mit seinem M. - PKW. Als der Bekl. die vor ihm fahrenden Fahrzeuge überholte, kam es zum Zusammenstoß mit dem nach links abbiegenden PKW des Kl. Die Haftpflichtversicherung des Bekl. zahlte an den Kl. 486,08 DM. Mit der Klage machte der Kl. weitere 1758,45 DM geltend. Er trug hierzu vor: Noch innerhalb der Ortschaft W. habe er das linke Blinklicht betätigt; gleichzeitig habe er sich zur Fahrbahnmitte hin eingeordnet und seine Geschwindigkeit durch Bremsen verringert. Er habe sich außerdem durch einen Blick in den Rückspiegel über die rückwärtige Verkehrslage unterrichtet. Dabei habe er festgestellt, dass ihm eine Reihe von Fahrzeugen in angemessenen Abständen gefolgt sei und dass die Fahrzeuge ihre Fahrweise seiner geringer werdenden Geschwindigkeit angepasst hätten. Unmittelbar beim Einbiegen habe er sich über die rückwärtige Verkehrslage unterrichtet, dabei aber kein weiteres Kfz bemerkt. Der Bekl. müsse mit überhöhter Geschwindigkeit gefahren sein. Er - der Kl. - habe den Verkehrsunfall nicht vermeiden können...

Der Bekl. wandte u. a. ein: Nach Durchfahren der Ortschaft W. habe er zum Überholen der vor ihm mit einer Geschwindigkeit von etwa 30 bis 40 km/st fahrenden Kraftfahrzeuge angesetzt. Als er sich in Höhe des zweiten vor ihm fahrenden PKW auf der linken Fahrbahnhälfte befunden habe, sei der Kl. plötzlich mit seinem Fahrzeug unter gleichzeitigem Einschalten des linken Blinklichts nach links abgebogen, so dass ein Zusammenstoß nicht mehr vermeidbar gewesen sei. Er, der Bekl., habe aus der Fahrweise der vor ihm fahrenden Fahrzeuge entnehmen müssen, dass der Kl. die Absicht gehabt hätte, in die gegenüber dem Feldweg nach rechts einmündende G. -Straße einzubiegen...

Das LG hat der Klage zum überwiegenden Teil stattgegeben. Es ist davon ausgegangen, dass der Bekl. dem Kl. 3/4 des diesem entstandenen Schadens erstatten müsse.


Aus den Entscheidungsgründen:

"... Das dem Bekl. vorzuwerfende Fehlverhalten liegt bereits darin, dass er bei der damaligen Verkehrssituation zum Überholen ansetzte. Die Verkehrslage vor dem Bekl. war unklar. Bei einer unklaren Verkehrslage durfte der Bekl. nicht überholen. Das ergibt sich aus § 5 Abs. 3 Ziff. 1 StVO. Diese Bestimmung will insbesondere vorausfahrende Fahrzeuge vor Überholern schützen (vgl. Jagusch, Straßenverkehrsrecht 20. Aufl. RN 34 zu § 5). Es handelt sich also um ein Schutzgesetz i. S. von § 823 Abs. 2 BGB. Unklar ist eine Verkehrslage für den nachfolgenden Fahrer, wenn das Fahrverhalten eines vorausfahrenden Verkehrsteilnehmers, das für die Durchführung des Überholvorganges von Bedeutung sein kann, Zweifel nahelegt (vgl. Boß, Straßenverkehrsordnung, Komm. 1971, S. 75).

Demgegenüber steht nicht fest, dass den Kl. ein ursächliches Mitverschulden am Zustandekommen des Unfalls trifft. Als Linksabbieger hatte der Kl. die Pflicht, vor dem Einordnen Rückschau nach hinten zu halten. Dann musste er sich an die gestrichelte Mittellinie heran bis zur Fahrbahnmitte hin einordnen und links Blinkzeichen geben. Vor dem Abbiegen musste er nochmals Rückschau nach hinten halten und sich überzeugen, dass er gefahrlos abbiegen konnte.

Es steht nicht fest, dass der Kl. die ersten drei Pflichten (Rückschau, Einordnen, Blinken) verletzt hat. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme steht sogar fest, dass sich der Kl. eingeordnet und links geblinkt hat. Einen Verstoß gegen die erste Rückschaupflicht (vor dem Einordnen) wirft ihm auch der Bekl. nicht vor...

Allerdings hat der Kl. seine zweite Rückschaupflicht kurz vor den Abbiegen verletzt. Das ist eine schuldhafte Verletzung der dem Linksabbieger obliegenden Sorgfaltspflicht. Es steht jedoch nicht fest, dass sich dieses Fehlverhalten ursächlich auf das Zustandekommen des Unfalls ausgewirkt hat.

Es ist nicht geklärt, wo sich der Bekl. befand, als der Kl. noch einmal hätte zurückschauen müssen. Es kann sehr wohl sein, dass der Kl. ihn beim Beginn des Abbiegemanövers noch nicht hätte bemerken können. Geht man zugunsten des Kl. davon aus, dass die Kolonne wegen der verlangsamten Fahrgeschwindigkeit bereits zusammengerückt war, so lässt sich nicht ausschließen, dass der Bekl. nur etwa 40 bis 50m hinter dem Kl. fuhr, als dieser abbog. Bei einer Geschwindigkeit von 50 bis 60 km/St. brauchte der Bekl. für diese Strecke etwa 3 bis 3 Sekunden. Diese Zeitspanne kann das "Abbiegen" des Kl. bei sehr langsamer Fahrt gedauert haben. Dann aber ist nicht auszuschließen, dass der Bekl. noch nicht mit dem Ausscheren begonnen hatte, als der Kl. begann, nach links abzubiegen.

Wenn sich somit auch kein Mitverschulden des Kl. feststellen lässt, so bleibt eine Mithaftung aufgrund der Bestimmungen des StVG doch bestehen (§ 7 Abs. 1). Der Kl. hat den Entlastungsbeweis (§ 7 Abs. 2 StVG) nicht geführt. Das wäre nur dann der Fall, wenn der Unfall durch ein unabwendbares Ereignis verursacht worden wäre. Als unabwendbar gilt ein Ereignis insbesondere dann, wenn der Fahrer des Fahrzeugs jede nach den Umständen des Falles gebotene Sorgfalt beachtet hat. Das Vorliegen dieser Voraussetzungen müsste der Kl. beweisen. Das ist ihm nicht gelungen. Es lässt sich nicht ausschließen, dass er bei sorgfältiger Beobachtung des von hinten kommenden Verkehrs den Überholvorgang des Bekl. rechtzeitig hätte erkennen und ein Abbiegen unterlassen können.

Bei der somit vorzunehmenden Schadenabwicklung nach § 17 StVG ist darauf abzustellen, inwieweit der Unfall erweisbar oder unstreitig vorwiegend von dem einen oder anderen Verkehrsteilnehmer verursacht worden ist. Im Rahmen dieser Abwägung gilt folgendes: Die objektive Betriebsgefahr beider PKW war fühlbar erhöht; beim Fahrzeug des Kl., weil er nach links abbog; beim Wagen des Bekl., weil er (links) überholte. Auf seiten des Bekl. kommt noch ein erhebliches Verschulden hinzu. Unter Berücksichtigung dieser feststehenden Unfallursachen kommt nur eine Schadenverteilung in Frage, die deutlich zu Lasten des Bekl. geht. Es ist daher angemessen, wie es auch das LG getan hat, den Kl. nur 1/4 seines Schadens tragen zu lassen."



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